XXXIX. Allgemeine Bedeutung der Schwelle in der inneren Psychophysik.

    Der Gegensatz einer Erhebung über die Schwelle und eines Versinkens unter die Schwelle mit dem Schwellenpunkte dazwischen ist dem Gebiete der Empfindungen nicht eigentümlich. Das ganze geistige Leben des Menschen wechselt zwischen Schlaf und Wachen, d. i. einem unbewußten und bewußten Zustande, im Wachen können dann wieder einzelne Gebiete und in jedem Gebiete einzelne Phänomene die Schwelle übersteigen oder darunter sinken. Die psychophysische Repräsentation von all’ dem muß notwendig zusammenhängen und auf demselben Prinzipe fußen. Sind wir der psychophysischen Repräsentation von Bewußtsein und Unbewußtsein irgendwo sicher, so nötigt uns der Zusammenhang der Tatsachen und die Konsequenz der Betrachtung von selbst zur Verallgemeinerung und Folgerung. Und ohne noch die psychophysischen Tätigkeiten zu kennen, die unseren Bewußtseinsphänomenen unterliegen, ja selbst ohne die Funktion derselben zu kennen, die für den Reiz b in unserer Maßformel zu substituieren ist, genügt die Verallgemeinerung der Tatsache, daß dieselben psychophysischen Bewegungen oder Veränderungen, die über einem gewissen Grade der Stärke Bewußtsein mitführen, unter einem gewissen Grade unbewußt werden, für sich allein schon, sehr allgemeine Gesichtspunkte stellen und wichtige Folgerungen ziehen zu lassen. Rufen wir uns kurz das Fundament dieser so wichtigen Verallgemeinerung zurück und bezeichnen vorgreifend den Gang derselben.

    Die Wirkungsweise der Reize hat zuerst gedient, auf dem Felde der äußeren Psychophysik die Tatsache zu konstatieren, daß das, was die Empfindung von Außen anregt, einen gewissen Grad der Stärke übersteigen muß, sie bewußt zu machen. Hieran knüpfte sich vermöge Übersetzung des Reizes in psychophysische Tätigkeit zunächst die Folgerung, daß auch die durch den Reiz ausgelöste und repräsentierte psychophysische Tätigkeit einen gewissen Grad der Stärke übersteigen muß, um bewußt zu werden. Die Erörterungen der folgenden Kapitel über Schlaf und Wachen und über die Aufmerksamkeit werden hinzutreten, zu zeigen, daß das, was für sinnliche und Sonderphänomene gilt, sich auf das Allgemeinbewußtsein und allgemeine Bewußtseinsphänomene übertragen läßt. Hiermit wird das Bedürfnis entstehen, uns über das Verhältnis aufzuklären, in welchem die Schwelle des Allgemeinbewußtseins zu der Schwelle besonderer Bewußtseinsphänomene steht. Die Erörterung der erfahrungsmäßigen Verhältnisse zwischen der Wirkung der Aufmerksamkeit und des Reizes im 42. Kapitel wird dienen, das, was sich aus allgemeinem Gesichtspunkte in dieser Hinsicht voraussetzen läßt, durch Zusammenstimmung aller erfahrungsmäßigen Verhältnisse dazu zu bewähren, und das Stufenverhältnis, was sich in uns darbietet, wird sich endlich im 45. Kap. auch noch über uns hinaus verfolgen lassen.

    Hiermit stellt sich eine fundamentale Bedeutung der Tatsache der Schwelle für die ganze Entwickelung der inneren Psychophysik heraus; diese wäre, ohne Rücksicht auf sie, was ein Organismus ohne Abschnitte, Einschnitte, hiermit ohne Organe und Glieder.

    Über das Alles hat der Begriff der psychophysischen Schwelle die wichtigste Bedeutung schon dadurch, daß er für den Begriff des Unbewußtseins überhaupt ein festes Fundament gibt. Die Psychologie kann von unbewußten Empfindungen, Vorstellungen, ja von Wirkungen unbewußter Empfindungen, Vorstellungen nicht abstrahieren. Aber wie kann wirken, was nicht ist; oder wodurch unterscheidet sich eine unbewußte Empfindung, Vorstellung von einer solchen, die wir gar nicht haben? Der Unterschied muß gemacht werden, aber wie ist er klar zu machen? Und wo ist seither eine Klarheit darüber zu finden?

    Ich betrachte es in der Tat als eins der schönsten Ergebnisse unserer Theorie, daß sie diese Klarheit gibt, indem sie die Empfindung, oder was es für ein Bewußtseinszustand sei, mit Etwas, woran sie hängt, nicht auf Grund von bestreitbaren Spekulationen, sondern unbestreitbaren Erfahrungen in einer solchen funktionellen Beziehung faßt, daß dies Etwas fortbestehen kann, indes sie schweigt. Empfindungen, Vorstellungen haben freilich im Zustande des Unbewußtseins aufgehört, als wirkliche zu existieren, sofern man sie abstrakt von ihrer Unterlage faßt, aber es geht etwas in uns fort, die psychophysische Tätigkeit, deren Funktion sie sind, und woran die Möglichkeit des Wiederhervortrittes der Empfindung hängt, nach Maßgabe als die Oszillation des Lebens oder besondere innere oder äußere Anlässe die Bewegung wieder über die Schwelle heben; und diese Bewegung kann auch in das Spiel der bewußten psychophysischen Bewegungen, welche zu anderen Bewußtseinsphänomenen gehören, eingreifen und Abänderungen darin hervorrufen, deren Grund für uns im Unbewußtsein bleibt.