EINLEITUNG.

Das vorliegende Buch sacht die Grenzgebiete von Wissenschaften zu vereinigen, welche, obgleich durch viele natürliche Beziehungen auf einander hingewiesen, bisher doch ziemlich getrennt neben einander gestanden haben, die Grenzgebiete nämlich einerseits der physikalischen und physiologischen Akustik, andererseits der Musikwissenschaft und Ästhetik. Dasselbe wendet sich also an einen Kreis von Lesern, welche einen sehr verschiedenartigen Bildungsgang durchgemacht haben und sehr abweichende Interessen verfolgen; es wird deshalb nicht unnötig sein, wenn der Verfasser gleich von vornherein sich darüber ausspricht, in welchem Sinne er diese Arbeit unternommen und Welches Ziel er dadurch zu erreichen gesucht hat. Der naturwissenschaftliche, der philosophische, der künstlerische Gesichtskreis sind in neuerer Zeit mehr, als billig ist, auseinandergerückt worden, und es besteht deshalb in jedem dieser Kreise für die Sprache, die Methoden und die Zwecke des andern eine gewisse Schwierigkeit des Verständnisses, welche auch bei der hier zu verfolgenden Aufgabe hauptsächlich verhindert haben mag, dass sie nicht schon längst eingehender bearbeitet und ihrer Lösung entgegengeführt worden ist.

Zwar bedient sich die Akustik überall der aus der Harmonielehre entnommenen Begriffe und Namen, sie spricht von der Tonleiter, den Intervallen, Konsonanzen u. s. w.; zwar beginnen die Lehrbücher über Generalbass gewöhnlich mit einem physikalischen Kapitel, welches von den Schwingungszahlen der Töne redet und die Verhältnisse derselben für die verschiedenen Intervalle festsetzt, aber bisher ist diese Verbindung der Akustik mit der Musikwissenschaft eine rein äußerliche geblieben, eigentlich mehr ein Zeichen, dass man das Bedürfnis einer Verbindung der genannten Wissenschaften fühlte und anerkannte, als dass man eine solche tatsächlich herzustellen gewusst hätte. Denn die physikalischen Kenntnisse konnten zwar für den Erbauer musikalischer Instrumente von Nutzen sein, für die weitere Entwickelung und Begründung der Harmonielehre dagegen ist bisher die physikalische Einleitung noch ganz unfruchtbar geblieben. Und doch sind die wesentlichsten Tatsachen dieses Gebiets, um deren Erklärung und Ausbeutung es sich zunächst handelte, seit uralter Zeit bekannt. Schon Pythagoras wusste, dass, wenn Saiten von gleicher Beschaffenheit, gleicher Spannung, aber ungleicher Länge die vollkommenen Konsonanzen der Oktave, Quinte oder Quarte geben sollen, ihre Längen im Verhältnisse von l zu 2, von 2 zu 3 oder 3 zu 4 stehen müssen, und wenn er, wie zu vermuten ist, seine Kenntnisse zum Teil von den ägyptischen Priestern erhalten hat, so lässt sich gar nicht absehen, bis in wie unvordenkliche Zeiten die Kenntnis dieses Gesetzes zurückreicht. Die neuere Physik hat das Gesetz des Pythagoras erweitert, indem sie von den Saitenlängen zu den Schwingungszahlen überging, wodurch es auf Töne aller musikalischen Instrumente anwendbar wurde; man hat ferner für die weniger vollkommenen Konsonanzen der Terzen die Zahlenverhältnisse 4 zu 5 und 5 zu 6 den oben genannten hinzugefügt, aber es ist mir nicht bekannt, dass wirklich ein Fortschritt gemacht wäre in der Beantwortung der Frage: was haben die musikalischen Konsonanzen mit den Verhältnissen der ersten sechs ganzen Zahlen zu tun? Sowohl Musiker, wie Philosophen und Physiker haben sich meist bei der Antwort beruhigt, dass die menschliche Seele auf irgend eine uns unbekannte Art die Zahlenverhältnisse der Tonschwingungen ermitteln könne und dass sie ein besonderes Vergnügen daran habe, einfache und leicht überschauliche Verhältnisse vor sich zu haben.

Inzwischen hat die Ästhetik der Musik in denjenigen Fragen, deren Entscheidung mehr auf psychologischen als auf sinnlichen Momenten beruht, unverkennbare Fortschritte gemacht, namentlich dadurch, dass man den Begriff der Bewegung bei der Untersuchung der musikalischen Kunstwerke betont hat. E. Hanslick hat in seinem Buche „über das Musikalisch Schöne" mit schlagender Kritik den falschen Standpunkt überschwänglicher Sentimentalität, von dem aus man über Musik zu theoretisieren liebte, angegriffen und zurückgewiesen auf die einfachen Elemente der melodischen Bewegung. In breiterer Ausführung finden wir die ästhetischen Beziehungen für die Architektonik musikalischer Kompositionen und die charakteristischen Unterschiede der einzelnen Kompositionsformen auseinandergesetzt in Vischer's Ästhetik. Wie in der unorganischen Welt durch die Art der Bewegung die Art der sie treibenden Kräfte offenbart wird, und sogar in letzter Instanz die elementaren Kräfte der Natur durch nichts anderes erkannt und gemessen werden können, als durch die unter ihrer Einwirkung zu Stande kommenden Bewegungen, so ist es auch mit den Bewegungen, sei es des Körpers, sei es der Stimme, welche unter dem Einflusse menschlicher Gemütsstimmungen vor sich gehen. Welche Eigentümlichkeiten der Tonbewegung daher den Charakter des Zierlichen, Tändelnden oder des Schwerfälligen, Angestrengten, des Matten oder des Kräftigen, des Ruhigen oder Aufgeregten u. s. w. geben, hängt offenbar hauptsächlich von psychologischen Motiven ab.   Ebenso die Beantwortung derjenigen Fragen, welche das Gleichgewicht der einzelnen Teile einer Komposition, ihre Entwickelung aus einander, ihre Verbindung zu einem klar überschaulichen Ganzen betreffen, die sich den ähnlichen Fragen in der Theorie der Baukunst ganz eng anschließen. Aber alle diese Untersuchungen, wenn sie auch mancherlei Früchte zu Tage fördern, müssen lückenhaft und unsicher bleiben, so lange ihnen ihr eigentlicher Anfang und ihre Grundlage fehlt, nämlich die wissenschaftliche Begründung der elementaren Regeln für die Konstruktion der Tonleiter, der Akkorde, der Tonarten, überhaupt alles dessen, was in dem sogenannten Generalbass zusammengestellt zu werden pflegt. In diesem elementaren Gebiete haben wir es nicht allein mit freien künstlerischen Erfindungen, sondern auch mit der unmittelbaren Naturgewalt der sinnlichen Empfindung zu tun. Die Musik steht in einem viel näheren Verhältnis zu den reinen Sinnesempfindungen, als sämtliche übrigen Künste, welche es vielmehr mit den Sinneswahrnehmungen, das heißt mit den Vorstellungen von äußeren Objekten zu tun haben, die wir erst mittels psychischer Prozesse aus den Sinnesempfindungen gewinnen.   Die Dichtkunst geht am entschiedensten allein darauf aus, Vorstellungen anzuregen, indem sie sich an Phantasie und Gedächtnis wendet; und nur mit untergeordneten Hilfsmitteln mehr musikalischer Art, z. B. dem Rhythmus, der Tonmalerei, wendet sie sich zuweilen an die unmittelbare sinnliche Empfindung des Ohrs. Ihre Wirkungen beruhen deshalb fast ausschließlich auf psychischen Tätigkeiten. Die bildenden Künste benutzen zwar die sinnlichen Empfindungen des Auges, aber doch in nicht viel anderer Absicht, als die Dichtkunst sich an das Ohr wendet. Hauptsächlich wollen sie in uns nur die Vorstellung eines äußeren Objekts von bestimmter Form und Farbe hervorbringen. Wir sollen uns wesentlich nur für den dargestellten Gegenstand interessieren und an seiner Schönheit uns erfreuen, nicht an den Mitteln der Darstellung. Wenigstens ist die Freude des Kunstkenners an dem Virtuosentum der Technik einer Statue oder eines Gemäldes nicht wesentlicher Bestandteil des Kunstgenusses.

Nur in der Malerei findet sich die Farbe als ein Element, welches unmittelbar von der sinnlichen Empfindung aufgenommen wird, ohne dass sich Akte des Verständnisses einzuschieben brauchen. In der Musik dagegen sind es wirklich geradezu die Ton-empfindungen, welche das Material der Kunst bilden; wir bilden aus diesen Empfindungen, wenigstens so weit sie in der Musik zur Geltung kommen, nicht die Vorstellungen äußerlicher Gegenstände und Vorgänge. Oder wenn uns auch bei den Tönen eines Konzerts einfällt, dass dieser von einer Violine, jener von einer Klarinette gebildet sei, so beruht doch das künstlerische Wohlgefallen nicht auf der Vorstellung der Violine und Klarinette, sondern nur auf der Empfindung ihrer Töne, während umgekehrt das künstlerische Wohlgefallen an einer Marmorstatue nicht auf der Empfindung des weißen Lichts beruht, welches sie in das Auge sendet, sondern auf der Vorstellung des schön geformten menschlichen Körpers, den sie darstellt. In diesem Sinne ist es klar, dass die Musik eine unmittelbarere Verbindung mit der sinnlichen Empfindung hat, als irgend eine der anderen Künste; und daraus folgt denn, dass die Lehre von den Gehörempfindungen berufen sein wird in der musikalischen Ästhetik eine viel wesentlichere Rolle zu spielen, als etwa die Lehre von der Beleuchtung oder der Perspektive in der Malerei. Diese letzteren sind allerdings dem Künstler nützlich um eine möglichst vollendete Naturwahrheit zu erreichen, haben aber mit der künstlerischen Wirkung des Werkes nichts zu tun. In der Musik  dagegen wird gar keine Naturwahrheit erstrebt, die Töne und Tonempfindungen sind ganz allein ihrer selbst wegen da und wirken ganz unabhängig von ihrer Beziehung zu irgend einem äußeren Gegenstande.

Diese Lehre von den Gehörempfindungen fällt nun in das Gebiet der Naturwissenschaften und zwar zunächst der physiologischen Akustik. Bisher ist von der Lehre vom Schall fast nur der physikalische Teil ausführlich behandelt worden, d. h. man hat die Bewegungen untersucht, welche tönende feste, flüssige oder luftförmige Körper ausführten, wenn sie einen dem Ohre vernehmbaren Schall hervorbrachten. Diese physikalische Akustik ist ihrem Wesen nach nichts als ein Teil der Lehre von den Bewegungen der elastischen Körper.  Ob man die Schwingungen, welche gespannte Saiten ausführen, an einer Spirale aus Messingdraht beobachtet, deren Bewegungen so langsam geschehen, dass man ihnen mit dem Auge bequem folgen kann, die aber eben deshalb keine Schallempfindung erregen, oder ob man eine Violinsaite schwingen lässt, deren Schwingungen das Auge kaum wahrnimmt, während das Ohr sie hört, ist in physikalischer Beziehung ganz gleichgültig. Die Gesetze der schwingenden Bewegungen sind in beiden Fällen ganz die nämlichen, und ob sie schnell oder langsam geschehen, ist ein Umstand, der in diesen Gesetzen nichts ändert, wohl aber den beobachtenden Physiker zwingt, verschiedene Methoden der Beobachtung anzuwenden, bald das Auge, bald das Ohr zu benutzen. In der physikalischen Akustik wird also auf die Erscheinungen des Gehörs nur deshalb Rücksicht genommen, weil das Ohr das bequemste und nächstliegende Hilfsmittel zur Beobachtung der schnelleren elastischen Schwingungen ist, und der Physiker die Eigentümlichkeiten dieses zur Beobachtung verwendeten natürlichen Instruments kennen muss, um richtige Schlüsse aus seinen Aassagen ziehen zu können. Daher hat die bisherige physikalische Akustik wohl mancherlei Kenntnisse und Beobachtungen gesammelt, welche der Lehre von den Tätigkeiten des Ohrs, also der physiologischen Akustik, angehören, aber sie sind nicht als Hauptzweck ihrer Untersuchungen ausgemittelt worden, sondern nur nebenbei und stückweise. Dass überhaupt in der Physik ein besonderes Kapitel über Akustik von der Lehre über die Bewegungen der elastischen Körper abgetrennt zu werden pflegt, zu welcher es dem Wesen der Sache nach gehören sollte, ist eben nur dadurch gerechtfertigt, dass durch die Anwendung des Ohrs eigentümliche Arten von Versuchen und Beobachtungsmethoden herbeigeführt wurden.

Neben der physikalischen besteht eine physiologische Akustik, welche die Vorgänge im Ohre selbst zu untersuchen hat. Von dieser Wissenschaft hat derjenige Teil, welcher die Leitung der Schallbewegung vom Eingang des Ohres bis zu den Nervenausbreitungen im Labyrinth des inneren Ohres behandelt, mannigfache Bearbeitung- erfahren, in Deutschland namentlich, seit Johannes Müller den Anfang darin gemacht hatte. Freilich müssen wir zugleich sagen, dass noch nicht viel sichergestellte Ergebnisse hierin gewonnen sind. Mit diesen Bestrebungen war aber erst ein Teil der Aufgabe angegriffen, ein anderer Teil ganz liegen geblieben. Die Untersuchung der Vorgänge in jedem unserer Sinnesorgane hat im Allgemeinen drei verschiedene Teile. Zunächst ist zu untersuchen, wie das Agens, welches die Empfindung erregt, also im Auge das Licht, im Ohre der Schall, bis zu den empfindenden Nerven hingeleitet wird. Wir können diesen ersten Teil den physikalischen Teil der entsprechenden physiologischen Untersuchung nennen. Zweitens sind die verschiedenen Erregungen der Nerven selbst zu untersuchen, welche verschiedenen Empfindungen entsprechen, und endlich die Gesetze, nach welchen aus solchen Empfindungen Vorstellungen bestimmter äußerer Objekte, d. h. Wahrnehmungen, zu Stande kommen. Das gibt also noch zweitens einen vorzugsweise physiologischen Teil der Untersuchung, der die Empfindungen, und drittens einen psychologischen, der die Wahrnehmungen behandelt. Während nun für die Lehre vom Gehör der physikalische Teil schon vielfältig in Angriff genommen worden ist, haben wir bisher aus dem physiologischen und psychologischen Teile nur unvollständige und zufällige Einzelheiten in der Wissenschaft aufzuweisen, und gerade der vorzugsweise physiologische Teil, die Lehre von den Gehörempfindungen, ist es, dessen Resultate die Theorie der Musik von der Naturwissenschaft entnehmen muss.

In dem vorliegenden Buche habe ich mich nun bemüht, zunächst das Material für die Lehre von den Gehörempfindungen zusammenzubringen, soweit es bisher fertig vorlag oder von mir durch eigene Untersuchungen ergänzt werden konnte. Natürlich muss ein solcher erster Versuch ziemlich lückenhaft bleiben und sich auf die Grundzüge und die interessantesten Teile des betreffenden Gebiets beschränken. In diesem Sinne bitte ich die hier vorliegenden Studien aufzunehmen. Wenn auch in den zusammengestellten Sätzen nur weniges vorkommt von vollkommen neuen Entdeckungen, vielmehr das, was von neuen Tatsachen und Betrachtungen etwa darin enthalten ist, sich meist unmittelbar daraus ergab, dass ich die schon bekannten Theorien und Versuchsmethoden vollständiger in ihre Konsequenzen verfolgte und auszubeuten suchte, als dies bisher geschehen war, so gewinnen doch, wie ich meine, die Tatsachen vielfältig eine neue Wichtigkeit und eine neue Beleuchtung, wenn man sie aus einem anderen Standpunkte und in einem anderen Zusammenhange, als bisher, betrachtet.

Die erste Abteilung der nachfolgenden Untersuchung ist wesentlich physikalischen und physiologischen Inhalts; es wird darin das Phänomen der harmonischen Obertöne untersucht; es wird die Natur dieses Phänomens festgestellt, seine Beziehung zu den Unterschieden der Klangfarbe nachgewiesen, und es werden eine Reihe von Klangfarben in Beziehung auf ihre Obertöne analysiert, wobei sich denn zeigt, dass die Obertöne nicht etwa, wie man bisher wohl meist glaubte, eine vereinzelt vorkommende Erscheinung von geringer Intensität seien, dass sie vielmehr mit sehr wenigen Ausnahmen den Klängen fast aller Toninstrumente zukommen , und gerade in den zu musikalischen Zwecken brauchbarsten Klangfarben eine erhebliche Stärke erreichen. Die Frage, wie die Wahrnehmung der Obertöne durch das Ohr zu Stande kommen könne, fuhrt dann zu einer Hypothese über die Erregungsweise des Hörnerven, welche geeignet ist, sämtliche in das hier vorliegende Gebiet gehörige Tatsachen und Gesetze auf eine verhältnismäßig einfache mechanische Vorstellung zurückzuführen.

Die zweite Abteilung behandelt die Störungen des gleichzeitigen Erklingens zweier Töne, nämlich die Kombinationstöne und die Schwebungen. Die physiologisch-physikalische Untersuchung ergibt, dass zwei Töne nur dann im Ohre gleichzeitig empfunden werden können, ohne sich gegenseitig in ihrem Abflusse zu stören, wenn sie in ganz bestimmten Intervallverhältnissen zu einander stehen, den bekannten Intervallen der musikalischen Konsonanzen. So werden wir hier unmittelbar in das musikalische Gebiet hinübergeführt, und es wird der physiologische Grund für das rätselhafte von Pythagoras verkündete Gesetz der Zahlenverhältnisse aufgedeckt. Die Größe der konsonanten Intervalle ist unabhängig von der Klangfarbe, aber der Grad des Wohlklanges der Konsonanzen, die Schärfe ihres Unterschieds von den Dissonanzen ergibt sich als abhängig von der Klangfarbe. Die Folgerungen der physiologischen Theorie stimmen in diesem Gebiete mit den Regeln der musikalischen Akkordlehre durchaus zusammen; sie gehen selbst noch mehr in das Spezielle als diese es kann, und haben, wie Ich glaube, die Autorität der besten Komponisten für sich.

In diesen beiden ersten Abteilungen des Buches kommen ästhetische Rücksichten gar nicht in Betracht, es handelt sich durchaus um Naturphänomene, die mit blinder Notwendigkeit eintreten. Die dritte Abteilung behandelt die Konstruktion der Tonleitern und Tonarten. Hier befinden wir uns auf ästhetischem Gebiete, die Differenzen des nationalen und individuellen Geschmacks beginnen. Die moderne Musik hat hauptsächlich das Prinzip der Tonalität streng und konsequent entwickelt, wonach alle Töne eines Tonstückes durch ihre Verwandtschaft mit einem Hauptton, der Tonica, zusammengeschlossen werden. Sobald wir dieses Prinzip als gegeben annehmen, leitet sich aus den Resultaten der vorausgegangenen Untersuchungen die Konstruktion unserer modernen Tonleitern und Tonarten auf einem alle Willkürlichkeit ausschließenden Wege ab.

Ich habe die physiologische Untersuchung von den musikalischen Folgerungen nicht trennen mögen, denn dem Physiologen muss die Richtigkeit dieser Folgerungen als eine Unterstützung für die Richtigkeit der vorgetragenen physikalischen und physiologischen Ansichten gelten, und dem Leser, welcher im musikalischen Interesse das Buch vornimmt, kann der Sinn und die Tragweite der Folgerungen nicht ganz klar werden, wenn er nicht die naturwissenschaftlichen Grundlagen wenigstens ihrem Sinne nach zu verstehen gesucht hat. Übrigens habe ich, um das Verständnis des Buches auch Lesern zugänglich zu erhalten, denen eine eingehende Kenntnis der Physik und Mathematik fehlt, sowohl die spezielleren Anweisungen für die Ausführung komplizierterer Versuche, als auch alle mathematischen Erörterungen in den Anhang am Schluss des Buches verwiesen. Dieser Anhang ist also besonders für den Physiker bestimmt, und enthält die Beweisstücke für meine Behauptungen. Ich hoffe auf diese Weise den Interessen der verschiedenen Leser gerecht zu werden.

Das rechte Verständnis freilich wird sich nur demjenigen Leser eröffnen können, der sich die Mühe nimmt durch eigene Beobachtung wenigstens die Fundamentalphänomene, von denen in der folgenden Untersuchung die Rede ist, kennen zu lernen. Glücklicherweise ist es nicht sehr schwer mit Hilfe der gewöhnlichsten musikalischen Instrumente Obertöne, Kombinationstöne, Schwebungen u. s. w. kennen zu lernen.  Eigene Wahrnehmung ist mehr wert als die genaueste Beschreibung, besonders wo es sich, wie hier, um eine Analyse von Sinnesempfindungen handelt, die sich schlecht genug Jemandem beschreiben lassen, der sie nicht selbst erlebt hat.

Ich hoffe, bei diesem meinem etwas ungewöhnlichen Versuche, von Seiten der Naturwissenschaft in die Theorie der Künste einzugreifen, gebührend auseinander gehalten zu haben, was der Physiologie und was der Ästhetik angehört, doch kann ich mir kaum verhehlen, dass meine Erörterungen, obgleich sie sich nur auf das niederste Gebiet der musikalischen Grammatik beziehen, solchen Kunsttheoretikern vielleicht als zu mechanisch und der Würde der Kunst widersprechend erscheinen werden, welche gewohnt sind, die enthusiastischen Seelenzustände, wie sie durch die höchsten Leistungen der Kunst hervorgerufen werden, auch zur wissenschaftlichen Untersuchung ihrer Grundlagen mitzubringen. Diesen gegenüber will ich nur noch bemerken, dass es sich bei der nachfolgenden Untersuchung wesentlich nur um die Analyse tatsächlich bestehender sinnlicher Empfindungen handelt, dass die physikalischen Beobachtungsmethoden, welche herbeigezogen werden, fast nur dazu dienen sollen, das Geschäft dieser Analyse zu erleichtern, zu sichern, und ihre Vollständigkeit zu kontrollieren, und dass diese Analyse der Sinnesempfindungen genügen würde, die Endergebnisse für die musikalische Theorie zu liefern, selbst ohne Bezug auf die physiologische Hypothese über den Mechanismus des Hörens, die ich schon erwähnt habe, welche ich jedoch nicht weglassen wollte, weil sie einen außerordentlich einfachen Zusammenhang in die sehr mannigfachen und sehr verwickelten Phänomene dieses Gebiets zu bringen geeignet ist 1).

1) Für Leser, die in mathematischen und physikalischen Betrachtungen wenig geübt sind, ist eine abgekürztere Darstellung des wesentlichen Inhalts dieses Buches gegeben in
Sedley Taylor, Sound and Music. London, Macmillan and Co. 1883.
Für eben solche Leser ist eine anschauliche Auseinandersetzung der physikalischen Beziehungen des Schalls gegeben in
J. Tyndall. On Sound, a course of eight lectures. London, 1893. Longmans, Green and Co.
Dasselbe in deutscher Übersetzung unter dem Titel: Der Schall, herausgegeben von H. v. Helmholtz u. G. Wiedemann. Zweite Auflage. Braunschweig 1895.