LOTHAR KREISER, Leipzig
Wilhelm WUNDTs System der Logik

Im Titel des Vortrages wird von einem "System der Logik" gesprochen. Diese Bezeichnung seines dreibändigen Werkes über die Logik nahm WUNDT nicht in Anspruch. In einer Stellungnahme zu literarischen Äußerungen über sein Werk möchte er den vollen Titel seines Buches beachtet wissen: "Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung" - um Untersuchungen gehe es ihm, nicht um die Schaffung eines Systems wissenschaftlicher Anschauungen über einen gewissen Gegenstandsbereich, oder gar deren lehrbuchhafte Darstellung.1)   In der Meinung, es handle sich um Untersuchungen, ist die Voraussetzung enthalten, die Behandlung des Themas sei im Prinzip so, wie begonnen, auch fortsetzbar, weil durch sie der im Thema benannte Gegenstand grundsätzlich adäquat und somit als bleibender Bestand wissenschaftlicher Erkenntnis erfaßt sei. Tatsächlich aber hat WUNDT nicht für den Gegenstand, die formale Logik, genauer: das Logische, sondern für eine gewisse Auffassungsweise dieses Gegenstandes eine adäquate Darstellung gefunden, und sie so mustergültig durchgeführt, daß ihr Resultat durchaus als ein System der Logik, umfassend die Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, bezeichnet werden kann. Zugleich ist sein System der Logik der letzte große Entwurf, der auf dem Boden jener Auffassungsweise von Logik erwuchs.

Wenn wir der Frage nachgehen, von welcher Art diese Logikauffassung ist, gehen wir zugleich der Frage einer historischen Einordnung von WUNDT in die Geschichte der Logik nach. Einen Beitrag zur Beantwortung dieser in sich doppelseitigen Frage zu liefern, ist das Anliegen meines Vortrages.

Besonderheiten einer Sache werden am augenfälligsten durch den Vergleich mit einer anderen, vorausgesetzt man weiß, dass es sich um zwei verschiedene Sachen handelt. Der allgemeinen Ansicht zufolge, der wir uns anschließen, ist die Auffassung von formaler Logik bei ARISTOTELES verschieden von derjenigen, die auch WUNDT vertritt. Die eine nennt man - naturgemäß - die Aristotelische, die andere - im allgemeinen - die traditionelle Auffassung von formaler Logik. W. WUNDT ist dieser Ausdrucksweise zufolge traditioneller Logiker. Die Aristotelische Logik geht zeitlich der traditionellen Logik voraus. Demzufolge legen wir den Vergleichsmaßstab historisch und sachlich gerecht an, wenn wir ARISTOTELES und WUNDT vergleichen als jeweilige Repräsentanten einer bestimmten Auffassungsweise. Verglichen werden soll die Meinung darüber, aus welchen Gründen etwas als ein Logisches anzusehen sei. Freilich, die "Metrik" dieses Vergleiches ist nicht ganz frei von den heutigen Auffassungen dazu. Es dürfte deshalb an dieser Stelle angebracht sein, kurz den Blickwinkel zu umreißen, unter welchem der Vergleich in diesem Vortrag von mir gesehen wird.

Die traditionelle Logik wurde, in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts beginnend, abgelöst durch eine Auffassung des Logischen, die ihren ersten prägnanten Ausdruck in der Theorie zweiwertiger extensionaler Operationen mit Prädikaten beliebiger Stellen- und Stufenzahl von Variablen gewisser syntaktischer Kategorien erfuhr. Die Prädikate werden verstanden als Aussagen, wenn die Stellen- und Stufenzahl gleich Null ist, als Begriffe (Attribute), wenn die Stellenzahl gleich Eins ist und als Relationen in allen anderen Fällen. Diese logische Theorie erwuchs aus dem Bedürfnis nach einer logischen Grundlegung der auf Arithmetik aufbauenden Teile der Mathematik. Wenn nachfolgend von den Termini "Sinn" und "Gedanke" Gebrauch gemacht wird, so sind sie in der durch G. FREGE gewiesenen Richtung zu verstehen, in die auch B. BOLZANO mit seiner Version von den Vorstellungen und den Sätzen an sich gewiesen hat.

Zunächst soll gesagt werden, was unter einer empirischen logischen Theorie zu verstehen ist. Wenn die Sätze einer Theorie T ihrem Sinn nach verstehbar sind als Aussagen über eine Menge mitteilbarer Gedanken mit ebenso wohlbestimmten Eigenschaften wie Operationen über diese Eigenschaften derart, daß alle Theoreme von T wahre Aussagen über ausgezeichnete wohlbestimmte Eigenschaften der mitteilbaren Gedanken sind, heißt diese Theorie T eine empirische logische Theorie. 2) An dieser Festlegung ist allein nur wesentlich, daß Logisches etwas ist, was mit (irgendwie mitteilbaren) Gedanken verbunden ist. Das schließt nicht aus, daß eine als sprachliches Ausdrucksmittel in T entwickelte Kalkülsprache noch andere Bereiche als das Gedankliche als Modell zuläßt, denn diese Sprache ist ja nicht das Logische selbst, sondern deren syntaktisches Abbild. Das Vorhandensein eines logischen und eines außerlogischen Modells einer Kalkülsprache besagt dann (in kybernetischer Sprechweise), daß gleiche Steuerungs- und Regelungsgesetze in ansonsten ihrer Natur nach verschiedenen Bereichen vorliegen. Wer mit dem Gedanklichen den Widerspiegelungsaspekt verbindet, wird davon nicht überrascht sein.

Verschiedenster Fragestellungen gemäß macht man die empirischen logischen Theorien selbst wieder zum Gegenstand einer Untersuchung und spricht dann von metalogischen Untersuchungen. Es ist schwierig, hier noch eine andere Eigenschaft von Fragestellungen anzugeben, durch welche sie sich als metalogische ausweisen. Mit dieser Unbestimmtheit belastet, spreche ich davon, daß metalogische Untersuchungen zu rein logischen Aussagen oder rein logischen Theorien führen. Diese und die empirischen logischen Theorien machen zusammen aus, was mit "formaler Logik" bezeichnet wird.

Was nun ist das Logische bei ARISTOTELES? In seinen, unter dem Namen "Organon" zusammengefaßten Schriften gibt er eine Antwort auf diese Frage. Logisches stellt sich dar in Begriffsbeziehungen, und es ist in einer nur wahre oder falsche Aussagen umfassenden Rede enthalten, wenn diese unter einen gültigen Syllogismus oder eine  Folge gültiger Syllogismen fällt. Die Gültigkeit von Syllogismen beruht auf der Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch, des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten und dem Identitätssatz. Die Gültigkeit wiederum dieser Sätze oder Prinzipien, welche die Aristotelische Logik, die Syllogistik, voraussetzt, wird nach ARISTOTELES durch die Ontologie, die philosophische Lehre von dem Seienden, insofern es ist, gerechtfertigt. Das Logische ist also nur Anderssein von Strukturbeziehungen zwischen Klassen von an sich Seiendem, auf welche sich die Begriffe als ihrem jeweils Allgemeinen beziehen. Die Aristotelische Logik als Wissenschaft kann man enger oder breiter fassen, je nachdem, ob man die mit einer Anwendung der Syllogistik verbundenen Verfahren einer Begriffsbestimmung (Definitionslehre), die Methoden eines Beweises und die Kategorienlehre mit zur formalen Logik rechnet oder nicht. Die Aristotelische Logik wollen wir hier in diesem breiteren Sinne verstehen.

Die Syllogistik von ARISTOTELES ist auch Bestandteil jener Auffassung des Logischen, die WUNDT vertritt, oder vorsichtiger formuliert, sie wird von WUNDT als Bestandteil dieser seiner Auffassung angesehen. Aber erstens kommt sie auf nur sehr wenigen Seiten seines Gesamtwerkes über Logik zur Sprache und zweitens ist ihrer Behandlung eine Warnung vorangestellt, die eine Umdeutung dessen, was Logisches sei, erkennen läßt. In Polemik nämlich gegen jene Meinung, derzufolge die Syllogistik das ausgezeichnete Kernstück der formalen Logik sei, meint WUNDT, das habe einen "guten Sinn auf dem Boden der Aristotelischen Metaphysik" gehabt.3) Die ontologische Fundierung des Logischen lehnt WUNDT ab, und zwar aus bekannten philosophischen Gründen.

W. WUNDT anerkennt alle und nur die Syllogismen als gültig, die auch ARISTOTELES als gültig anerkennt. Da es gerade die Rechtfertigung der Gültigkeit ist, die bei ARISTOTELES in dessen Metaphysik führt, muß WUNDT mit der Verwerfung der Ontologie einen neuen Gültigkeitsbegriff einführen. Das geschieht, indem er an die Stelle der ontologisch gerechtfertigten Prinzipien die Allgemeingültigkeit und die Evidenz rückt, durch deren gemeinschaftliches Vorhandensein psychologische Gesetze den Status logischer, weil normativer Gesetze erhalten.

Die Gründe für die Gültigkeit psychologischer Gesetze als logischer liegen im Wesen dieser Gesetze selbst. Das Psychische enthält das Logische als Art Naturgesetzlichkeit begrifflichen Denkens. Logik ist nicht mehr - wie für ARISTOTELES -Wissenschaft von gewissen Strukturzusammenhängen, die man zwar an der Rede entdecken kann, weil sie für das menschliche Denken durch die Rede realisiert werden, im Grunde aber ohne sie existieren. Das Denken, hier nur Mittel der Transformation des Logischen aus der einen Daseinsform in eine andere, wird nun zum Schöpfer des Logischen. Logik wird so Wissenschaft vom Denken, und das jeweils hinzugefügte Adjektiv (wie z. B.: normativ, richtig, vernünftig, wahrheitsfindend) deutet an, worin der Geltungsgrund für das Logische in seinem wechselnden Schwerpunkt innerhalb dieser allgemeinen Auffassung gesehen wird. Denn die Meinung, Logik sei eine Denklehre, ist das charakteristische Merkmal der traditionellen Logik. Die sogenannte "Logik von Port Royal" hat im Anschluß an DESCARTES 1685 diese Auffassung zum ersten Male am deutlichsten und am nachhaltigsten mit der Formulierung zum Ausdruck gebracht: "Die Logik ist die Kunst, seine Vernunft in der Erkenntnis der Dinge gut zu leiten, sowohl um sich selbst zu unterrichten als auch um darüber die anderen zu belehren. Diese Kunst besteht in den Überlegungen, die die Menschen über die vier Haupttätigkeiten ihres Geistes, das Vorstellen, das Urteilen, das Schließen und das Anordnen angestellt haben." 4) Logisches als ein Gesetzmäßiges allein über Eigenschaften und Beziehungen von Denkfähigkeiten, Geistestätigkeiten, Denkfunktionen, oder wie auch immer bezeichnet, zu betrachten, statt bezogen auf Gedankliches unabhängig vom hervorbringenden Denken, brachte die Wissenschaft Logik von dem durch ARISTOTELES aufgezeigten richtigen Weg wieder ab. Ihre Entwicklung stagnierte insofern, als man in der bewußten Reflexion nicht über die Aristotelische Syllogistik hinaus kam. Das veranlaßte KANT zu seinem bekannten Urteil, die formale Logik sei offenbar eine abgeschlossene Wissenschaft .

Mit der Fehlbeurteilung des Logischen ist auch eine Vereinseitigung der Aufgaben der Logik verbunden. Logische Gesetze sind der traditionellen Logik gemäß Gesetze des normalen, des vernünftigen Denkens. Abwandlung des Logischen, wie auch immer beschaffen,  ist  somit  Abwandlung  des  normalen Denkens,  Da  sich das normale Denken schon an die Gesetze der formalen Logik hält, wird Logik nicht für dieses, sondern für das nicht normale, aber so beschaffen sein könnende Denken wichtig, als eine medicina mentis - so etwas beurteilt durch keinen geringeren traditionellen Logiker wie TSCHIRNHAUS.

Mit der Fehlbeurteilung des Logischen ist schließlich auch eine Erweiterung des Bereiches der Wissenschaft Logik nach der falschen Seite verbunden. Zur Erklärung dessen, was Denken sei, wird ganz selbstverständlich Psychologie (historisch zunächst als rationale Psychologie), Erkenntnistheorie, Methodologie, Rhetorik und Sprachwissenschaft herangezogen. Vom eigentlichen Gegenstand, dem Logischen, blieb dabei oft nur sehr wenig übrig. Es fehlte nicht an Stimmen, welche die Logik für nutzlos erklärten. Daß sie in jener Zeit dennoch nicht aus dem System der Wissenschaften verschwand, wenn auch sukzessive aus den Lehrplänen der Universitäten, hängt nur vordergründig mit der günstigen Beurteilung zusammen, die sie durch große Persönlichkeiten erfuhr. Es ist in diesem Stadium der Entwicklung der Wissenschaften der enge Zusammenhang des Logischen insbesondere mit der mathematischen Methode, der sich immer wieder durchsetzte. Und Mathematiker waren es vor allem, die der Fehldeutung des Logischen in der traditionellen Logik Widerstand entgegensetzten. Dort, wo der Empirismus in Gestalt des Positivismus seine radikalste Ausprägung beginnt zu erfahren, in England, tritt auch die erste gezielte Gegenreaktion in Gestalt der Algebra der Logik auf.

Um das historische Gesamtbild zu wahren, sei noch angemerkt, daß auch in der Blütezeit der traditionellen Logik (1685 -1843) nicht alle Logiker traditionelle Logiker waren. Gerade die nichttraditionellen Logiker waren es auch, welche echte Ansätze zur Weiterentwicklung der Einsicht in das Logische fanden und ihnen nachgingen, wie z. B. LEIBNIZ und BOLZANO.

Nach 1850 ändert sich mit der einsetzenden intensiveren und in ihrer Bandbreite sich auch zunehmend auffächernden Wissenschaftsentwicklung das theoretische Umfeld der Logik. Der Anspruch der traditionellen Logik, die Erfassung des (in ihrer Sprechweise) begrifflichen Denkens in der Gesamtheit seiner konstituierenden Elemente, deren wechselseitigen Verflechtungen und sprachgebundenen Erscheinungsformen war bereits durch KANTs Aufspaltung der Logik in die außerphilosophische formale Logik und die philosophische transzendentale Logik zu einer nur in letzterer, dort freilich in modifizierter Weise lösbarer Aufgabe erklärt worden. Die formal-logische Fragestellung mußte neu durchdacht werden, und TRENDELENBURG ist es, der sie als erster in nachhaltiger Weise aufwirft.
Die Möglichkeiten der traditionellen- Logik waren noch nicht voll ausgeschöpft. Erscheint nämlich das Logische in dem Bemühen um eine Rechtfertigung der Geltung sprachlich präsenter Denkresultate mittels anderer, dann muß man zwar die jene Resultate hervorbringenden Denkprozesse nicht ausklammern, aber man ordnet sie logischen Gesichtspunkten unter, indem an ihnen einzig und allein die Hervorbringung von Begriffen und die Herstellung von Beziehungen zwischen ihnen (Urteilen, Schließen) interessiert. Das Logische als Gegenstand tritt nun wieder stärker in den Vordergrund. Selbst den Totalitätsanspruch bezüglich der Erklärung des begrifflichen Denkens brauchte die traditionelle Logik nicht aufzugeben, sofern sie etwa das begriffliche Denken verstand als die Entfaltung des Logischen bei der Erfassung der dem Denken gegebenen Inhalte. Genau diese programmatische Fassung der traditionellen Logik finden wir bei WUNDT, 5) und durch sie ist die spezifische Stellung WUNDTs in der Geschichte der Logik bestimmt. Die Methodenlehre ist für ihn die Entfaltung des Logischen, somit dessen Vollendung. Was ein Fehler war, die Erweiterung der Logik über ihren Zuständigkeitsbereich hinaus, kehrt nun seine positive Seite hervor: Die Methoden werden ganz selbstverständlich in ihren konkreten Formen in allen gegebenen Wissenschaften unter besserer Wahrung des Logischen untersucht.

Daß die traditionelle Logik zugleich auch eine philosophische Disziplin sei, daran zweifelt WUNDT nicht. Nicht so sehr die Breite des Forschungsfeldes, als vielmehr die erkenntnis-theoretische Fundierung des Logischen, die aus dem psychologischen "Unterbau" des Logischen, somit der Psychologie, nicht gewonnen werden kann, ist es, die seiner Ansicht nach notwendig die Einordnung der Logik in die Philosophie bedinge.6)

Der Wundtschen Fassung von traditioneller Logik kam entgegen, daß oft die Ausweitung der Logik dem Versuch entsprang, die Aristotelische Syllogistik bei der Lösung neuer oder neu gestellter Erkenntnisprobleme nutzbar zu machen. Nicht selten zeigten sich dabei Grenzen der Anwendbarkeit und in diesem Zusammenhang diskutierten traditionelle Logiker Fragestellungen, die heute noch von logischem Interesse sind. Die besten traditionellen Logiker, wie z. B. J. St. MILL, Chr. SIGWART, W. WUNDT, haben durch ihr Bemühen, die Einsicht in das Logische zu vertiefen, dazu beigetragen, daß die traditionelle Logik ihren mitgeführten Anspruch, Logik zu sein, nicht verlor. Sie haben wertvolle Beiträge zu ihrer Entwicklung geleistet.

So hat beispielsweise WUNDT versucht, bemerkte Mängel von auf Begriffsbeziehungen begründeter Schlußformen bezüglich gewisser Vorgehensweisen in der wissenschaftlichen Praxis zu beheben. Dabei hat er Ergebnisse erzielt, die sich nicht mehr im Rahmen einer zweiwertigen Theorie des logischen Schließens erfassen lassen. Seinen eigenen begriffslogischen Festlegungen zufolge, die auf eine intuitionistische und intensionale Begriffstheorie hinauslaufen, sind nun allerdings - entgegen der eigenen Meinung - nicht mehr alle Schlußformen gültig, die eine Entsprechung in der Aristotelischen Syllogistik haben und dort gültige Syllogismen sind. Von seinen logischen Voraussetzungen ausgehend, kann WUNDT die Syllogistik nicht vollständig rekonstruieren. 7) Er hat - konsequent zu Ende gedacht - einen anderen, aber dennoch ebenso berechtigten Begriff des Logischen, als ARISTOTELES. Es gibt also verschiedene, aber untereinander gleichberechtigte Gestalten des Logischen. Bis zu dieser Vermutung gelangte die traditionelle Logik.

Wenn wir nun auch begründet sagen können, daß das System der Logik von WUNDT das Spätwerk einer abgeschlossenen Entwicklungsphase dieser Wissenschaft ist, und wenn wir sagen können, daß es das letzte große System ist, in welchem die Intentionen dieser Entwicklungsphase mustergültig zum Ausdruck kommen, denn kein logisches Werk nach 1890, daß sich der traditionellen Logik verpflichtet fühlt, erreicht weder diese Breite der behandelten Themen noch die systematische Geschlossenheit ihrer Darstellung, wenn wir alles das auch sagen können, so müssen wir aber auch sagen, daß das Werk von W. WUNDT für uns heute mehr als nur historisches Interesse besitzt. Es kann uns, die wir auf dem Boden einer neuen Entwicklungsphase der Wissenschaft Logik stehen, schon deshalb nicht gleichgültig sein, weil sich deren tragenden Ideen auch gegen dieses Werk haben durchsetzen müssen, also sie sich auch in der Auseinandersetzung mit ihm im Bewußtsein der Zeitgenossen profilierten. Was davon objektive Bedeutung besitzt, dessen werden wir uns immer wieder zu besinnen haben, wenn wir den neuen Intentionen gemäß einen Schritt weiter nach vorn in der Erkenntnis machen wollen.

Anmerkungen
1) Vgl. W. WUNDT, Logische Streitfragen, in: Vierteljahresschrift für wiss. Philosophie, hrsg. v. R. AVENARIUS, IV, 1882
2) Das Fehlen der empirischen Basis der Logik ist der Mangel der ansonsten beizupflichtenden Unterscheidung zwischen Logik und Denkpsychologie, wie sie J. PIAGET vornimmt. Vgl. J. PIAGET, Psychologie der Intelligenz, 3. Auflage der deutschsprachigen Ausgabe, München 1976, S. 34 f. Mit der nachfolgend im Vortrag herangezogenen Widerspiegelungsrelatlon ist nicht gemeint, daß notwendig in jedem Fall Logisches im Gedanklichen auf Strukturen in der objektiven Realität zurückführbar sei.
3) W. WUNDT, Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Bd. 1: Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie, 3. Auflage Stuttgart 1906, S. 306.
4) A. ARNAULD, Die Logik oder die Kunst des Denkens, Darmstadt 1972, S. 25.
5) Vgl. z. B. W. WUNDT, Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Bd. 1, ebenda S. 307 f.
6) Diese Konzeption läßt zu, das logische Hauptwerk von WUNDT speziell unter erkenntnistheoretischem bzw. methodologischem Aspekt zu analysieren.
7) L. KREISER, Eine Rekonstruktion der logischen Auffassungen W. WUNDTs, in: Wiss. Z. Karl-Marx-Universität Leipzig, Ges.- und Sprachwiss. R., 28. Jg. (1979), H. 3