3. Die Apperzeptionsdauer zusammengesetzter Gesichtsvorstellungen.
    Zur Bestimmung der Apperzeptionsdauer zusammengesetzter Vorstellungen, welche den Hauptgegenstand unsrer Untersuchungen bildete, wurden, wie bemerkt, Zahlenvorstellungen und versuchsweise Vorstellungen einfacher geometrischer Figuren benutzt. Die Versuche waren so angeordnet, dass der Reagierende in einer Reihe von sechs Einzelversuchen ein- bis sechsziffrige Zahlen apperzipierte, welche er nach erfolgter Reaktion entweder sofort notierte oder laut aussprach, sodass fehlerhafte Ablesungen leicht bemerkt wurden. Die Zahlen wurden als solche und nicht als Ziffern gelesen, z. B. Dreihundertzehn und nicht Drei Eins Null. Wir bedienten uns gedruckter Ziffern, deren jede etwa den Raum eines Rechteckes von 6 Millim. Höhe und 3,8 Millim. Breite einnahm. Die längste unsrer Zahlen, die sechsstellige hatte demnach eine Länge von 23 Millim., ihre Anfangs- und Endziffer lag vom Fixationspunkt, welcher sich genau über der Mitte der Zahl befand, 11,5 Millim. entfernt; dieser Abstand entspricht einem Winkel von nahezu 20 33'. Da nun nach den Versuchen von Hall und v. Kries 1) die Vermehrung der Reaktionszeit durch indirektes Sehen bei 30° nur 0,021 bis 0,034 Sek. beträgt, so ist anzunehmen, dass die entsprechende Vermehrung bei einem Winkel von 2° 33' zu vernachlässigen sei, und dies um so mehr, als die von uns gefundenen physiologischen Zeiten von ziemlich beträchtlicher Größe sind. Es konnte allerdings noch das Bedenken erhoben werden, dass bei Ablesen einer Zahl von 23 Millim. Länge eine Bewegung des Auges nötig sei, welche bei kürzeren Zahlen in Wegfall käme, sodass ein Vergleich der Apperzeptionsdauer für kurze und lange Zahlen aus den entsprechenden physiologischen Zeiten ohne Weiteres nicht statthaft wäre. Merklich war eine Bewegung des Auges nicht und selbst wenn sie wirklich stattfand, so kann sie nicht von großem Einfluss gewesen sein, da es gegen Ende der Versuche Herrn Professor Wundt durch Übung gelang, fünf- und sechsstellige Zahlen in derselben Zeit zu apperzipieren, als ein-, zwei- und dreistellige, und durch Übung die Zeit der Augenbewegung wohl vermindert werden, aber nicht, wie es nach obigem hätte geschehen müssen, verschwinden konnte. 1) Archiv für Anatomie und Physiologie. 1879. S. 7 f.
 
 
    Die Reagierenden waren Herr Professor Wundt, Herr Dr. Stanley Hall, Herr Tischer und ich. Es ist zu bemerken, dass bereits im Dezember 1879 Versuche mit geschriebenen Zahlen angestellt waren, an denen Herr Tischer nicht Teil nahm und deren Resultate im folgenden nicht mitgeteilt sind, da die geschriebenen Zahlen nicht von jedem Reagierenden mit gleicher Leichtigkeit gelesen wurden. Diesem Umstande ist es zuzuschreiben, dass die physiologischen Zeiten für Herrn Tischer im Anfang etwas größer ausfallen, als bei den anderen Reagierenden, die sich durch die früheren Versuche bereits eine gewisse Übung im Lesen und Reagieren erworben hatten.

    Die Tabellen enthalten für je einen Tag die Mittelwerte der physiologischen Zeiten der nach der Anzahl der Ziffern geordneten Zahlen und die jedem Mittel entsprechende mittlere Variation. Der bessern Übersicht halber ist die Zahl der Versuche jedem Mittel in römischen Ziffern beigefügt. Die arabischen Ziffern bedeuten auch hier Tausendteile von Sekunden, und der Übereinstimmung halber sind ganze Sekunden nicht durch Kommata abgetrennt.
 

W.
1880 1 stellige m.V. 2st. m.V. 3st. m.V. 4st. m.V. 5st. m.V. 6st. m.V.
17. Jan. 668 I 000 475 III 032 486 II 028 709 II 008 777 I 000 1160 II 076
21. - 558 IV 015 488 IV 057 498 IV 054 461 IV 077 707 III 074 1139 V 194
24. - 610 IV 073 (884 III) 077 676 III 144 879 IV 221 937 II 056 1320 III 128
31. - 531 IV 061 606 IV 083 600 IV 040 647 IV 072 921 IV 059 1051 IV 025
4. Febr. 428 III 066 432 III 054 539 III 050 574 III 066 712 III 144 734 III 110
7. - 503 III 018 575 III 073 462 III 119 674 III 273 569III 115 621 III 106
11. - 315 I 000 298 I 000 460 I 000 552 I 000 340 I 000 493 I 000
H.
17. Jan. 805 I 000 780 I 000 1165 I 000 1129 I 000
24. - 580 III 097 690 III 031 861 III 066 1132 III 092 1382 III 392 1574 III 401
31. - 617 IV 044 616 IV 080 969 IV 066 1032 IV 264 1625 IV 085 1875 IV 252
7. Febr. 546 III 124 522 III 071 747 III 030 1155 III 141 1237 III 105 1927 III 364
T.
17. Jan. 731 II 090 848 II 023 979 II 042 1342 II 497 1753 I 000 1814 II 036
21. - 401 IV 117 717 IV 131 839 IV 086 1348 IV 199 1356 IV 091 1579 IV 310
24. - 706 II 069 561 II 020 706 I 000 1011 II 075 1434 II 074 1355 III 148
31. - 586 IV 025 560 IV 138 752 IV 119 930 IV 185 1088 IV 119 1232 IV 265
4. Febr. 432 III 017 496 III 017 530 III 063 724 III 098 877 III 090 1087 III 105
7. - 395 III 015 496 III 046 569 III 012 679 III 070 971 III 164 1126 III 106
11. - 401 I 000 500 I 000 498 I 000 641 I 000 704 I 000 996 I 000
F.
17. Jan. 541 III 062 489 II 059 516 III 127 669 II 052 813 IV 119 1204 III 234
21. - 293 II 106 422 II 044 332 II 032 559 II 085 785 II 037 1203 II 171
24. - 522 II 082 345 I 000 546 III 132 671 I 000 869 II 081 1267 II 077
31. - 473 III 042 550 V 066 445 V 034 603 III 030 756 VI 106 1167 III 047
4. Febr. 435 III 067 478 III 041 516 III 040 593 III 024 867 III 071 1157 III 090
7. - 467 III 056 524 III 011 542 III 009 674 III 051 673 III 018 1087 III 155

    Das Gesamtmittel aller im Januar angestellten Versuche beträgt für die einzelnen Zahlen
 

bei W.
1stellig 2st. 3gt. 4st. 5st. 6st.
574 582 571 669 846 1156
bei H.
601 667 905 1086 1472 1746
bei T.
568 661 821 1068 1309 1607
bei F.
467 482 467 617 830 1225

    Ferner die Gesamtmittel aller im Februar angestellten Versuche
 

W.
l stellig 2st. 3st. 4st. 5st. 6st.
466 504 501 614 641 678
H.
546 522 747 1155 1237 1927
T.
414 496 550 700 924 1107
F.
451 501 529 634 770 1122

    Endlich sind die Gesamtmittel aller Versuche überhaupt (außer denen des 11. Febr.).
 

W.
1stellig 2st. 3st. 4st. 5st. 6st.
540 557 552 655 769 1013
H.
584 628 862 1105 1408 1800
T.
510 600 713 929 1069 1417
F.
463 489 487 624 813 1186

 

    Die folgenden Tabellen enthalten die Minima für die einzelnen Tage
 

W.
einstellig
2st.
3st.
4st.
5st.
6st.
17. Jan. 668 I 426 III 458 II 701 II 777 I 1084 II
21. - 539 IV 428 IV 436 IV 324 IV 606 III 862 V
24. - 470 IV 807 II 501 III 604 IV 881 II 1128 III
31. - 458 IV 497 IV 576 IV 516 IV 862 IV 1026 IV
4. Febr. 357 III 350 III 465 III 476 III 552 III 617 III
7. - 485 III 502 III 368 III 401 III 396 III 512 III
11. - 315 I 298 I 469 I 552 I 340 I 493 I
Im Mittel : 470 473 468 511 631 818
Differenz je zweier benachbarter Mittel: 003                 —005             043             120             187
H.
17. Jan. 805 I 780 I 1165 I 1129 I
24. - 435 III 643 III 761 III 995 III 792 III 1005 III
31. - 559 IV 520 IV 855 IV 743 IV 1457 IV 1477 IV
7. Febr. 424 III 416 III 723 III 1044 III 1136 III 1430 III
Im Mittel: 473 577 780 987 1129 1304
Differenz je zweier benachbarter Mittel: 104             203             207             152             175
T.
17. Jan. 661 II 825 II 937 II 845 II 1753 I 1778 II
21. - 247 IV 547 IV 666 IV 349 IV 1257 IV 1328 IV
24. - 636 II 541 IV 706 I 936 II 1360 II 1191 III
31. - 542 IV 385 IV 531 IV 807 IV 942 IV 861 IV
4. - 407 III 473 III 439 III 577 III 808 III 930 III
7. - 373 III 427 III 551 III 580 III 725 III 970 III
11. - 401 I 500 I 498 I 641 I 704 I 996 I
Im Mittel : 467 528 618 677 1078 1151
Differenz je zweier benachbarter Mittel: 061             090             059             401             073  
F.
1stellig 2st. 3st. 4st. 5st. 6st.
17.Jan. 477 III 430 II 403 III 617 II 656 IV 993 III
21. - 187 II 379 II 299 II 473 II 757 II 1031 II
24. - 440 II 345 I 348 III 671 I 748 II 1190 II
31. - 433 III 406 V 397 V 557 III 620 VI 1097 III
4. Febr. 373 III 417 III 455 III 556 III 804 III 1022 III
7. - 424 III 513 III 528 III 630 III 645 III 855 III
Im Mittel: 389 415 405 584 705 1031
Differenz je zweier benachbarter Mittel: 026             —010             179             121             326     Die absoluten Erkennungszeiten oder die Apperzeptionsdauer erhält man durch Subtraktion der einfachen Reaktionsdauer von den einzelneu Mittelwerten. Die dazu erforderlichen Reaktionszeiten betragen für W: 196, für H: 205, für T: 220, für. F: 143. Darnach erhält man mittelst der Tabellen auf S. 25 die reduzierten Gesamtmittel für den Januar :
 
W.
1stellig 2st. 3st. 4st. 5st. 6st.
378 386 375 473 650 960
H.
396 442 700 881 1267 1541
T.
348 421 601 848 1089 1387
F.
324 339 324 474 687 1082
Für den Februar:
W.
270 308 305 418 445 482
H.
341 317 542 950 1032 1722
T.
194 276 330 480 704 907
F.
208 358 386 491 627 979

  Gesamtmittel aus allen Versuchen:
W.
1stellig 2st. 3st. 4st. 5st. 6st.
344 361 354 459 573 817
H.
379 423 657 900 1203 1595
T.
290 380 493 709 849 1197
F.
320 346 344 481 670 1043

    Es bedarf kaum einer eingehenderen Prüfung der Tabellen um zu erkennen, dass die Mittelwerte einer Rubrik von Tage zu Tage abnehmen, und dies um so mehr, je größer sie Anfangs waren. Dieser Umstand ist es hauptsächlich, welcher dem Vergleiche der Mittelwerte für Zahlen mit verschiedener Anzahl von Ziffern große Schwierigkeiten entgegensetzt und die Aufstellung eines allgemein gültigen Gesetzes über den Zusammenhang der Apperzeptionszeit der einzelnen Zahlen fast zur Unmöglichkeit macht. Dem Einflusse der Übung ist ein Teil des letzten Abschnittes gewidmet; ich will daher an dieser Stelle auf eine Reihe anderer erwähnenswerter Ergebnisse hinweisen.

    Wie von vornherein zu erwarten stand, nehmen zwar die physiologischen Zeiten der Zahlen im allgemeinen mit der Anzahl der Ziffern zu, doch lässt sich ein bestimmtes Gesetz nicht erkennen; die Zunahme ist bis zu den dreistelligen Zahlen nicht bedeutend und auch nicht regelmässig, dagegen stärker beim Übergange zu den vierstelligen, von diesen zu den fünfstelligen und endlich von den letzteren zu den sechsstelligen. Das Auge fasst drei Ziffern noch bequem als Ganzes auf, erkennt sie eben so als ein Bild, wie ein und zwei Ziffern. Im Gegensatze hierzu findet unwillkürlich bei dem Erkennen von vier-, fünf- und sechsstelligen Zahlen eine Dichotomie statt. Die vierstelligen werden zunächst in zwei und zwei Ziffern zerlegt und erst nach einiger Übung in eine und drei Ziffern, welche Art der Zerlegung der Bildung der Zahl entspricht. Bei den Fünfstelligen bietet sich die Teilung in zwei und drei Ziffern von selbst, ebenso bei den Sechsstelligen, vollzieht sich aber bei den Letzteren in Folge der Symmetrie leichter, als hei den fünfstelligen, bei denen es erst einer kleinen Zeit bedarf, ehe man zur Überzeugung gelangt, man habe wirklich eine fünfstellige Zahl vor sich.

    Merkwürdig ist es, dass häufig einstellige Zahlen längere Zeiten ergeben, als zwei- und dreistellige. Der Grund dieser Erscheinung liegt wohl teilweise in der größeren Irradiation bei der einzelnen Ziffer, und vielleicht in einer gewissen Überraschung, indem man auf eine schwierigere Apperzeption gefasst war7). Nicht ohne Interesse ist ferner die leicht erklärliche Tatsache, dass alle vierstelligen Zahlen, welche mit den beiden ersten Ziffern 18 der Jahreszahl begannen, eine sehr kurze Apperzeptionsdauer beanspruchten.
 

    7) Auch wohl z. Th. in dem häufigeren Vorkommen zwei- und dreistelliger Ziffersymbole, während die einstelligen öfter geschrieben werden. Denn es ist auffallend, dass sich jener Unterschied hauptsächlich im Anfang der Versuche geltend machte.
 
 

    Im allgemeinen zeigt sich trotz des Einflusses der Übung eine befriedigende Übereinstimmung in den Resultaten der einzelnen Reagierenden. Aus der Tabelle der Mittelwerte für den Januar (s. S. 25) geht hervor, dass die physiologischen Zeiten für W und F durchschnittlich nur um 0,039 Sek. von einander abweichen, die von H und T um 0,089 Sek. Da Herr Dr. Stanley Hall sich nicht regelmäßig an den Versuchen beteiligte, so nähern sich seine physiologischen Zeiten im Januar denen des im Anfang weniger geübten Herrn Tischer, bleiben aber im Februar bedeutend hinter denselben zurück, während nunmehr T und F durchschnittlich nur um 0,052 Sek. differieren und bei Herrn Professor Wundt eine gegen die übrigen Reagierenden erheblich größere Übung eingetreten ist.