XXIII. Die Unterschiedsformel.l)

    Wenn es gilt, den Unterschied zweier Empfindungen zu messen, die durch zwei, in verschiedenen Zeit- oder Raumpunkten einwirkende, Reize hervorgebracht werden, ohne Rücksicht, ob dieser Unterschied empfunden werde, oder nicht, also einen Empfindungsunterschied im engeren Sinne des vorigen Kapitels, nicht einen empfundenen Unterschied zu messen, so kann selbstverständlich nur die Differenz der absoluten Maße, welche für die einzelnen Empfindungen gelten, dazu dienen. Diese Maße sind durch die Maßformel gegeben, und es wird also das Maß des Empfindungsunterschiedes einfach als Differenz zweier durch die Maßformel gegebenen Werte zu bestimmen sein.

1) In Sachen S. 9. Revision S. 184 f.
 
    Seien die beiden Empfindungen, deren Unterschied es zu bestimmen gilt, g, g ', die zugehörigen Reize b, b ', und, um mit der einfachsten Voraussetzung zu beginnen, sei eine gleiche Empfindlichkeit für b, b ' angenommen, mithin b für beide konstant, so haben wir nach der ersten Form der Maßformel (Kap. 16) die beiden Gleichungen g= k (log b - log b)

= k (log b' - log b)

mithin als Differenz von beiden
g - = k (log b - log b¢ )

welche Formel schon (Kap. 16) in derselben Weise abgeleitet wurde. Zu derselben Formel werden wir auch geführt, wenn wir die zweite Form der Maßformel  zu Grunde legen, indem wir dann zunächst erhalten

,

welche Formel sich wiederum dadurch, daß für die Differenz der Logarithmen der Logarithmus des Quotienten gesetzt wird, auf die vorige reduziert.

    Diese Formel wollen wir die einfache Unterschiedsformel oder kurz Unterschiedsformel schlechthin nennen.

    Anstatt die Unterschiedsformel in angegebener Weise aus der Maßformel abzuleiten, kann man sie auch als das Allgemeinere der Maßformel unmittelbar durch Integration der Fundamentalformel erhalten, indem dazu genügt, die Integrationskonstante, die bei Ableitung der Maßformel durch Setzung der Empfindung gleich Null bei dem Reize b bestimmt wurde, dadurch zu bestimmen, daß wir allgemein die Empfindung = g '  bei dem Reizwerte b' setzen.

    Man sieht, daß der Schwellenwert b aus der Unterschiedsformel verschwunden ist. Wenn also aus Unbekanntschaft mit dem Schwellenwerte kein absolutes Maß der Empfindung durch die Maßformel selbst möglich ist, kann doch die einfache Unterschiedsformel noch dienen, Empfindungsunterschiede ihrer Größe nach zu vergleichen, so lange die Reizschwelle nur als konstant vorausgesetzt werden kann. Man sieht ferner, daß der Empfindungsunterschied allgemein nicht eine Funktion des Reizunterschiedes, sondern Reizverhältnisses ist, indem er dem Logarithmus desselben proportional ist.

    Hier scheint sich ein Widerspruch darzubieten. Soll unsere Formel allgemeine Gültigkeit behaupten, so muß sie für kleine wie große Unterschiede gelten, aber nach der Fundamentalformel gilt für kleine Unterschiede der Ausdruck

wonach der Empfindungsunterschied vielmehr dem relativen Reizunterschiede als dem Logarithmus des Reizverhältnisses proportional geht, was allgemein gesprochen sehr verschiedene Verhältnisse sind. Inzwischen läßt sich wie folgt zeigen, daß für den Fall sehr kleiner Empfindungsunterschiede beide Verhältnisse übereinkommen, so daß für diesen Fall die Unterschiedsformel auf die Fundamentalformel zurückkommt.

    Seien zwei Empfindungen g und g + dg , von denen sich die zweite nur durch den kleinen Zuwachs dg von der ersten unterscheidet, und seien die zugehörigen Reize b und b + db , welche sich nur durch die kleine Größe db unterscheiden, so haben wir, indem wir g + dund g als zwei unterschiedene Empfindungen, b+ dund b als die zugehörigen Reize in die Unterschiedsformel substituieren, zunächst

.

Da aber  sehr klein ist, so können wir nach Kap. 14 für  setzen , wo M der Modulus. Hiermit erhalten wir dg = kund durch Zusammenziehung von k M in die einfache Konstante K

,

welches die Fundamentalformel ist.

    Nicht minder als die Fundamentalformel läßt sich die Maßformel als ein besonderer Fall der Unterschiedsformel darstellen, und, wie oben bemerkt, die Unterschiedsformel selbst gleich als das Allgemeinere der Maßformel aus der Fundamentalformel ableiten. Die Maßformel stellt nämlich den Fall der Unterschiedsformel dar, wo eine von beiden Empfindungen, zwischen denen der Unterschied besteht, Null wird, und mithin der zugehörige Reiz den Schwellenwert erlangt, sofern sich jede einfache Empfindung auch als ein Unterschied vom Nullwerte der Empfindung fassen läßt. Setzt man nun g' = 0 und b' = b, so ergibt sich die Übereinstimmung mit der Maßformel unmittelbar. Setzt man g = 0 und b = b, so erhält man zunächst

.

Da aber nach den Eigenschaften der Logarithmen (Kap. 14) , so haben wir

und durch Versetzung der Werte dieser Gleichung mit entgegengesetztem Vorzeichen auf die andere Seite der Gleichung

,

welches wiederum die Form der Maßformel ist.

    Hiernach kann die Unterschiedsformel, wenn schon ableitbar aus der Maßformel, die selbst aus der Fundamentalformel ableitbar ist, doch als das Allgemeinere von beiden angesehen werden, und wie sie aus ihnen hervorgegangen ist, solche auch wieder hergeben.

    Bei dem Gebrauche der Unterschiedsformel ist nötig, sich über die Bedeutung der Vorzeichen, welche der Unterschied g- g ' annehmen kann, zu verständigen.

    Der Wert von g - g ' ist positiv oder negativ, je nachdem b > b ' oder b < b'. Ein positiver Wert von g - g ' zeigt natürlicherweise an, daß die Empfindung g überwiegt, welche dem Reize b zugehört, ein negativer, daß die Empfindung g' überwiegt, welche dem Reize b' zugehört. Also bedeutet der Gegensatz der Vorzeichen allgemein einen Gegensatz in der Richtung des Empfindungsunterschiedes, wobei beide Empfindungen über der Schwelle, oder beide unter der Schwelle, oder der eine über, der andere unter der Schwelle sein können.

    Diese Bedeutung der Vorzeichen ist als die allgemeingültige für den Empfindungsunterschied festzuhalten; nicht aber der Gegensatz der Vorzeichen hier allgemein als Gegensatz des Bewußtseins und Unbewußtseins der Empfindungsunterschiede zu deuten. Nur in dem besonderen Falle, wo sich durch Setzung von g' = 0 oder g = 0 die Unterschiedsformel auf die Maßformel reduziert, nimmt der Gegensatz des Vorzeichens vor der jetzt allein übrigen absoluten Empfindung von selbst die Bedeutung des Gegensatzes von Bewußt und Unbewußt an, weil dieser Gegensatz sich eben nur auf das Verhältnis einer Empfindung zur Nullempfindung, aber nicht zu anderen Empfindungen bezieht.

    Sollte man meinen, die mathematische Konsequenz gestatte es nicht, vor dem absoluten Werte einer Empfindung den Gegensatz der Vorzeichen in so besonderer Weise zu verstehen, ohne diese Bedeutung für den Empfindungsunterschied zu verallgemeinern, so wird es wieder nur nötig sein, sich an ein schon früher gebrauchtes paralleles Beispiel aus der analytischen Geometrie zu erinnern, um das Bedenken gehoben zu sehen. Vor dem absoluten Werte eines Radius vector im Systeme der Polarkoordinaten bedeutet der Gegensatz des Vorzeichens einen Gegensatz des Reellen und Imaginären; aber diese Bedeutung läßt sich auch nicht für den Unterschied zweier Radii vectores r, r' verallgemeinern; vielmehr bedeutet das Vorzeichen von r - r' auch allgemein nur die Richtung eines Unterschiedes zwischen beiden, ob der eine größer oder kleiner als der andere ist, und den Gegensatz des Reellen und Imaginären bloß dann, wenn r' oder r = 0. Dies ist ganz das Analoge von unserem Falle. Zu derselben Auffassung führt die Repräsentation der positiven und negativen Empfindungswerte durch positive und negative Ordinaten, während die Reizwerte die dazu rechtwinkligen Abszissen bilden. Wir können die Differenz zweier positiven Ordinaten gleich g - g ' nehmen, und sie wird nach unserer Unterschiedsformel negativ sein, wenn > b . Aber diese negative Differenz zwischen zwei positiven Ordinaten hat doch nach dem Geiste der analytischen Geometrie einen ganz anderen Sinn als die gleich große negative Differenz einer einzigen Ordinate von Null, welche nichts Anderes ist, als eine einfache negative Ordinate selbst. Jene Differenz fällt ganz in den Raum, welcher das Bewußtsein repräsentiert, dieser ganz in den Raum, welcher das Unbewußtsein repräsentiert; und die Bedeutung des Unbewußtseins, welche letzterer Differenz zukommt, läßt sich also nicht auf erstere übertragen, steht aber auch nicht im Widerspruche damit, sondern beide Fälle sind besondere Fälle einer allgemeineren Auffassung des Vorzeichengegensatzes. Unsere Auffassung ist also ganz im Geiste der Mathematik, und es würde gar kein Zusammenhang der Formeln und Tatsachen mit einer anderen Auffassung herauszubringen sein.

    Im Übrigen sieht man, daß die Form der Unterschiedsformel ganz dieselbe ist, als die der Maßformel, wenn wir für den Empfindungsunterschied g- g ' einen einzigen Buchstaben setzen, nur daß an die Stelle des Schwellenwertes der Maßformel der Wert des Reizes tritt, gegen den wir den anderen betrachten, und an die Stelle der Deutung des Vorzeichens auf Bewußt und Unbewußt die Deutung auf die Richtung des Unterschiedes. Unter dieser Rücksicht sind alle Gesetze und Verhältnisse, die sich aus der Maßformel für absolute Empfindungswerte ableiten lassen, auch auf Unterschiede übertragbar und umgekehrt.

    Also, da

so werden wir den Unterschied zweier Empfindungen ver-n-facht finden, wenn das Verhältnis  der Reize, welche den Empfindungen zugehören, auf die n-te Potenz steigt, wie wir eine Empfindung ver-n-facht fanden, wenn das Verhältnis des Reizes zum Schwellenwerte auf die n-te Potenz steigt.

    Eben so können wir Alles, was über den bezugsweisen Gang von Empfindung und Reiz gesagt ist, übertragen auf den bezugsweisen Gang zwischen Empfindungsunterschied und Reiz, indem wir nur den fundamentalen Reizwert nicht mehr als Verhältniswert gegen die Schwelle, sondern gegen den Reiz, in Bezug zu dem der Unterschied betrachtet wird, nehmen.

    Ein beachtenswerter Satz, welcher schon früher (Kap. 17) in nur etwas anderer Ausdrucksweise zur Begründung der Maßformel geltend gemacht wurde, ergibt sich, wenn wir zu einer Reihe Reize b, b ', b ", b '" ...., gleichviel, ob nach der Ordnung ihrer Größe geordnet oder nicht, die Empfindungsunterschiede von je einem zum je nächsten nehmen, und diese Unterschiede summieren. Die Summe dieser Empfindungsunterschiede ist dem Empfindungsunterschiede zwischen den äußersten Reizen der Reihe gleich. In der Tat haben wir bloß nötig, die Summe der Logarithmen von  etc. in den Logarithmus des Produktes aus diesem Quotienten umzusetzen, um diesen Satz bestätigt zu finden.

Die Formel für Empfindungsunterschiede läßt sich leicht zu einer Formel für Unterschiede von Empfindungsunterschieden verallgemeinern.

    Setzen wir den Empfindungsunterschied g - g ' = u, das Reizverhältnis = j , einen anderen Empfindungsunterschied g" - g¢¢¢ = u'; das zugehörige Reizverhältnis , so haben wir
                                                                                                    u = k log j

u¢ = k log

mithin



Diese Formel ist allgemeiner, als die für einfache Empfindungsunterschiede geltende Formel, indem sie in dieselbe übergeht, wenn man setzt u¢ = 0, was mitführt j' = 1, b" = b'".

    Nicht minder gelangt man zu einer Verallgemeinerung der Fundamentalformel dadurch, daß man die Unterschiedsformel

                                                    u = K log j differenziert, wodurch man erhält welche durch Integration dieselbe allgemeine Formel

u - u¢ = k log ,

gibt, die wir so eben auf anderem Wege erhielten.

    Eine Verallgemeinerung der Unterschiedsformel in anderem Sinne erhalten wir, wenn wir, statt wie bisher, die absolute Empfindlichkeit und mithin den Wert b bei Einwirkung der beiden Reize b, b ' gleich zu setzen, verschiedene Schwellenwerte, respektiv b, b' dafür stattfinden lassen. Dann verschwinden die Schwellenwerte nicht aus der Formel, und wir erhalten

(1)
         (2)

         (3)

            (4)

Dies sind bloß verschiedene Formen derselben Formel, die wir kurz die Unterschiedsschwellenformel nennen können. Der Ausdruck (2) lehrt uns, daß der Empfindungsunterschied allgemein proportional ist dem Logarithmus des Quotienten aus beiden fundamentalen Reizwerten  und , wovon jener durch diesen dividiert das Produkt  gibt. Der Ausdruck (3), daß er dem Logarithmus des Quotienten proportional ist, den man erhält, wenn man das Verhältnis der Reize  mit dem Verhältnisse der zugehörigen Schwellenwerte  dividiert. Der Ausdruck (4) endlich, daß der Empfindungsunterschied durch die Verschiedenheit der Empfindlichkeit abnimmt oder wächst, je nachdem der Schwellenwert b oder b' der größere ist, indem erstenfalls log  positiv, letztenfalls negativ ist. Setzen wir nun b als den stärkeren Reiz, so muß der Schwellenwert b' des schwächeren Reizes größer sein, damit der positive Empfindungsunterschied wachse, und setzen wir b' als den stärkeren Reiz, so muß wiederum der Schwellenwert b des schwächeren Reizes größer sein, damit der negative Empfindungsunterschied wachse. Allgemein also wächst der Empfindungsunterschied durch die Verschiedenheit der Empfindlichkeit oder nimmt ab, je nachdem der Schwellenwert des schwächeren oder stärkeren Reizes der größere ist, mithin der stärkere oder schwächere Reiz mit größerer Empfindlichkeit aufgefaßt wird. Stehen die Schwellenwerte im selben Verhältnisse, als die Reize, denen sie zugehören, so verschwindet der Empfindungsunterschied ganz.

    Es gilt also in Betreff der Empfindungsunterschiede nicht dasselbe, was wir früher für die Empfindungssummen fanden, daß es gleichgültig ist, ob die Empfindlichkeiten für den stärkeren und schwächeren Reiz sich vertauschen.

Übrigens zeigt dieselbe Formel, daß auch bei Verschiedenheit von b und b¢ doch der Empfindungsunterschied merklich unabhängig von beiden wird, wenn log  merklich gegen log  verschwindet, d. h. wenn die Reize b , b ' in starkem, die Schwellenwerte b, b' in geringem Verhältnisse differieren.

    Die Unterschiedsschwellenformel läßt sich dadurch auf die Form der Maßformel reduzieren, daß wir den Empfindungsunterschied g - g ' durch u, das Reizverhältnis  durch j , das Verhältnis der Schwellenwerte  durch F bezeichnen; indem sich die Form der Unterschiedsschwellenformel

hiernach übersetzt in

    Nennen wir nun den Quotienten , das ist das Verhältnis der Reize dividiert durch das Verhältnis der zugehörigen Schwellenwerte, kurz das fundamentale Unterschiedsverhältnis, so können wir sagen, daß der Empfindungsunterschied in derselben Weise vom fundamentalen Unterschiedsverhältnisse, als die Empfindung vom fundamentalen Reizverhältnisse abhängt.