Sechzehnter Abschnitt.

Das System der Tonarten.

Die Höhe der Tonica einer musikalischen Komposition ist zunächst durch nichts fixiert. Hat man nun musikalische Instrumente oder Gesangstimmen von bestimmt begrenztem Umfange, von welchen verschiedene Melodien und Musikstücke ausgeführt werden sollen, so wird man die Tonica verschieden hoch wählen müssen, je nachdem die Melodie hoch über die Tonica hinaufgeht, oder tief unter sie hinab. Die Tonica muß ihrer Höhe nach so gelegt werden, daß der Umfang der Töne des Musikstücks in den Umfang der Stimme oder desjenigen Instruments hineinpaßt, durch das es ausgeführt werden soll. Diese unausweichbare praktische Rücksicht fordert die Möglichkeit, den Grundton jedes Musikstücks in beliebiger Höhe wählen zu können.

Ferner tritt bei längeren Musikstücken das Bedürfnis ein die Tonica zeitweise zu verändern, d. h. zu modulieren, um Einförmigkeit zu vermeiden, und um die musikalischen Wirkungen der Veränderung und des Wiederfindens der ursprünglichen Tonart zu benutzen. Wie die Konsonanzen durch die Dissonanzen hervorgehoben und wirksamer gemacht werden, so wird das Gefühl der herrschenden Tonalität und die Befriedigung in ihr durch vorausgehende Abweichungen nach nahe gelegenen Tonarten verstärkt. Die durch modulatorische Veränderungen bedingte Mannigfaltigkeit musikalischer Wendungen ist für die neuere Musik um so notwendiger geworden, als sie das alte Prinzip der Abänderung des Ausdrucks mittels der verschiedenen Tongeschlechter hat aufgeben oder wenigstens auf ein sehr enges Maß zurückführen müssen. Den Griechen standen sieben verschiedene Tongeschlechter zur Wahl frei, dem Mittelalter fünf oder sechs, uns nur zwei, Dur und Moll. Jene alten Tongeschlechter boten eine Reihe verschiedener Abstufungen des Toncharakters dar, von denen in der harmonischen Musik nur noch zwei brauchbar geblieben sind. Bei dem deutlicheren und festeren Bau eines harmonischen Satzes können sich dagegen die Neueren größere Freiheit in modulatorischen Abweichungen von der ursprünglichen Tonica erlauben, und dadurch ein neues Gebiet musikalischen Reichtums betreten, welches den Alten jedenfalls nur sehr wenig zugänglich war.

Endlich muß ich noch die viel besprochene Frage erwähnen, ob die verschiedenen Tonarten an sich einen verschiedenen Charakter haben.

Daß innerhalb eines Tonstücks modulatorische Ausweichungen in die verschiedenen mehr oder weniger entfernten Tonarten der Ober- oder Unterdominantseite einen sehr verschiedenen Effekt machen, ist klar. Das ist aber nur im Gegensatz gegen die zuerst festgestellte Haupttonart der Fall. Dies wäre nur ein relativer Charakter. Die hier aufzuwerfende Frage wäre, ob ihnen unabhängig von ihrem Verhalten zu einer anderen Tonart ein besonderer absoluter Charakter zukommt.

Es ist dies oft behauptet worden, aber schwer zu entscheiden, wie viel daran wahr sei, und was eigentlich darunter verstanden werde, weil vielleicht vielerlei sehr Verschiedenes unter diesem Namen zusammengefaßt wird, und namentlich nicht unterschieden worden ist, wieviel den einzelnen Instrumenten dabei zukommt. Wenn ein Instrument mit festen Tönen durchgängig gleichmäßig; nach der gleichschwebenden Temperatur gestimmt ist, also alle halben Töne durch die ganze Skala hindurch gleiche Größe haben, und auch die Klangfarbe aller Töne dieselbe ist, so ist kein Grund einzusehen, warum Stücke in verschiedenen Tonarten verschiedenen Charakter haben sollen, und es wurde mir auch von urteilsfähigen Musikern zugegeben, daß ein verschiedener Charakter der Tonarten Auf der Orgel zum Beispiel nicht zu bemerken sei. Dasselbe, glaube ich, behauptet Hauptmann1) mit Recht vom Gesange mit Orgelbegleitung oder ohne Begleitung. Höchstens kann eine stärkere Veränderung in der Höhe der Tonica bewirken, daß sämtliche hohen Töne zu angestrengt, oder sämtliche tiefe zu matt werden.

1) Harmonik und Metrik, S. 188. Dagegen ist auf den Klavieren und bei den Streichinstrumenten entschieden ein verschiedener Charakter der Tonarten vorhanden. G-Dur und das benachbarte Des-Dur klingen verschieden. Daß nun dieser Unterschied nicht von der absoluten Tonhöhe abhängt, kann man leicht erkennen, wenn man zwei verschiedene Instrumente von verschiedener Stimmung vergleicht. Es kann das Des des tieferen Instruments gleich hoch sein mit dem C des höheren, und doch behält auf beiden G-Dur seinen kräftigen klaren Charakter und Des-Dur seinen weichen wie verschleierten Wohlklang. Man kann hier kaum an etwas anderes denken, als daß der Anschlag der kürzeren und schmalen Obertasten des Klaviers eine etwas andere Klangfarbe gibt als der Anschlag der Untertasten, und je nachdem der kräftigere oder weichere Klang sich auf die verschiedenen Stufen der Tonart verteilt, ein anderer Charakter eintritt. Ob dazu etwa regelmäßige Unterschiede der Stimmung derjenigen Quinten, welche die Klavierstimmer zuletzt stimmen, und auf welche sich die Fehler der übrigen Quinten des Quintenzirkels zusammendrängen, beitragen, wage ich nicht aus Erfahrung zu entscheiden.

Bei den Streichinstrumenten sind es die leeren Saiten, welche durch ihre kräftigere Klangfarbe hervortreten, und auch vielleicht Unterschiede im Klange der stark verkürzten und wenig verkürzten Saiten, welche den Charakter der Tonarten ändern können, je nachdem sie auf diese oder jene Stufe der Leiter fallen. Diese Annahme wurde mir bestätigt durch Fragen, die ich an Musiker richtete, woran sie in bestimmten Fällen die Tonart erkennen? Dazu kommen auch wohl Ungleichmäßigkeiten der Stimmung. Die Quinten der leeren Saiten sind reine Quinten. Daneben können nicht alle anderen Quinten rein sein, wenn wirklich beim Spielen in verschiedenen Tonarten allen Tönen immer derselbe Wert gegeben wird, wie es wenigstens die Absicht beim Unterricht im Violinspiele meist zu sein pflegt. Somit werden sich also die Leitern in den verschiedenen Tonarten auch in der Stimmung unterscheiden können, was natürlich einen noch viel wesentlicheren Einfluß auf den Charakter der Melodie haben würde.

Noch größer sind die Unterschiede in der Klangfarbe verschiedener Noten bei den meisten Blasinstrumenten.

Wenn diese Ansicht der Sache richtig ist, würde sich der Charakter der Tonarten nach den verschiedenen Instrumenten sehr verschieden verhalten müssen, was, wie ich glaube, auch der Fall ist. Indessen ist dies doch ein Punkt, der nur von einem sehr fein hörenden Musiker entschieden werden kann, wenn er auf die hier sich aufdrängenden Fragen sein Augenmerk richtet.

Es wäre übrigens nicht unmöglich, daß durch eine Eigentümlichkeit des menschlichen Ohres, die ich schon oben S. 187 berührt habe, auch gewisse gemeinsame Züge in dem Charakter der Tonarten eintreten, die von der Verschiedenheit der Instrumente unabhängig sind, und nur von der absoluten Tonhöhe der Tonica abhängen. Das g"" ist nämlich ein Eigenton des menschlichen Ohres, und klingt daher dem unbewaffneten Ohre besonders schrill; etwas von dieser Schärfe kommt auch noch dem fis"" und as"" zu. In geringerem Maße zeigen diejenigen Klänge, in denen jenes g"" als Oberton vorkommt, einen etwas helleren und schärferen Klang als ihre Nachbarn, nämlich das g'", c'" und g". Es mag nun für Stücke in C-Dur nicht gleichgültig sein, wenn ihre hohe Quinte g" und Tonica c'" diesen scharfen Klang vor den anderen Tönen zeigen, aber jedenfalls sind diese Unterschiede nur schwach, und ich muß es vorläufig dahin gestellt sein lassen, ob sie in das Gewicht fallen.

Alle oder einige dieser Gründe machten es nun für die Musiker nötig, frei über die Höhe der zu wählenden Tonica schalten zu können, daher denn auch schon die späteren Griechen ihre Tonleitern auf alle Stufen der chromatischen Skala transponierten. Für die Sänger haben nun solche Transpositionen gar keine Schwierigkeit, sie können eben mit jedem Grundtone anfangen und finden überall in ihrer Stimme die Tonstufen, die dann folgen. Aber schwieriger war die Sache für die musikalischen Instrumente, namentlich für diejenigen, welche überhaupt nur gewisse feste Tonstufen besitzen. Die Schwierigkeit fällt aber auch selbst für diejenigen Instrumente nicht ganz fort, welche, wie die Streichinstrumente, zwar jede Tonstufe hervorbringen können, bei denen aber der Lernende zunächst auf die mechanische Einübung der Finger angewiesen ist, um die Tonstufen richtig zu treffen, und erst durch eine vollendete Übung des Spieles die Fähigkeit erlangt, jeden Ton sicher spielen zu können, wie ihn das Ohr fordert.

Indessen auch für die Instrumente war das griechische System noch nicht mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, so lange man keine Ausweichungen in entferntere Tonarten ausführte, und sich mit wenigen Versetzungszeichen begnügte. Bis zum Anfange des 17. Jahrhunderts begnügte man sich mit zwei Erniedrigungszeichen, um die Noten B und Es zu gewinnen, und dem Zeichen # für Fis, Cis, Gis, um die Leittöne für die Tonica G, D und A zu haben. Man vermied aber die enharmonisch ähnlichen Töne Dis, Ais, As, Des, Ges anzuwenden. Mit Hilfe des B statt H konnte man jedes Tongeschlecht nach seiner Subdominante transponieren; andere Transpositionen machte man nicht.

Im Pythagoräischen Systeme, welches bis Zarlino im 16. Jahrhundert seine Herrschaft über die Theorie behielt, stimmte man nur nach Quinten, also von C in Quinten aufwärts gehend:

                                    C     G     D     A     E     H     Fis     Cis
                                      Gis        Dis  Ais  Eis   His.
Wenn wir immer um zwei Quinten aufwärts und um eine Oktave zurückgehen, so ist ein solcher Schritt  gleich einer großen Secunde. Das gibt die Noten                                                     C         D         E         Fis         Gis         Ais         Bis
                                                   1                                  .
Gehen wir von C aus abwärts in Quinten, so erhalten wir die Tonreihe                                                 C         F         B         Es         As         Des         Ges         Ces                                         Fes     Bb       Eses      Ases     Deses. Oder wenn wir immer um zwei Quinten abwärts und dann um sine Oktave hinaufgehen, erhalten wir die Töne                 C         B         As         Ges         Fes         Eses         Deses
                1                                        
Nun ist das Intervall  oder abgekürzt:
 


Es ist also der Ton His um das kleine Intervall 74/73 höher als die Oktave von C, und der Ton Deses ist um eben so viel niedriger als die untere Oktave von C. Wenn wir nun von C und Deses in reinen Quinten aufwärts schreiten, findet sich derselbe konstante Unterschied zwischen

C und Deses
G und Ases
D und Eses
A und Bb
E und Fes
H und Ces
Fis und Ges
Cis und Des
Gis und As
Dis und Es
Ais und B
Eis und F
Eis und C.
Die links stehenden Töne sind alle um 74/73 höher als die rechts stehenden. Unsere Notenschrift, deren Prinzipien sich noch vor der Feststellung des modernen Tonsystems entwickelt haben, hat die Unterschiede der rechts und links stehenden Töne festgehalten. Für die Praxis auf Instrumenten mit festen Tonstufen wurde aber die Unterscheidung so nahe liegender Tonstufen unbequem und man suchte sie zu verschmelzen. Dies führte nach mancherlei unvollkommeneren Versuchen, bei denen man einzelne Intervalle mehr oder weniger veränderte, um die anderen rein zu erhalten, sogenannten ungleichschwebenden Temperaturen, endlich zu dem System der gleichschwebenden Temperatur, bei welcher man die Oktave in 12 ganz gleich große Tonstufen einteilte. Wir haben gesehen, daß man vom C durch 12 reine Quinten zum Hiskommt, welches sich von dem C nur um etwa 1/5 einer halben Tonstufe, nämlich das Intervall 74/73 unterscheidet. Ebenso gelangt man von C durch 12 Quinten abwärtsgehend zum Deses, welches um eben so viel tiefer als C ist, wie His höher ist. Setzt man also C = His = Deses, und verteilt die kleine Abweichung von 74/73 auf alle 12 Quinten jedes Zirkels gleichmäßig, so wird jede Quinte um etwa 1/60 einer halben Tonstufe unrein, eine Abweichung, die allerdings sehr klein ist. Dadurch ist alle Verschiedenheit der Tonstufen innerhalb einer Oktave auf die zwölf Stufen zurückgeführt, wie wir sie in unseren modernen Tastaturinstrumenten haben.

Die Quinte des gleichschwebenden Systemes ist in möglichst kleinen ganzen Zahlen annähernd ausgedrückt gleich . Ihre Anwendung statt der reinen Quinte wird in der Tat in den seltensten Fällen einen Anstand erleiden können. Der Grundton mit seiner temperierten Quinte zusammen angeschlagen, gibt eine Schwebung in der Zeit, wo die Quinte 4421/2 Schwingungen macht. Da das eingestrichene a1 440 Schwingungen in der Secunde macht, so muß die temperierte Quinte d1 — a1 ziemlich genau eine Schwebung in der Secunde geben. Das würde bei lang ausgehaltenen Tönen allerdings schon bemerkt werden können, ist aber nicht gerade störend; bei schneller Bewegung haben solche Schwebungen gar nicht Zeit zu Stande zu kommen. Noch weniger stören sie in tieferen Lagen, wo die Schwebungen in dem Verhältnis langsamer werden als die absoluten Schwingungszahlen abnehmen. In den höheren Lagen aber werden sie allerdings auffälliger; d'" — a'" gibt 4 Schwebungen, a'" — e'" 6 Schwebungen in der Secunde; indessen so hohe Akkordlagen werden selten in langsamen Noten vorkommen, meist nur in schneller Bewegung. Die Quarten des gleichschwebend temperierten Systems sind  Eine Schwebung geschieht in der Zeit, wo der tiefere Ton der Quarte 2211/4 Schwingungen macht. Die Quarte a — d1 macht also eine Schwebung in der Secunde, wie die Quinte d1 — a1. Die reinen Konsonanzen also, welche das Pythagoräische System beibehält, werden in der gleichschwebenden Temperatur nicht in einer wesentlich in Betracht kommenden Weise verschlechtert. Und in der melodischen Folge der Töne ist das Intervall  in der eingestrichenen Oktave nach Preyer's Versuchen (s. S. 242) gerade an der Grenze der überhaupt unterscheidbaren Unterschiede der Tonhöhe. In der zweigestrichenen Oktave wäre es schon gut erkennbar, in den ungestrichenen oder noch tieferen Oktaven dagegen nicht zu unterscheiden.

Die Terzen und Sexten der gleichschwebenden Temperatur liegen der reinen näher als die Pythagoräischen.
 

  Rein Gleichschwebend Pythagoräisch
Große Terz . . .
Kleine Sexte . . .
Kleine Terz . . .
Große Sexte . . .
Halber Ton . . .

 

Die durch die Obertöne bewirkte Dissonanz fällt deshalb bei den gleichschwebenden Terzen etwas milder aus als bei den Pythagoräischen, aber ihre Kombinationstöne sind wohl noch unangenehmer. Für die Pythagoräischen Terzen c' — e' und e' — g' sind die Kombinationstöne Cis und H1, beide um einen halben Ton verschieden von dem Kombinationstöne C, der bei reiner Stimmung von beiden Terzen hervorgebracht wird. Im Mollakkord e' — g' — h' sind die Kombinationstöne der Pythagoräischen Terzen H1 und Gis; der erste paßt gut, sogar besser als der Kombinationston C, der bei reiner Stimmung hervortritt. Der zweite Kombinationston Gis dagegen gehört nicht dem Mollakkorde von E, sondern dem Durakkorde an. Da aber von den beiden Kombinationstönen der reinen Stimmung C und G auch einer falsch ist, so ist in dieser Beziehung die Pythagoräische Stimmung nicht gerade im Nachteil. Die Kombinationstöne der gleichschwebenden Terzen liegen nun zwischen denen der reinen und denen der Pythagoräischen Terzen um weniger als einen halben Ton von denen der reinen Temperatur entfernt; sie entsprechen also keiner möglichen Modulation, keinem Tone der chromatischen Skala, keiner Dissonanz, die durch irgend eine Melodieführung eintreten könnte, sie klingen eben einfach verstimmt und falsch.

Diese schlechten Kombinationstöne sind mir immer das Quälendste gewesen in der Harmonie der gleichschwebenden Temperatur; namentlich wenn in hoher Lage nicht zu schnelle Terzengänge gespielt werden, bilden sie eine abscheuliche Art Grundbaß dazu, der um so unangenehmer ist, als er dem richtigen Grundbaß ziemlich nahe kommt und so klingt, als würde dieser von einem ganz verstimmten Instrumente ausgeführt. Am deutlichsten hört man sie an dem Harmonium und an Violinen. Hier bemerkt sie auch jeder Musiker und jeder geübte musikalische Dilettant sogleich, wenn man ihn darauf aufmerksam macht. Wenn man sich aber erst gewöhnt hat sie zu hören, treten sie auch auf dem Klavier hervor. In der griechischen Stimmung fallen die Kombinationstöne mehr so, als wenn jemand absichtlich Dissonanzen dazu spielte. Was von diesen beiden Übeln das geringere sei, wage ich nicht zu entscheiden. In tieferer Lage, wo man die zu tief liegenden Kombinationstöne schwer oder gar nicht hört, verdienen jedenfalls die gleich-schwebenden Terzen den Vorzug vor den griechischen, weil sie weniger rauh sind, weniger Schwebungen geben. In hoher Lage dagegen wird ihr Vorzug durch die Kombinationstöne vielleicht wieder aufgehoben. Jedenfalls ist aber das gleichschwebende System alles zu leisten im Stande, was das Pythagoräische leistete, und zwar mit weniger Mitteln.

C. E. Naumann2), der neuerlich das Pythagoräische System dem gleichschwebenden gegenüber verteidigt hat, legt das Hauptgewicht seiner Gründe darauf, daß die halben Töne, welche den aufwärts steigenden Leitton von der Tonica und die absteigende kleine Septime von der Terz des Auflösungsdreiklangs trennen, im Pythagoräischen System kleiner sind, nämlich 21/20, als im gleichschwebenden, wo sie 18/17 betragen; am größten sind sie in der reinen Stimmung, nämlich 16/15 Während nun in der gleichschwebenden Temperatur zwischen f und g ein einziger Ton liegt, der bald als fis Leitton für g, bald als ges eine nach f sich auflösende Septime darstellt, so wird in der Pythagoräischen Stimmung ges etwas tiefer als fis; es nähert sich also der Halbton derjenigen Seite, nach welcher er sich in regelmäßiger Fortschreitung aufzulösen hat, und die Tonhöhe würde für die Richtung der Auflösung bezeichnend sein. Aber wenn auch der Leitton eine wichtige Rolle in den Modulationen spielt, so ist es doch wohl klar, daß wir nicht berechtigt sind, bloß um ihn seiner Auflösung näher zu rücken, die betreffende Tonstufe willkürlich zu verändern. Wir würden sonst keine Grenze finden, ihn dem Auflösungston immer noch näher und näher zu rücken, wie im enharmonischen Geschlechte der Griechen. Wenn man aber wirklich von dem Pythagoräischen halben Ton, der etwa 4/5 des natürlichen beträgt, auf einen noch kleineren von 3/5 etwa  herabgeht, so klingt ein solcher Leitton schon ganz unnatürlich. Wir haben schon früher gesehen, wie der Charakter des Leittons wesentlich davon abhängt, daß es derjenige Ton der Skala Ist, der die schwächste Verwandtschaft zur Tonica hat, dessen Stimmung deshalb am unsichersten ist, und am ehesten etwas verändert werden kann. Wir dürfen also gerade von einem solchen Ton am allerwenigsten das Prinzip für die Einrichtung unserer Tonleiter hernehmen.
 
 

2) Über die verschiedenen Bestimmungen der Tonverhältnisse. Leipzig 1858.

Der Hauptfehler unserer gegenwärtigen temperierten Stimmung liegt also nicht in den Quinten; denn deren Unreinheit ist wirklich nicht der Rede wert, und macht sich auch in Akkorden kaum bemerklich. Der Fehler liegt vielmehr in den Terzen, und zwar. ist er nicht veranlaßt dadurch, daß man die Terzen durch eine Folge unreiner Quinten bestimmt hat, sondern es ist der alte Fehler des Pythagoräischen Systems, daß man überhaupt die Terzen mittels einer aufsteigenden Folge von vier Quinten bestimmt. Die reinen Quinten sind hier sogar noch schlimmer als die unreinen. Die natürliche Verwandtschaft der Terz zur Tonica beruht in dem Schwingungsverhältnis 4/5, sowohl melodisch als harmonisch. Jede andere Terz kann nur ein mehr oder weniger ungenügendes Surrogat für die natürliche Terz sein. Das einzige richtige Tollsystem ist dasjenige, welches in der von Hauptmann vorgeschlagenen Weise die durch Quinten hervorgebrachten Töne von den durch Terzen hervorgebrachten unterscheidet. Da es nun für eine große Zahl von theoretischen Fragen von Wichtigkeit ist, Beobachtungen anstellen zu können an Tönen, welche wirklich die theoretisch geforderten natürlichen Intervalle mit einander bilden, um nicht getäuscht zu werden durch die Unvollkommenheiten der gleichschwebenden Temperatur, so habe ich versucht, ein Instrument herstellen zu lassen, welches im Stande ist durch alle Tonarten in reinen Intervallen modulieren zu können.

Müßten wir wirklich das System der Töne, wie es Hauptmann unterscheidet, in ganzer Vollständigkeit herstellen, um reine Intervalle in allen Tonarten zu haben, so würde es freilich kaum möglich sein, die Schwierigkeit der Aufgabe zu bewältigen. Glücklicher Weise läßt sich eine sehr große und wesentliche Vereinfachung darin erzielen mittels des Kunstgriffs, den ursprünglich die arabisch-persischen Musiker erfunden haben, und den wir oben S. 457 schon erwähnten.

Wir haben gesehen, daß die durch Quinten erzeugten und mit ungestrichenen Buchstaben c — g — d — a u. s. w. bezeichneten Töne des Hauptmann'schen Systems um das Intervall 81/80 oder ein Pythagoräisches Komma höher sind, als die durch Terzen erzeugten gleichnamigen Töne c — g — d — a. Wir haben ferner gesehen, daß, wenn wir von h durch eine Reihe von 12 Quinten herabgehen bis ces, der letztere Ton, in die richtige Oktave verlegt, annähernd um das Intervall 74/73 tiefer ist als h. Es ist also

h:h = 81:80

h:ces = 74:73.

Diese beiden Intervalle sind nahehin gleich; h ist etwas höher als ces, aber nur im genauen Verhältnis                                 ces:h = 32768:32805 oder angenähert nach der Reduktion durch Kettenbrüche: ces:h = 886:887. Der Unterschied zwischen ces und h ist also etwa so groß, wie zwischen der reinen und temperierten Quinte desselben Tons.

Nun ist h die reine Terz von g; gehen wir von g durch Quinten rückwärts bis ces

                    g — c — f — b — es — as — des — ges — ces so müssen wir dazu 8 Quintenschritte machen. Machen wir diese Quinten alle etwas zu groß, nämlich um 1/8 des sehr kleinen Intervalls 887/886, so wird ces = h werden. Da nun das Intervall 887/886 an der Grenze der wahrnehmbaren Tonunterschiede liegt, so wird der achte Teil dieses Intervalls gar nicht mehr in Betracht kommen, und wir können also folgende Töne des Hauptmann'schen Systems identifizieren, indem wir von ces = h in Quinten fortschreiten: fes = e
ces = h
ges = fis
des = cis
as = gis
es = dis
b = ais
Unter den musikalischen Instrumenten ist das Harmonium wegen seiner gleichmäßig anhaltenden Töne, wegen der Schärfe ihrer Klangfarbe, und wegen der ziemlich deutlichen Kombinationstöne besonders empfindlich gegen Ungenauigkeiten der Stimmung. Dasselbe läßt aber eine sehr feine und dauerhafte Stimmung seiner Zungen zu, so daß es mir besonders günstig erschien zu den Versuchen über ein reineres Tonsystem. Ich habe deshalb an einen. Harmonium der größeren Art3) mit zwei Manualen ein Register Zungen, welches dem unteren Manuale, und eines, welches dem oberen angehört, in der Weise stimmen lassen, daß ich mit Benutzung der Töne beider Manuale die Durakkorde von Fes-Dur bis Fis-Dur rein herstellen konnte. Die Verteilung der Töne ist folgende:

Das Instrument gibt also 15 Durakkorde und ebenso viele Mollakkorde, in denen die großen Terzen ganz rein, die Quinten aber um 1/8 desjenigen Intervalls zu hoch sind, um welches sie in der gleichschwebenden Temperatur zu niedrig sind. Man hat im unteren Manuale die ganze Tonleiter Ces-Dur und G-Dur vollständig. im oberen die ganze Leiter von Es-Dur und H-Dur. Es sind überhaupt alle Durtonarten zwischen Ces-Dur und H-Dur vollständig vorhanden, und man kann sie alle rein in der natürlichen Tonleiter ausführen; will man aber einerseits über H-Dur, andererseits über Ces-Dur hinaus modulieren, so muß man eine wirkliche enharmonische Verwechselung zwischen H und Ces ausführen, wobei sich die Tonhöhe merklich ändert (um ein Komma 81/80). Von Molltonarten ist auf dem unteren Manual H- oder Ces-Moll vollständig, auf dem oberen Dis- oder Es-Moll 4).

3) Von den Herren J. und P. Schiedmayer in Stuttgart.

4) Die Einstimmung des Instrumentes hat sich als sehr leicht ergeben. Herr Schiedmayer kam gleich beim ersten Versuch nach folgender Vorschrift damit zu Stande: Von a aasgehend, wurden auf dem unteren Manuale die Quinten d — a, g — d, c — g ganz rein gestimmt, wodurch man die Töne c, g, d erhielt. Dann die Durakkorde c — e — g, g — h — d, d — fis — a, was die drei Töne e, h, fis ergab, endlich die Quinte fis — cis, um cis zu erhalten. Indem man nun e = fes, h = ces, fis = ges, cis = des setzt, stimmt man die Durakkorde fes — as — ces, ces — es — ges, ges — b — des mit reinen Terzen, bis man keine Schwebungen mehr hört, endlich die Qninte b — f. Dann sind alle Töne des unteren Manuals bestimmt. Im oberen stimmt man zunächst e, die Quinte des unteren a, und die drei Durakkorde e — gis — h, h — dis —fis, fis — ais — cis und die Quinte ais — eis. Dann indem man gis = as, dis = es, ais = b, eis = f setzt, noch die Terzen in den Durakkorden:as — c — es, es — g — b, b — d — f, und die Quinte d — a. Dann sind alle Töne bestimmt. Dies Stimmen ist viel leichter, als wenn man eine Reihe gleich temperierter Töne herstellen soll.
 
 

Für die Molltonarten ist die Reihe dieser Töne nicht ganz so genügend, wie für die Durtonarten. Da nämlich die Dominante der Molltonarten Quinte eines Mollakkordes und Grundton eines Durakkordes ist, die Mollakkorde aber der Regel nach zu schreiben sind wie: a — c — e, die Durakkorde wie: fes — as — ces, so muß die betreffende Dominante im ersten Akkorde mit einem unterstrichenen Buchstaben, im zweiten ohne Strich geschrieben werden können, d. h. sie muß einer von den enharmonisch zu verwechselnden Tönen sein, wie in dem gegebenen Beispiele, wo e mit fes identisch ist. Also haben wir auf dem Instrumente vollständig rein die Molltonarten:

                                                                1) a- oder bb-Moll: d — f — a — c — e
                                                                                                                       fes — as — ces;
 
                                                                2) e- oder fes-Moll; a — c — e— g — h
                                                                                                                         ces — es — ges;
 
                                                                3) h- oder ces-Moll: e— g — h — d — fis
                                                                                                                         ges — b —des;
 
                                                                4) fis- oder ges-Moll: h — d — fis — a — cis
                                                                                                                               des — f — as;
 
                                                                5) cis- oder des-Moll: fis — a — cis — e — gis
                                                                                                                                   as — c — es;
 
                                                                6) gis- oder as-Moll: cis — e — gis — h — dis
                                                                                                                                 es — g — b;
 
                                                                7) dis- oder es-Moll: gis — h — dis — fis — ais
                                                                                                                                    b — d — f;

                                                                8) ais- oder b-Moll: dis — fis — ais — cis — eis
                                                                                                                                    f — a — c.

Von diesen sind die sechs letzten Grundtöne Ces bis B auch gleich zeitig mit der Durtonleiter versehen. Vollständige Molltonleiter finden wir also auf allen Stufen der h-Durtonleiter und e-Durtonleiter vollständige Moll- und Durskalen auf allen Stufen der h-Durtonleiter, mit Ausnahme von e.

Ich hatte bei vorläufigen Versuchen an einem anderen Harmonium, wo mir nur innerhalb einer zwei Registern gemeinsamen Oktave die doppelten Töne zu Gebote standen, erwartet, daß man es sehr wenig merken würde, wenn die übrigen Molltonarten entweder mit einer etwas zu hohen pythagoräischen Septime versehen würden, oder vielleicht selbst die an sich schon etwas getrübten Mollakkorde in pythagoräischer Stimmung ausgeführt würden. Wenn man vereinzelte Mollakkorde anschlägt, merkt man den Unterschied auch nur wenig. Aber wenn man sich durch längere Reihen rein gestimmter Akkorde bewegt, und das Ohr an deren Klang gewöhnt hat, so wird man gegen einzelne eingemischte unreinere so empfindlich, daß sie eine recht merkliche Störung hervorbringen.

Am wenigsten stört es noch, wenn wir die Septime, den Leitton, in pythagoräischer Stimmung nehmen, da diese, wenigstens in neueren Kompositionen, fast nur im Dominantseptimenakkorde oder anderen dissonanten Akkorden vorkommt. In einem reinen Durakkorde freilich klingt sie sehr hart. In einem dissonanten Akkorde stört sie weniger, namentlich da durch die etwas höhere Lage ihre Natur als Leitton der Tonart mehr hervorgehoben wird. Dagegen habe ich Mollakkorde mit pythagoräischen Terzen entschieden unerträglich gefunden, wenn sie zwischen rein gestimmte Dur- und Mollakkorde eingemischt werden. Läßt man also die hohe Septime im Dominantseptimenakkorde zu, so lassen sich noch folgende Molltonarten bilden:

                    9) d-Moll: g — b — d — f — a — cis — e,

                    10) g-Moll: c — es — g — b — d — fis — a.;

                    11) c-Moll: f — as — c — es — g — h — d;

                    12) f-Moll: b — des — f —as — c — e — g;

                    13) b-Moll: es — ges — b — des — f — a, — c;

                    14) es-Moll: as — ces — es — ges — b — d — f.

In der vorigen Reihe hatten wir schon b- und es-Moll. So schließt sich die Reihe der Molltonarten auch wieder derartig zusammen, daß bei enharmonischer Verwechselung ihre Enden in einander übergehen.

In den meisten Fällen lassen sich. musikalische Satze, welche man in diesem Stimmungssystem auszuführen wünscht, so transponieren, daß man nicht gezwungen ist, enharmonische Verwechselungen zu machen, wenn die Breite ihrer Modulationen zwischen verschiedenen Tonarten nicht zu groß ist. Kann man enharmonische Verwechselungen nicht vermeiden, so muß man sie an solche Stellen zu bringen suchen, wo zwei nicht verwandte Akkorde auf einander folgen. Am besten sind sie zwischen dissonanten Akkorden zu machen. Natürlich muß mindestens eine enharmonische Verwechselung Jedes Mal gemacht werden, wo ein Satz durch den ganzen Quintenkreis herumgeht, von C-Dur also etwa bis His-Dur. Aber Hauptmann hat wohl recht, wenn er einen solchen Kreislauf der Modulation als eine unnatürliche Künstelei betrachtet, die nur durch die Ungenauigkeit unseres Tonsystems mit temperierter Stimmung überhaupt möglich ist. Ein solches Verfahren muß jedenfalls im Hörer das Gefühl für die Einheit der Tonica zerstören; denn wenn auch His der Tonhöhe nach dem C sehr nahe liegt, oder ihm unrechtmäßiger Weise sogar ganz gleich gemacht wird, so kann im Hörer doch das Gefühl für die vorige Tonica nur dadurch wieder hergestellt werden, daß er die Modulationsschritte wieder zurück macht, die er anfangs vorwärts gemacht hatte. Die Erinnerung an die absolute Tonhöhe der ersten Tonica C kann er nach längeren Modulationen, wenn er in His angekommen ist, unmöglich noch so genau bewahren, daß er beide als gleich anerkennen könnte. Für ein feines künstlerisches Gefühl muß doch His immer eine Tonica sein, die fern ab von C auf dessen Dominantseite liegt; oder, was wahrscheinlicher ist, es wird bei einer so weiten Modulation gänzliche Verwirrung des Gefühls für die Tonalität eingetreten sein, und es wird nachher ganz gleichgültig sein, in welcher Tonart das Stück endet. Überhaupt ist der übermäßige Gebranch frappanter Modulationen ein billiges und leicht zu handhabendes Mittel der neueren Tonsetzer, um ihre Sätze pikant und farbenreich zu machen. Aber von Gewürz kann man nicht leben, und die Folge des unruhigen Modulierens ist fast. immer, daß der künstlerische Zusammenhang des Satzes aufgehoben wird. Man darf nicht vergessen, daß die Modulationen nur ein Mittel sein dürfen, um durch den Gegensatz das Beharren in der Tonica und die Rückkehr in diese hervorzuheben, oder um einzelne besondere Ausdruckseffekte zu erreichen.

Da die Instrumente mit zwei Manualen zu jedem Manual zwei besondere Zungenreihen zu haben pflegen, von denen für die bisher beschriebene Stimmung nur je eine in Ansprach genommen war, so habe ich die beiden anderen (ein 8füssiges und ein 16füssiges Register) auf die gewöhnliche Weise in gleichschwebender Temperatur stimmen lassen, wodurch die Vergleichung der Wirkungen dieser Stimmung und der reinen sehr leicht wird, indem man nur die Registerzüge umzustellen hat, um denselben Akkord in der einen oder anderen zu hören5).

5) Vorschläge zu Anordnungen, welche die Tonreihe dieses Stimmungssystems vollständiger machen, und die Spielart wesentlich erleichtern, indem sie nur ein Manual nötig machen, sind in Beilage Nro. XVII. gegeben.
 

Was nun die musikalischen Wirkungen der reinen Stimmung betrifft, so ist der Unterschied zwischen dieser und der gleichschwebenden oder der griechischen Stimmung nach reinen Quinten doch sehr bemerklich. Die reinen Akkorde, namentlich die Durakkorde in ihren günstigen Lagen, haben trotz der ziemlich scharfen Klangfarbe der Zungentöne einen sehr vollen und gleichsam gesättigten Wohlklang; sie fließen in vollem Strome ganz ruhig hin, ohne zu zittern und zu schweben. Setzt man gleichschwebende oder pythagoräische Akkorde daneben, so erscheinen diese rauh, trübe, zitternd und unruhig. Der Unterschied ist groß genug, daß Jeder, er mag musikalisch gebildet sein oder nicht, ihn gleich bemerkt. Septimenakkorde in reiner Stimmung ausgeführt, haben ungefähr denselben Grad von Rauhigkeit, wie ein gewöhnlicher Durakkord in gleicher Tonhöhe und temperierter Stimmung. Am größten und unangenehmsten ist die Differenz zwischen natürlichen und temperierten Akkorden in den höheren Oktaven der Skala, weil hier die falschen Kombinationstöne der temperierten Stimmung sich merklicher machen, und weil die Zahl der Schwebungen bei gleicher Tondifferenz größer wird, und die Rauhigkeit sich viel mehr verstärkt, als in tieferer Lage.

Ein zweiter Umstand von wesentlicher Wichtigkeit ist, daß die Unterschiede des Klanges zwischen Durakkorden und Mollakkorden, zwischen verschiedenen Umlagerungen der Akkorde gleicher Art, zwischen Konsonanzen und Dissonanzen viel entschiedener und deutlicher hervortreten, als in der gleichschwebenden Stimmung. Die Modulationen werden deshalb viel ausdrucksvoller, als sie es gewöhnlich sind. Manche feine Schattierungen werden fühlbar, die sonst fast verschwinden, namentlich die auf den Umlagerungen der Durakkorde beruhenden, während andererseits die Intensität der schärferen Dissonanzen durch den Kontrast mit den reinen Akkorden erheblich gesteigert wird. Der verminderte Septimenakkord z. B., der in der neuesten Musik so viel gebraucht wird, streift bei reiner Stimmung der übrigen Akkorde fast an die Grenze des Unerträglichen.

Die modernen Musiker, welche mit seltenen Ausnahmen niemals andere Musik gehört haben als solche, die in temperierter Stimmung ausgeführt ist, gehen meist sehr leicht über die Ungenauigkeiten der temperierten Stimmung hinweg. Die Ungenauigkeiten der Quinten sind sehr klein, das ist ganz richtig, und von den Terzen pflegt man zu sagen, daß sie eine weniger vollkommene Konsonanz sind, als die Quinte, und deshalb weniger empfindlich gegen Verstimmung, als die Quinten. Das Letztere ist wieder richtig, so lange es auf einstimmige Musik beschränkt wird, in welcher die Terzen nur als melodische Intervalle vorkommen, nicht als harmonische. In einem konsonierenden Dreiklange aber ist jeder Ton gleich empfindlich gegen Verstimmung, wie Theorie und Erfahrung übereinstimmend zeigen, und der schlechte Klang der temperierten Dreiklänge beruht wesentlich auf den unreinen Terzen.

Darüber kann keine Frage sein, daß das System der temperierten Stimmung durch seine Einfachheit ganz außerordentliche Vorzüge für die Instrumentalmusik hat, daß jedes andere System einen außerordentlich viel komplizierteren Mechanismus der Instrumente bedingen und ihre Handhabung beträchtlich erschweren würde, und daß daher die hohe Ausbildung der modernen Instrumentalmusik nur unter der Herrschaft des temperierten Stimmungssystems möglich geworden ist. Aber man muß nicht glauben, daß der Unterschied zwischen dem temperierten und dem natürlichen System eine mathematische Spitzfindigkeit sei, die keinen praktischen Wert habe. Daß dieser Unterschied auch für die Ohren selbst wenig musikalischer Leute auffallend genug ist, zeigt die wirkliche Beobachtung an einem passend gestimmten Instrumente augenblicklich. Daß übrigens die älteren Musiker, welche noch an die reinen Intervalle des damals sehr sorgfältig eingeübten Gesanges gewöhnt waren, ebenso fühlten, sieht man sogleich, wenn man einen Blick auf musikalische Schriften aus der zweiten Hälfte des 17. und der ersten des 18. Jahrhunderts wirft, in welcher Zeit über die Einführung der temperierten Stimmungen verschiedener Art hin und her gestritten wurde, wo man Methoden über Methoden ausdachte und wieder verwarf, um der Schwierigkeit zu entgehen, und die künstlichsten Formen für Instrumente ersann, um die enharmonischen Unterschiede der Tonstufen praktisch ausführen zu können. Praetorius6) berichtet von einem Universalclavicymbel, welches er bei Kaiser Rudolph's II. Hoforganisten in Prag sah, und das in 4 Oktaven 77 Claves hatte, also 19 in der Oktave, indem nicht nur die Obertasten alle verdoppelt waren, sondern auch noch zwischen e und f, sowie zwischen h und c Töne eingeschoben waren. In den älteren Stimmungsvorschriften wurde eine Anzahl Töne gewöhnlich nach Quinten gestimmt, die etwas unter sich schwebten, dazwischen andere als reine große Terzen. Die Intervalle, auf welche die Fehler sich zusammenhäuften, hießen die Wölfe. Praetorius sagt: "es ist zum. Besten, daß der Wolf mit seinem widrigen Heulen im Walde bleibe und unsere harmonicas concordantias nicht interturbire." Auch Rameau, der später am meisten zur Einführung der gleichschwebenden Temperatur beigetragen hat, verteidigte im Jahre 17267) noch eine andere Art der Stimmung, bei welcher die Terzen der gebräuchlicheren Tonarten auf Kosten der Quinten und auf Kosten der ungebräuchlicheren Tonarten rein gehalten wurden. Man stimmte nämlich von C aus in Quinten aufwärts, die man aber zu klein machte, so daß die vierte Quinte, statt E zu sein, die reine Terz von C, nämlich E = Fes wurde. Dann ebenso weiter, bis die vierte Quinte statt auf As auf As, die reine Terz des Fes fiel. Die vier Quinten zwischen diesem As und C mußte man aber notwendig zu groß machen, weil nicht As, sondern As um vier reine Quintenstufen von C entfernt ist. Diese Stimmung gibt rein die Terzen C — E, G — H, D — Fis, E — Gis, wenn man aber von E nach der Oberdominantseite weiter seht, oder von C nach der Unterdominantseite, findet man Terzen, die immer schlechter und schlechter werden; der Fehler der Quinten ist etwa drei Mal so groß als in der temperierten Stimmung. Dieses System konnte d'Alembert noch 1762 als das gewöhnlich in Frankreich gebrauchte bezeichnen gegenüber dem gleichschwebenden, welches Rameau später vorgeschlagen hatte. Eine lange Reihe anderer Stimmungssysteme findet man bei Marpurg8) aufgezählt. Da man sich nun einmal beim Gebrauche solcher Instrumente, die nur 12 Töne in der Oktave haben, dazu genötigt sah, eine Reihe falscher Intervalle zu ertragen, und sich an diese gewöhnen mußte, so war es freilich besser, wenn man sich entschloß, die wenigen reinen Terzen, die man noch in der Skala hatte, ganz aufzugeben und alle Intervalle gleicher Art gleich unrein zu machen. Natürlich stört es viel mehr, wenn man neben reinen Intervallen sehr verstimmte zu hören bekommt, als wenn alle mittelmäßig verstimmt sind, und der Kontrast der reinen Intervalle ganz fortfällt. Über den Vorzug der gleich-schwebenden Temperatur vor den anderen sogenannten ungleichschwebenden Temperaturen kann also kein Zweifel sein, sobald man sich praktisch auf 12 Tonstufen innerhalb der Oktave beschränken muß, und so ist diese Stimmungsweise schließlich auch die allein herrschende geworden. Nur die Streichinstrumente mit ihren vier reinen Quinten C—G—D—A—E weichen noch davon ab.
 
 

6) Syntagma musicum, II, Cap. XI, p. 63.

7) Nouveau Systeme de Musique, Chap. XXIV.

8) Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau 1776.
 

In Deutschland fing man noch früher als in Frankreich an, die gleichschwebende Temperatur zu gebrauchen. Matheson in dem 1725 erschienenen zweiten Bande seiner Critica Musica nennt Neidhard und Werckmeister als die Erfinder dieser Temperatur9). Sebastian Bach hat sie für das Klavier schon angewendet, wie man ans einer von Marpurg berichteten Äußerung Kirnberger's schließen muß, welcher sagt, als Schüler vom älteren Bach habe er dessen Klavier stimmen müssen, und habe sämtliche Terzen etwas zu hoch machen müssen. Sebastian's Sohn Emanuel, der als Klavierspieler berühmt war und 1753 ein seiner Zeit maßgebendes Werk "über die wahre Art das Klavier zu spielen" herausgegeben hat, verlangt für dieses Instrument durchaus die gleichschwebende Temperatur.

9) Seite 162 des angeführten Werkes. Ich finde bei Forkel folgende Werke beider Autoren angeführt: Neidhard, Königl. Preußischer Kapellmeister, Die beste und leichteste Temperatur des Monochordi. Jena 1706. Sectio canonis harmonici. Königsberg 1724. Werckmeister, Organist zu Quedlinburg, geb. 1645. Musikalische Temperatur. Frankfurt und Leipzig 1691.

Die älteren Versuche, mehr als 12 Tonstufen in die Skala einzuführen, haben nichts Brauchbares ergeben, weil sie von keinem richtigen Prinzipe ausgingen. Sie schlossen sich immer an das griechische System des Pythagoras an, und glaubten, es komme nur darauf an, zwischen cis und des, zwischen fis und ges u. s. w. einen Unterschied zu machen. Das genügt aber keineswegs und ist auch nicht immer richtig. Nach unserer Bezeichnungsweise läßt sich cis dem des gleich setzen, aber wir müssen das durch Quinten gefundene cis von dem durch ein Terzverhältnis gefundenen cis unterscheiden. Deshalb haben jene Versuche mit Instrumenten von zusammengesetzteren Tastaturen bisher kein Resultat erzielt, welches der darauf verwendeten Mühe und der Erschwerung des Spieles entsprochen hätte. Das einzige derartige Instrument, welches jetzt noch gebraucht wird, ist die Pedalharfe à double mouvement, an der man durch Fußtritte die Stimmung ändern kann.

Außer der Gewöhnung und dem Mangel eines Vergleiches mit reineren Intervallen kommen dem Gebrauche der gleichschwebenden Temperatur noch einige andere Umstände zu Hilfe.

Zunächst ist nämlich zu bemerken, daß die Störungen in der temperierten Skala, welche von Schwebungen abhängen, desto weniger merklich sind, je schneller die Bewegung und je kürzer die Dauer der einzelnen Noten ist. Wenn die Note so kurz ist, daß nur einige wenige Schwebungen während ihrer Dauer zu Stande kommen können, so hat das Ohr nicht Zeit deren Anwesenheit zu bemerken. Die Schwebungen, welche ein temperierter Durdreiklang. hervorruft, sind folgende:

1. Schwebungen der temperierten Quinte. Setzen wir die Schwingungszahl von a' = 440, demgemäß die von c' = 264, so gibt die temperierte Quinte c' — g' in der Secunde 11/9 Schwebung, teils mittels der Obertöne, teils mittels der Kombinationstöne. Diese Schwebungen sind in allen Fällen gut hörbar.

2. Schwebungen der beiden ersten Kombinationstöne von c' — e und e' — g' bei temperierter Stimmung; ihre Anzahl ist 52/3 in der Secunde. Diese sind bei allen Klangfarben deutlich hörbar, wenn die Tonstärke nicht zu klein ist.

3. Schwebungen der großen Terz c' — e' allein 101/2 in der Secunde, aber nur bei scharfen Klangfarben mit starken Obertönen deutlich hörbar.

4. Schwebungen der kleinen Terz e — g 17 in der Secunde, die aber meist viel schwächer als die der großen Terz sein werden, ebenfalls nur in scharfen Klangfarben deutlich.

Alle diese Schwebungen werden doppelt so schnell, wenn man den Akkord eine Oktave höher legt, halb so schnell, wenn man ihn eine Oktave tiefer legt.

Von diesen Schwebungen haben die ersten, die der temperierten Quinte, am wenigsten nachtheiligen Einfluß auf den Wohlklang. Sie sind so langsam, daß man sie in den mittleren Teilen der Skala nur bei lang aushallenden Noten überhaupt hören kann; dann bringen sie das langsame Wogen des Akkordes hervor, welches unter Umständen sich sehr gut machen kann. Am auffallendsten ist bei den milderen Klangfarben die zweite Art der Schwebungen. Nun kommen im Allegro 4/4 Takt etwa 2 Takte auf 3 Secunden. Wird der Dreiklang c' — e' — g' temperiert gestimmt als Viertelnote in diesem Takte angegeben, so kann man von den genannten Schwebungen 21/8 hören; also wenn der Ton schwach anfängt, wird er schwellen, wieder abnehmen, noch einmal schwellen, abnehmen, und dann zu Ende sein. Das wird in einem schnellen, unruhigen Tempo kaum eine Störung machen. Schlimmer wird es freilich, wenn ein solcher Akkord ein oder zwei Oktaven höher angegeben wird, und auf dieselbe Dauer der Note nun 41/4 oder 81/2 Schwebungen kommen, welche das Ohr dann schon als eine scharfe Rauhigkeit aufzufassen Zeit hat.

Aus demselben Grunde sind nun die Schwebungen dritter und vierter Art, die der Terzen, wo sie in scharfen Klangfarben deutlich hervortreten, auch in mittlerer Lage und in schnellem Tempo ziemlich störend und beeinträchtigen die Ruhe des Wohlklanges sehr wesentlich, da ihre Zahl zweimal und dreimal größer ist, als die der vorigen. Nur in weichen Klangfarben bemerkt man sie wenig, oder wenn man sie bemerkt, so sind sie überdeckt von viel stärkeren, ruhig fortklingenden Tönen, so daß sie dann nur wenig hervortreten.

Bei schnell wechselnden Noten, weicher Klangfarbe, mäßiger Intensität des Tons kommen also allerdings die Übelstände der temperierten Stimmung wenig zum Vorschein. Nun ist aber fast alle Instrumentalmusik auf schnelle Bewegung berechnet; daß ihr diese möglich ist, darin liegt ihr wesentlicher Wert der Vokalmusik gegenüber. Man könnte freilich auch die Frage aufwerfen, ob die Instrumentalmusik in diese Richtung auf schnelle Bewegung nicht auch einseitig dadurch hineingedrängt ist, daß sie bei ihrer temperierten Stimmung den vollen Wohlklang getragener Akkorde nicht in solchem Maße erreichen kann, wie gut geschulte Sänger, und sie deshalb auf diese Seite der Musik verzichten mußte.

Die temperierte Stimmung hat sich zuerst und vorzugsweise an den Klavieren entwickelt, erst von da ist sie allmählich auf die übrigen Instrumente übertragen worden. Am Klavier sind nun in der Tat die Verhältnisse besonders günstig, um ihre Mängel zu überdecken. Die Klaviertöne haben nämlich nur im ersten Augenblicke, unmittelbar nach dem Anschlage, eine große Stärke, die aber schnell sich vermindert. Ich habe schon früher erwähnt, daß deshalb auch ihre Kombinationstöne nur im ersten Augenblicke vorhanden und sehr schwer zu hören sind. Die Schwebungen, welche von den Kombinationstönen abhängen, fallen deshalb ganz weg. Die Schwebungen dagegen, welche von den Obertönen abhängen, hat man auf den neueren Klavieren gerade in den höheren Oktaven, wo sie am leichtesten nachtheilig werden, dadurch beseitigt, daß man die Obertöne der Saiten durch die Art des Anschlags sehr abgeschwächt, und die Klangfarbe sehr weich gemacht hat, wie ich das in dem fünften Abschnitte auseinandergesetzt habe. Daher sind auf dem Klaviere die Mängel der Stimmung viel weniger zu bemerken, als auf irgend einem anderen Instrumente mit ausgehaltenen Tönen, und doch fehlen sie nicht. Wenn ich von meinem rein gestimmten Harmonium zu einem Flügel hinübergehe, klingt auf dem letzteren alles falsch und beunruhigend, namentlich, wenn ich einzelne Akkordfolgen anschlage. In schnell bewegten melodischen Figuren und harpeggierten Akkorden ist es weniger unangenehm. Die älteren Musiker empfahlen daher die gleichschwebende Temperatur hauptsächlich nur für das Klavier. Matheson, indem er dies tut, erkennt für Orgeln die Vorzüge der Silbermann'schen ungleichschwebenden Temperatur an, in welcher die gewöhnlich gebrauchten Tonarten reiner gehalten sind. Emanuel Bach sagt, daß ein richtig gestimmtes Klavier das reinste unter allen Instrumenten sei, was in dem angeführten Sinne ganz richtig ist. Durch die große Verbreitung und Bequemlichkeit des Klaviers ist es später das Hauptinstrument für das Studium der Musik geworden und seine Stimmung das Muster für die übrigen Instrumente.

Dagegen sind bei den scharfen Orgelregistern, namentlich bei den Mixturen und Zungenwerken, die Mängel der temperierten Stimmung außerordentlich auffallend. Man hält es gegenwärtig für unvermeidlich, daß die Mixturregister, vollstimmig gespielt, einen Höllenlärm machen, und die Orgelspieler haben sich in ihr Schicksal gefugt. Das ist aber der Hauptsache nach nur durch die gleich-schwebende Temperatur bedingt, weil man die Quinten und Terzen zwischen den Pfeifen, die derselben Taste angehören, notwendig rein stimmen muß, sonst gibt jede einzelne Note des Registers schon Schwebungen. Wenn nun die Quinten und Terzen zwischen den Noten der verschiedenen Tasten gleichschwebend gestimmt sind, so kommen in jedem Akkord reine Quinten und Terzen mit gleichschwebenden gleichzeitig vor, wodurch ein ganz unruhiger und schwirrender Zusammenklang entsteht. Und gerade bei der Orgel wäre es so sehr leicht, durch wenige Registerzüge das Werk für jede Tonart einzustimmen, um volle wohlklingende Konsonanzen zu erhalten10).

10) Über rein gestimmte Orgeln von H. W. Poole (Silliman's American Journal of Science 1850 u. 1867) und von P. Thompson s. Beilage XVIII.

Wer nur einmal den Unterschied zwischen rein gestimmten und temperierten Akkorden gehört hat, wird nicht zweifeln, daß es für eine große Orgel der größte Gewinn wäre, wenn man die Hälfte ihrer Register, deren Unterschiede oft genug auf eine Spielerei hinauslaufen, striche und dafür die Zahl der Töne innerhalb der Oktave verdoppelte, um mit Hilfe passender Registerzüge in jeder Tonart rein spielen zu können.

Ähnlich wie auf der Orgel verhält es sich auf dem Harmonium. Die falschen Kombinationstöne der temperierten Stimmung und die zitternden Akkorde sind jedenfalls der Grund, weshalb viele Musiker diese Instrumente als falsch klingend und nervös aufregend von der Hand weisen.

Die Orchesterinstrumente können ihre Tonhöhe meist ein wenig verändern. Die Streichinstrumente sind ganz frei in ihrer Intonation, die Blasinstrumente können durch schärferes oder schwächeres Blasen den Ton ein wenig in die Höhe treiben oder sinken lassen. Sie sind zwar alle auf temperierte Stimmung berechnet, aber gute Spieler haben die Mittel den Forderungen des Ohres einigermaßen nachzugeben. Daher klingen Terzengänge auf Blasinstrumenten, von mittelmäßigen Musikern ausgeführt, oft genug verzweifelt falsch, während sie von gut gebildeten Spielern mit feinem Ohr ausgeführt, vollkommen gut klingen können.

Eine eigentümliche Sache ist es mit den Streichinstrumenten. Diese haben seit alter Zeit noch die Stimmung ihrer Saiten nach reinen Quinten beibehalten. Die Violine allein hat die reinen Quinten G — D — A — E. Bratsche und Cello geben noch die Quinte G — G dazu. Nun hat jede Tonleiter auch ihren besonderen Fingersatz, und es könnte daher wohl jeder Schüler sich so einüben, daß er jeder Tonart ihre eigene Leiter gäbe, wobei allerdings die gleichnamigen Töne verschiedener Leitern nicht gleich gegriffen werden dürften, und auch die Terz der C-Durleiter, wenn man die leere C-Saite der Bratsche als Grundton nähme, nicht auf der leeren E-Saite der Violine gespielt werden dürfte, weil diese E gibt, nicht E. Indessen gehen die neueren Violinschulen seit Spohr meist darauf aus, die Stufen der gleichschwebenden Temperatur hervorzubringen, obgleich dies vollständig schon wegen der reinen Quinten der leeren Saiten gar nicht möglich ist. Jedenfalls aber ist die bewußte Absicht der meisten gegenwärtig lebenden Violinspieler die, nur 12 Tonstufen in der Oktave zu unterscheiden. Eine einzige Ausnahme geben sie zu, daß man nämlich bei Doppelgriffen die Töne häufig etwas anders greifen müsse, als wenn man sie einzeln angibt. Aber diese Ausnahme ist entscheidend. Bei Doppelgriffen fühlt sich der einzelne Spieler verantwortlich für den Wohlklang des Intervalls, und hat es vollkommen in seiner eigenen Gewalt, die Konsonanz gut oder schlecht zu machen. Da zieht er es vor, sie rein zu machen. Jeder Violinspieler wird sich leicht von folgenden Tatsachen überzeugen können. Nachdem die Saiten einer Violine in reinen Quinten G — D — A — E gestimmt sind, suche er auf der A-Saite die Stelle, wo der Finger aufgesetzt werden muß, um dasjenige H zu erhalten,, welches die reine Quartenkonsonanz H — E gibt. Nur streiche er bei unverändertem Fingersatz dieses selbe H mit der D-Saite zusammen an. Das Intervall D — H wäre nach gewöhnlicher Betrachtungsweise eine große Sexte, aber eine pythagoräische. Um die konsonante Sexte D — B zu erhalten, muß der Spieler mit seinem Finger um eine Strecke von 13/5 Pariser Linien zurückgehen, eine Distanz, die man beim Fingersatze sehr wohl berücksichtigen kann, und die die Tonhöhe sowohl als namentlich die Schönheit der Konsonanz sehr merklich verändert.

Es ist aber klar, daß, wenn sich der einzelne Spieler verpflichtet fühlt, die verschiedenen Werte der Noten in den verschiedenen Konsonanzen zu unterscheiden, gar kein Grund dazu da ist, im Quartettspiel die schlechten Terzen der pythagoräischen Quintenfolge beibehalten zu wollen. Mehrstimmige Akkorde von mehreren Spielern im Quartett ausgeführt, klingen oft recht schlecht, während jeder einzelne von diesen Spielern Solosachen ganz hübsch und angenehm vorzutragen im Stande ist; und doch kann man andererseits in den Quartetts, welche von sehr fein ausgebildeten Spielern vorgetragen werden, in der Regel nicht behaupten, daß falsche Konsonanzen vorkämen. Ich meine nun, die einzige Erklärung davon ist die, daß geübte Spieler von feinem musikalischen Sinne auf der Violine diejenigen Töne zu greifen wissen, die sie hören wollen, und dabei nicht an die Regeln einer unvollkommenen Schule gebunden sind. Daß solche Spieler ersten Ranges in der Tat nach natürlichen Intervallen spielen, wird durch die sehr interessanten und genauen Versuche von Delezenne11) direkt erwiesen. Dieser bestimmte die Werte der einzelnen Noten der Durskala, wie sie ausgezeichnete Violinisten und Violoncellisten ausführten, an einer genau eingeteilten Saite, und fand, daß solche Spieler genau in natürlichen Terzen und Sexten, nicht in temperierten oder pythagoräischen spielten. Ich hatte die glückliche Gelegenheit, Versuche gleicher Art an meinem Harmonium mit Herrn Joachim anzustellen; derselbe stimmte die Saiten seiner Violine übereinstimmend mit dem g — d — a — e meines Instruments. Ich bat ihn alsdann die Skala zu spielen, und gab, sobald er die Terz oder Sexte eingesetzt hatte, den entsprechenden Ton auf dem Harmonium an. Mittels der Schwebungen war leicht zu erkennen, daß der genannte ausgezeichnete Musiker h und nicht h als Terz zu g brauchte, e und nicht e als Sexte12). Wenn aber auch Virtuosen, welche die zu spielenden Stücke genau kennen, im Stande sind die Mängel ihrer Schule und des temperierten Systems zu überwinden, so würde es doch Talenten zweiten Ranges außerordentlich erleichtert werden, zu einem vollendeten Zusammenspiele zu gelangen, wenn man sie von Anfang an gewöhnte, die Tonleitern nach natürlichen Intervallen zu spielen, und die. größere Mühe der ersten Übungen würde durch die späteren Resultate reichlich gelohnt werden. Übrigens ist es viel leichter, die Unterschiede in der natürlichen Stimmung gleich benannter Noten aufzufassen., als man gewöhnlich glaubt, sobald man sich einmal an den Klang der reinen Konsonanzen gewöhnt hat. Eine Verwechselung von a und a auf meinem Harmonium in einem konsonanten Akkorde fällt mir ebenso schnell und so sicher auf, als auf dem Fortepiano eine Verwechselung von A und As.
 
 

11) Recueil des travaux de la Société des Sciences, de l' Agricultue et des Arts de Lilie, 1826 et premier semestre 1827. Mémoire sur les valeurs numériques des notes de Ja gamme par M. Delezenne. Beobachtungen über die entsprechenden Verhältnisse beim Gesange siehe unten in Beilage XVIII.

12) Die Herren Cornu und Mercadier haben kürzlich entgegenstehende Beobachtungen veröffentlicht. (Comptes rendus de l'Acad. des Sciences. Paris 8 et 22 Février 1869.) Sie ließen Musiker die Terz eines Durakkordes abstimmen, bald in melodischer Folge, bald in harmonischem Zusammenklang. In letzterem Falle wählte man immer die Terz 4:5. Aber wenn die Beobachter in melodischer Folge der Töne stimmten, wählten sie eine etwas höhere Terz. Ich muß dagegen erwidern, daß in melodischer Folge genommen die Terz überhaupt kein sehr sicher charakterisiertes Intervall ist, und daß alle neueren Musiker durch die Klaviere an zu hohe Terzen gewöhnt sind. Ich finde es in der Folge c — e — g allein, isoliert von anderen Teilen der Skala, schwer zwischen der natürlichen und pythagoräischen Terz mit Bestimmtheit zu wählen. Wenn ich aber eine vollständige Melodie eines mir wohlbekannten Liedes einstimmig auf dem Harmonium spiele, so finde ich, daß pythagoräische Terzen immer angestrengt, natürliche beruhigend und weich klingen. Nur im Leitton ist es vielleicht ausdrucksvoller, die höhere Terz zu nehmen.
 
 

Ich kenne allerdings die Technik des Violinspiels zu wenig, als daß ich es wagen könnte, hier Vorschläge zu einer definitiven Regelung des Tonsystems für die Streichinstrumente zu geben. Dasmuß Meistern dieser Instrumente, die gleichzeitig die Fähigkeiten eines Komponisten haben, überlassen bleiben. Solche werden sich auch durch das Zeugnis ihrer Ohren leicht von der Richtigkeit der angegebenen Tatsachen überzeugen können und einsehen, daß es sich hier nicht um unnütze mathematische Spekulationen, sondern um praktisch sehr wichtige Fragen handelt.

Ähnlich verhält es sich mit den jetzigen Sängern. Im Gesange ist die Intonation vollkommen frei, während auf den Streichinstrumenten wenigstens die fünf Töne der leeren Saiten eine unveränderliche Tonhöhe haben. Im Gesange kann die Tonhöhe am allerleichtesten und vollkommensten den Wünschen eines feinen musikalischen Gehörs folgen. Deshalb ist auch alle Musik vom Gesange ausgegangen, und der Gesang wird wohl immer die wahre und natürliche Schule aller Musik bleiben müssen. Der Sänger kann nur solche Tonverhältnisse rein und sicher treffen, die das Ohr rein und sicher auffaßt, und was der Sänger daher leicht und natürlich singt, wird auch der Hörer leicht und natürlich zu verstehen finden.

Bis zum 17. Jahrhundert wurden die Sänger nach dem Monochorde eingeübt, für welchen Zarlino in der Mitte des 16. Jahrhunderts die richtige natürliche Stimmung wieder einführte. Die Einübung der Sänger geschah in jener Zeit mit einer Sorgfalt, von der wir gegenwärtig freilich keine Idee haben. Auch kann man es noch jetzt der italienischen Kirchenmusik des 15. und 16. Jahrhunderts ansehen, daß sie auf den reinsten Wohlklang der Konsonanzen berechnet ist, und daß ihre ganze Wirkung zerstört wird, sobald diese in ungenügender Reinheit ausgeführt werden.

Man kann nun nicht verkennen, daß gegenwärtig selbst von unseren Opernsängern nur wenige im Stande sind, einen kleinen mehrstimmigen Satz, der entweder gar keine Begleitung hat oder nur sparsam durch wenige Akkorde begleitet ist, wie z. B. das Maskenterzett in Mozart's Don Giovanni, so zu singen, daß der Hörer die volle Freude an dem reinen Wohlklange haben könnte. Die Akkorde klingen fast immer ein wenig scharf und unsicher, so daß sie einen musikalischen Hörer beunruhigen. Wo sollen aber auch unsere Sänger lernen rein zu singen, und ihr Ohr für den Wohlklang reiner Akkorde empfindlich zu machen? Sie werden von Anfang an geübt, an dem gleichschwebend gestimmten Klaviere zu singen. Wird ihnen als Begleitung ein Durakkord angegeben, so können sie sich entweder mit dessen Grundton, oder mit dessen Quinte, oder mit dessen Terz in Konsonanz setzen. Es bleibt ihnen dabei ein Spielraum von fast einem Fünfteil eines Halbtons, innerhalb dessen ihre Stimme herumirren kann, ohne gerade entschieden die Harmonie zu verlassen und selbst wenn sie noch ein wenig höher geht, als die Konsonanz mit der zu hohen Terz verlangt, oder ein wenig tiefer, als die Konsonanz mit der zu tiefen Quinte verlangt, so wird der Wohlklang des Akkordes noch nicht gerade viel schlechter werden. Der Sänger, welcher sich an einem temperierten Instrumente einübt, hat gar kein Prinzip, nach welchem er die Tonhöhe seiner Stimme sicher und genau abmessen könnte13).

13) Siehe Beilage XVIII. Andererseits hört man oft, daß vier musikalische Dilettanten, die sich viel mit einander eingeübt haben, vollkommen rein klingende Quartetts singen. Ja, ich möchte nach meiner eigenen Erfahrung fast behaupten, daß man Quartetts öfter vollkommen rein von jungen Männern hört, welche wenig oder gar nichts anderes singen, als diese ihre vierstimmigen Lieder, sich aber darin oft und regelmäßig üben, als wenn man sie von geschulten Solosängern hört, welche an die Begleitung des Klaviers oder des Orchesters gewöhnt sind. Reinheit des Gesanges ist aber so sehr die allererste und oberste Bedingung seiner Schönheit, daß ein rein ausgeführter Gesang selbst von einer schwachen und wenig geläufigen Stimme immer angenehm klingt, während die klangvollste und geübteste Stimme den Hörer beleidigt, wenn sie detoniert oder in die Höhe treibt.

Es verhält sich hier gerade so, wie mit den Streichinstrumenten. Die Schulung unserer jetzigen Sänger nach der Begleitung temperierter Instrumente ist ungenügend, aber gute musikalische Talente können sich schließlich durch Übung selbst auf die rechte Bahn helfen, und die Fehler der Schule überwinden; ja, es gelingt ihnen dies vielleicht um so eher, je weniger sie in diese Schule gegangen sind, obgleich ich natürlich andererseits nicht leugnen will, daß die Geläufigkeit des Gesanges und die Beseitigung von allerlei natürlichen Unarten nur in der Schule gewonnen werden kann.

Offenbar ist es aber gar nicht nötig, diejenigen Instrumente, an denen der Sänger seine Übungen durchmacht, temperiert zu stimmen. Für solche Übungen genügt eine einzige Tonart, die richtig gestimmt ist. Man braucht nicht auf demselben Klaviere, welches für den Gesangunterricht gebraucht wird, auch noch Sonaten spielen zu wollen. Besser wird es freilich sein, den Sänger an einer rein gestimmten Orgel (oder Harmonium) sich üben zu lassen, wo man dann mit Hilfe zweier Tastaturen auch alle Tonarten benutzen kann. Getragene Töne als Begleitung sind deswegen namentlich vorzuziehen, weil der Sänger selbst, so wie er die richtige Tonhöhe auch nur wenig verändert, sogleich Schwebungen zwischen den Tönen seiner Stimme und denen des Instruments hört. Man mache ihn auf diese Schwebungen aufmerksam, und er wird darin ein Mittel haben, um selbst auf das allerschärfste seine eigene Stimme kontrollieren zu können. Es ist dies an dem rein gestimmten Harmonium, wie ich mich durch den Versuch überzeugt habe, ganz leicht. Nur wenn der Sänger selbst jede kleinste Abweichung von der richtigen Tonhöhe sogleich durch ein auffallendes Phänomen angekündigt hört, wird es ihm möglich sein, die Bewegungen seines Kehlkopfs und die Spannungen seiner Stimmbänder so fein einzuüben, daß er nun auch mit voller Sicherheit den Ton hervorbringt, den sein Ohr verlangt. Wenn man eine feine Einübung von den Muskeln des menschlichen Körpers, hier also von denen des Kehlkopfs, verlangt, muß man eben auch sichere Mittel haben, um wahrzunehmen, ob das Ziel richtig erreicht ist. und ein solches Mittel geben die Schwebungen für die Stimme ab, wenn man in getragenen reinen Akkorden begleitet. Temperierte Akkorde aber, die selbst Schwebungen geben, sind dazu gänzlich unbrauchbar.

Endlich ist, wie ich glaube, ein Einfluß der temperierten Stimmung auf die Kompositionsweise nicht zu verkennen. Zunächst ist dieser Einfluß günstig gewesen; er hat bewirkt, daß die Komponisten wie die Spieler sich mit der größten Leichtigkeit in den verschiedensten Tonarten bewegen können, daß ein Reichtum der Modulationen möglich wurde, der früher nicht existiert hat. Andererseits aber ist nicht zu verkennen, daß die veränderte Stimmung zu einem solchen Reichtume von Modulationen auch zwang. Denn da der Wohlklang der konsonanten Akkorde nicht mehr ganz rein war, die Unterschiede zwischen ihren verschiedenen Umlagerungen verwischt wurden, mußte man durch stärkere Mittel, durch reichlichen Gebrauch scharfer Dissonanzen, durch ungewöhnlichere Modulationen zu ersetzen suchen, was die der Tonart selbst angehörigen Harmonien an charakteristischem Ausdruck verloren hatten. Daher bilden in manchen neueren Kompositionen dissonante Septimenakkorde schon die Mehrzahl der Akkorde und konsonante Akkorde die Ausnahme, während Niemand zweifeln wird, daß es umgekehrt sein sollte, und die fortdauernden kühnen Modulationssprünge drohen das Gefühl für die Tonalität ganz zu zerstören. Es sind dies missliche Symptome für die weitere Entwickelung der Kunst. Der Mechanismus der Instrumente und die Rücksicht auf seine Bequemlichkeit droht Herr zu werden über das natürliche Bedürfnis des Ohres, und droht das Stilprinzip der neueren Kunst, die feste Herrschaft der Tonica und des tonischen Akkordes wieder zu zerstören. Unter unseren großen Komponisten stehen Mozart und Beethoven noch am Anfang derjenigen Periode, wo die Herrschaft der gleichschwebenden Temperatur beginnt. Mozart hat noch Gelegenheit gehabt, reiche Studien in Gesangskompositionen zu machen. Er ist Meister des süßesten Wohllauts, wo er ihn haben will, aber er ist darin auch fast der Letzte. Beethoven hat mit kühner Gewalt Besitz ergriffen von dem Reichtum, den die ausgebildete Instrumentalmusik hervorbringen konnte, seinem gewaltigen Willen war sie das gefügsame und zu Allem bereite Werkzeug, in welches er eine Gewalt der Bewegung zu legen wußte, wie vor ihm Keiner. Die menschliche Stimme aber hat er als dienende Magd behandelt, und deshalb hat sie ihm auch nicht mehr die höchsten Zauber ihres Wohlklanges gespendet.

Und bei alle dem weiß ich nicht, ob es denn so notwendig gewesen ist, der Bequemlichkeit der Instrumentalmusik die Reinheit der Stimmung zu opfern. Sobald die Violinisten ihre Tonleitern nach richtiger Stimmung der jedesmaligen Leiter zu spielen sich entschließen, was kaum erhebliche Schwierigkeiten machen kann, werden auch die übrigen Orchesterinstrumente so viel nachgeben können, daß sie sich der richtigeren Stimmung der Violinen anschließen. Überdies haben unter diesen die Hörner und Trompeten schon die natürliche Stimmung.

Übrigens ist hier noch zu bemerken, daß, wenn man bei Modulationen das natürliche System zu Grunde legt, auch schon bei verhältnismäßig einfachen modulatorischen Wendungen enharmonische Verwechselungen eintreten müssen, welche im temperierten System nicht als solche erscheinen.

Es scheint mir wünschenswert, daß die neue Tonica, zu der man übergehen will, der Tonica, in welcher man sich befindet, verwandt sein muß; je näher, desto weniger auffallend ist der Übergang. Ferner wird es nicht ratsam sein lange in einer Tonart zu verweilen, deren Tonica nicht nahe verwandt ist mit der Haupttonica des Satzes. Damit stimmen auch im Ganzen die gewöhnlich gegebenen Regeln der Modulation überein. Die leichtesten und gewöhnlichsten Übergänge geschehen bekanntlich in die Tonart der Dominante und Subdominante, welche beide Töne in der Tat die nächsten Verwandten der ersten Tonica sind. Wenn also C die Haupttonart ist, so kann man unmittelbar in G-Dur übergehen, wobei die Töne F und A der C- Durleiter in Fis und A verwandelt werden. Oder man kann in F-Dur übergehen, indem man H und D mit B und D vertauscht. Nachdem dieser Schritt gemacht ist, wird häufig zu einer Tonart übergegangen, deren Tonica mit C nur im zweiten Grade verwandt ist, also von G nach D, oder von F nach B. Wenn man aber weiter in dieser Weise fortmodulieren wollte, würde man zu Tonarten kommen, A und Es, deren Zusammenhang mit der ursprünglichen Tonica C nur noch sehr undeutlich wäre, und in denen es jedenfalls nicht ratsam sein möchte, lange zu verweilen, wenn man nicht das Gefühl für die Haupttonart zu sehr schwächen will.

Andererseits kann man von der Haupttonica C aus auch zu ihren Terzen und Sexten fortschreiten, nach E und A, oder  und . In der temperierten Stimmung erscheinen diese Schritte identisch mit dem Übergang durch G und D nach A und E, oder durch F und B nach Es und As. Sie unterscheiden sich aber in der Tonhöhe, wie die verschiedenen Tonzeichen A und A u. s. w. schon anzeigen. In der temperierten Stimmung erscheint es erlaubt, von c durch einen Sextenschritt nach der Tonart von a zu gehen, dann durch Quinten zurück, nach d, g, endlich c. Aber in Wahrheit kommt man hierbei auf ein anderes c, als von dem man ausgegangen ist. Bei einem solchen Übergange, der jedenfalls nicht ganz natürlich ist, würde man in reiner Stimmung eine enharmonische Vertauschung vornehmen müssen, am besten, während man in der Tonart von d verweilt, da sowohl d wie d mit c im zweiten Grade verwandt sind. Bei den verwickelteren Modulationen neuerer Komponisten würden solche enharmonische Verwechselungen natürlich oft zu machen sein. Wo sie anzubringen sind, wird eben ein gebildeter Geschmack in den einzelnen Fällen entscheiden müssen, doch glaube ich, wird es im Ganzen ratsam sein, die schon erwähnte Regel festzuhalten und die Stimmung der modulatorisch eintretenden neuen Toniken so zu wählen, daß sie möglichst enge Verwandtschaft mit der Haupttonica behalten. Die enharmonischen Verwechselungen werden am wenigsten bemerkt, wenn sie vor oder nach scharf dissonierenden Akkorden, z. B. verminderten Septimenakkorden, ausgeführt werden. Solche enharmonische Verrückungen der Tonhöhe werden übrigens jetzt schon von den Violinisten zuweilen deutlich und absichtlich ausgeführt, und wo sie hinpassen, machen sie sogar eine sehr gute Wirkung14).

14) Beispiele bei C. E. Naumann, Bestimmungen der Tonverhältnisse. Leipzig 1858. S. 48 ff.

Will man eine Skala in fast genauer natürlicher Stimmung herstellen, welche unbegrenzt fortzumodulieren gestattet, ohne daß man zu enharmonischen Vertauschungen gezwungen ist, so läßt sich dies durch die schon von Mercator vorgeschlagene Teilung der Oktave in 53 gleich große Intervalle erreichen. Eine solche Stimmung hat neuerdings Herr Bosanquet15) für ein Harmonium mit symmetrisch angeordneter Tastatur benutzt. Wenn man die Oktave in 53 gleich große Intervalle (Stufen) teilt, so geben 31 dieser Stufen eine fast reine etwas zu kleine Quinte, deren Abweichung von der reinen Quinte aber nur 1/28 von der Abweichung der Quinte der gewöhnlichen gleichschwebenden Temperatur ausmacht16), und 17 dieser Stufen geben eine große Terz, die um 5/7 der letztgenannten Abweichung zu klein ist. Die Abweichung der Quinte dieses Systems kann man als ganz unwahrnehmbar betrachten, die der Terz ist noch schwerer wahrnehmbar, als die Abweichung der gewöhnlichen temperierten Quinte. Die Durskala wird in diesen Stufen:

C — D — E — F — G — A — H — c
0       9     17    22    31    39    48     53
Differenz:                   9      8      5      9      8      9       5
15) An elementary Treatise on Musical Intervals and Temperament by R. H. M. Bosanquet, London. Macmillan 1875. Das betreffende Harmonium war in der Loan Exhibition in Kensington ausgestellt.

16) Wenn man das Verhältnis der Breite des Quintenintervalls zu dem der Oktave (d. h. log. 1,5:log. 2) in einem Kettenbruch entwickelt, so bekommt man folgende Näherungswerte: Es sind annähernd

                                                     12     53         306 Quinten
gleich                                             7    31         179 Oktaven.


Ebenso sind annähernd

                                                            3         28             59 Terzen
gleich                                                 l           9              19 Oktaven.

 
 

Die untenstehenden Differenzen von 9, 8 und 5 Stufen entsprechen dem großen, kleinen und halben Tone der natürlichen Skale. Jede einzelne Tonstufe der Skala entspricht dem Intervall 77/76 ist also um ein Minimum größer als das Komma 81/80, welches in der natürlichen Skala den Unterschied zwischen einem großen und kleinen Halbton bildet. Für das Ohr wird diese Skala von der natürlichen nicht zu unterscheiden sein, und in ihrer praktischen Ausführung gestattet sie unbegrenzte Modulation in so gut wie reiner Stimmung. Der Unterschied zwischen unserm c und c, wie zwischen dem c und  würde der Erhöhung um je eine Tonstufe entsprechen. Herr Bosanquet wendet dafür die im Drucke bequemeren Zeichen \ c für c und / c für  an, \\ c für c u. s. w. Er benutzt diese Zeichen \ und / auch in der Notenschrift als Vorzeichen gerade wie bisher die # und b schon gebraucht wurden. Die Tastatur ist nach einem sinnreichen zuerst von dem Amerikaner Herrn H. W. Poole ersonnenen Plane in sehr übersichtlicher und symmetrischer Weise so geordnet, daß alle Tonleitern und alle gleichartigen Akkorde in allen Tonarten mit demselben Fingersatz gespielt werden können. Das Schema der Tastatur ist in der Beilage XIX skizziert.

Vielleicht kann noch eine Rechtfertigung dafür verlangt werden, daß wir in dieser ganzen Lehre von den Tonarten und Modulationen die Tonart der Oktave nicht von der ihres Grundtones unterschieden haben, während wir doch die Tonart der Duodecime unterscheiden. In der gewöhnlichen musikalischen Schullehre wird die Oktave in ihrer Klangbedeutung durchaus als äquivalent ihrem Grundtone behandelt. Für uns ist sie der dem Grundtone am nächsten und deutlichsten verwandte Ton, aber der Art nach ist diese Verwandtschaft nicht unterschieden von der der Duodecime zum Grundton, öder der nächst höheren großen Terz.

Daß nun in dem besonderen Verhältnis der Skalenbildung, das heißt der Bestimmung der Tonart, die höhere Oktave dieselben Reihen direkt verwandter Töne, wenn auch in etwas verschiedener Ordnung der Stärke der Verwandtschaft herbeizieht, wie die tiefere, ist auf S. 448 und 449 gezeigt worden. Es werden nur bei der Bildung von der unteren Oktave aus die Töne der Durtonleiter, bei der Bildung von der oberen die der Molltonleiter bevorzugt, ohne daß die der andern Tonleiter ausgeschlossen sind.

Gehen wir über die Grenzen der ersten Oktave hinaus, so ergeben die auf die ersten sechs Partialtöne gestützten Klangverwandtschaften nur noch das Intervall der Decime und Duodecime. Die anderen Stufen der Leiter sind dann mit Verwandten zweiten Grades zu füllen, und unter diesen werden die Verwandten der Oktave den Vorrang haben müssen, demnächst die der Duodecime. So entsteht notwendig für die zweite Oktave eine Wiederholung der Skala der ersten. Dadurch wird in der Tat in der Bildung der Skalen eine Äquivalenz der Oktaven begründet, ohne daß wir eine spezifisch andere Beziehung der Ähnlichkeit zwischen ihnen und dem Grundtone anzunehmen brauchten als für die anderen Konsonanzen. Auch bei der Bildung der konsonanten Intervalle betrachtet die gewöhnliche Musiktheorie die Oktaven als äquivalent. Das ist bis zu gewissen Grenzen richtig, insofern die gewöhnlich als konsonant betrachteten Intervalle durch Verlegung ihrer Töne um Oktaven wieder konsonante oder mindestens an der Grenze der Konsonanzen stehende Intervalle geben. Hier gab die Schule aber in der Tat mit dieser Regel einen sehr unvollkommenen Ausdruck der Tatsachen, da, wie unser X., XI. und XII. Abschnitt zeigen, in der Tat Grad und Reihenfolge der Konsonanzen sich bei solchen Umänderungen erheblich ändern, und die über die Schulregeln hinausgewachsenen Komponisten dies auch sehr deutlich berücksichtigen.