XI. Empfindung, Gedächtnis und Assoziation.

1.

Es kann nach den vorausgehenden Erörterungen kein Zweifel bestehen, daß bloße Empfindungen kein dem unsrigen auch nur entfernt ähnliches psychisches Leben begründen können. Wenn die Empfindung sofort nach dem Verschwinden vergessen wird, kann nur eine zusammenhangslose Mosaik und Folge von psychischen Zuständen sich ergeben, wie wir dieselbe bei den niedersten Tieren und bei den tiefstehenden Idioten annehmen müssen. Eine Empfindung, welche nicht etwa als heftiger Bewegungsreiz wirkt, wie etwa eine Schmerzempfindung, wird auf dieser Stufe schwerlich Beachtung finden. Der Anblick eines lebhaft gefärbten kugelförmigen Körpers z. B., der nicht durch die Erinnerung an den Geruch und Geschmack, kurz an die Eigenschaft einer Frucht, an die mit derselben gemachten Erfahrungen, ergänzt wird, bleibt unverstanden, ist ohne Interesse, wie dies im Zustande der "Seelenblindheit" beobachtet wird. Aufbewahrung von Erinnerungen, Zusammenhang derselben, Wiedererweckbarkeit durch einander, Gedächtnis und Assoziation, sind die Grundbedingung des entwickelten psychischen Lebens.

2.

Was ist nun das Gedächtnis? Ein psychisches Erlebnis läßt psychische Spuren zurück, dasselbe hinterläßt aber auch physische Spuren. Das gebrannte oder von der Wespe gestochene Kind benimmt sich auch physisch ganz anders, als ein Kind, welchem diese Erfahrung fehlt. Denn das Psychische und Physische sind überhaupt nur durch die Art der Betrachtung verschieden. Dennoch ist es recht schwierig, in den Erscheinungen der Physik des Unorganischen Züge zu entdecken, welche dem Gedächtnis verwandt sind.
    In der Physik des Unorganischen scheint alles durch die augenblicklichen Umstände bestimmt, die Vergangenheit ganz einflußlos zu sein. Die Beschleunigung eines Körpers ist durch die augenblicklichen Kräfte gegeben. Ein Pendel schwingt gleich, ob es die erste Schwingung vollführt oder ob schon 1000 andere vorausgegangen sind. H verbindet sich mit Cl in derselben Weise, ob es vorher mit Br oder J verbunden war. Allerdings gibt es auch in dem physikalischen Gebiet Fälle, in welchen die Vergangenheit deutlich ihren Einfluß ausspricht. Die Erde erzählt uns ihre geologische Vorgeschichte. Der Mond erzählt sie ebenso. Ich sah bei E. Suess an einem Gesteinsstück ein System ganz sonderbarer kongrunenter paralleler Ritzfiguren, welches er sehr plausibel als ein vorweltliches Seismogramm interpretierte.
    Ein Draht merkt sich sozusagen lange Zeit jede Torsion, die er erlitten hat. Jeder Entladungsfunke ist ein Individuum und von den vorausgegangenen Entladungen beeinflußt. Die isolierende Schicht der Leidnerflasche bewahrt eine Geschichte der vorausgegangenen Ladungen.
    Der scheinbare Widerspruch löst sich, wenn wir berücksichtigen, daß wir in der Physik die betrachteten Fälle aufs äußerste zu idealisieren und zu schematisieren, die einfachsten Umstände vorauszusetzen pflegen. Wenn wir ein mathematisches Pendel annehmen, dann ist gewiß die tausendste Schwingung wie die erste, dann gibt es keine Spuren der Vergangenheit, weil wir eben von denselben absehen. Das wirkliche Pendel nutzt aber seine Schneide ab, erwärmt sich durch äußere und innere Reibung, und keine Schwingung gleicht, genau genommen, der andern. Jede zweite, dritte Drahttorsion fällt etwas anders aus, als wenn die früheren nicht gewesen wären. Könnte man in der Psychologie ebenso schematisieren, so würde man Menschen erhalten, die sich identisch verhalten, keinen Einfluß der individuellen Erlebnisse erkennen lassen würden.
    In Wirklichkeit läßt jeder psychische so gut wie jeder physische Vorgang seine unverwischbaren Spuren zurück. In beiden Gebieten gibt es nicht umkehrbare Prozesse, ob nun die Entropie vermehrt, oder der Knoten einer gestörten und wieder angeknüpften Freundschaft gefühlt wird. Und jeder wirkliche Vorgang enthält mindestens nicht umkehrbare Komponenten.

3.

Man wird nun mit Recht sagen: Spuren der Vergangenheit sind noch lange kein Gedächtnis. In der Tat, damit die Ähnlichkeit größer werde, müßten gewesene Vorgänge auf einen leisen Anstoß hin aufs neue sich abspielen. Die gut gespielten alten Violinen, die Moserschen Hauchbilder, der Phonograph sind schon etwas bessere Beispiele. Allein Violine und Phonograph müssen durch äußere Kräfte gespielt werden, während der Mensch sich und sein Gedächtnis selbst spielt. Die organischen Wesen sind nämlich keine starren materiellen Systeme, sondern im wesentlichen dynamische Gleichgewichtsformen von Strömen von "Materie" und "Energie". Die Abweichungsformen dieser Ströme von dem dynamischen Gleichgewichtszustand sind es nun, die sich, je nachdem sie einmal eingeleitet wurden, immer in derselben Weise wiederholen. Solche Variationen dynamischer Gleichgewichtsformen hat die anorganische Physik noch wenig studiert. Die Änderung von Flußläufen durch zufällige Umstände, welche Läufe dann beibehalten werden, sind ein ganz rohes Beispiel. Schraubt man einen Wasserhahn so weit zu, daß ein ganz dünner ruhiger Strahl zum Vorschein kommt, so genügt ein zufälliger Anstoß, um dessen labiles Gleichgewicht zu stören und dauerndes rhythmisches tropfenweises Ausfließen zu veranlassen. Man kann eine lange Kette aus einem Gefäß, in welchem sie zusammengerollt liegt, über eine Rolle, nach Art eines Hebers, in ein tieferes Gefäß überfließen lassen. Ist die Kette sehr lang, der Niveauunterschied sehr groß, so kann die Geschwindigkeit sehr bedeutend werden, und dann hat die Kette bekanntlich die Eigenschaft, jede Ausbiegung, die man ihr erteilt, frei in der Luft lange beizubehalten und durch diese Form hindurchzufließen. Alle diese Beispiele sind sehr dürftige Analogien der organischen Plastizität für Wiederholung von Vorgängen und von Reihen von Vorgängen.
    Die vorausgehenden Betrachtungen sollen zeigen, daß ein physikalisches Verständnis des Gedächtnisses zwar nicht unerreichbar, daß wir von demselben aber noch sehr weit entfernt sind. Ohne Zweifel wird die Physik durch das Studium des Organischen noch bedeutend ihren Blick erweitern müssen, bevor sie dieser Aufgabe gewachsen sein wird. Gewiß ist der Reichtum des Gedächtnisses in der Wechselwirkung, dem Zusammenhang der Organe begründet. Allein ein Rudiment von Gedächtnis wird man wohl auch den Elementarorganismen zuschreiben müssen. Und da kann man nur daran denken, daß jeder chemische Vorgang im Organ Spuren zurückläßt, welche den Wiedereintritt desselben Vorganges begünstigen1).

1) Ein ansprechender Versuch einer chemischen Theorie des Gedächtnisses aufgrund der Ostwald’schen Vorstellungen über Katalyse findet sich in dessen Vorlesungen über Naturphilosophie, 1902, S. 369 u. f.
4.

Es ist bekannt, daß in der Psychologie den Assoziationsgesetzen eine hervorragende Bedeutung zuerkannt wird. Diese Gesetze lassen sich auf ein einziges zurückführen, welches darin besteht, daß von zwei Bewußtseinsinhalten A, B, welche einmal gleichzeitig zusammentrafen, der eine, wenn er eintritt, den andern hervorruft. Das psychische Leben wird in der Tat viel verständlicher durch Erkenntnis dieses immer wiederkehrenden Grundzuges. Die Unterschiede des Gedankenlaufs, bei einfacher Erinnerung an Erlebtes, bei ernster Berufsbeschäftigung und beim freien Phantasieren oder wachen Träumen, werden leicht begreiflich durch die begleitenden Umstände2). Doch wäre es eine Verkehrtheit, alle (Kap. 10) psychischen Vorgänge auf während des individuellen Lebens erworbene Assoziationen zurückführen zu wollen. Die Psyche tritt uns in keiner Phase als eine ,tabula rasa' entgegen. Man müßte mindestens neben den erworbenen Assoziationen auch angeborene Assoziationen annehmen. Die angeborenen Triebe3), welche der introspektiven, auf sich selbst beschränkten Psychologie als solche Assoziationen erscheinen müßten, führt der Biologe auf angeborene organische Verbindungen, insbesondere Nervenverbindungen, zurück. Es empfiehlt sich daher zu versuchen, ob nicht alle Assoziationen4), auch die individuell erworbenen, auf angeborenen, beziehungsweise durch Gebrauch verstärkten Verbindungen beruhen. Jedenfalls darf man aber auch fragen, ob die Vorgänge, für deren Verbindung in hochdifferenzierten Organismen sich eigene Bahnen gebildet haben, nicht vielmehr das Primäre, schon in niederen Organismen Bestehende sind, deren wiederholtes Zusammentreffen zur Bildung jener Bahnen führt5). Gewiß kann eine rationelle Psychologie mit den temporären Assoziationen nicht auskommen. Sie muß berücksichtigen, daß auch fertige Verbindungsbahnen bestehen. Dann muß auch die Möglichkeit spontan, nicht durch Assoziation auftretender psychischer Prozesse zugegeben werden, welche die benachbarten Teile des Nervensystems erregen und bei großer Heftigkeit auch auf das ganze Nervensystem sich verbreiten. Die Halluzinationen einerseits und die Reflexbewegungen anderseits sind Beispiele aus dem sinnlichen und motorischen Gebiet, welchen Analoga auf andern Gebieten entsprechen dürften.

              2) Erkenntnis und Irrtum, 1905, S. 29 u. f.

3) Am auffallendsten, weil in der Zeit voller psychischer Entwicklung und Beobachtungsfähigkeit eintretend, zeigen sich die ersten Äußerungen des Geschlechtstriebes. Ein vollkommen glaubwürdiger, sehr wahrheitslie-bender Mann erzählte mir, er habe als ganz unverdorbener und unerfahrener 16 jähriger Bursche die auffal-lende plötzliche körperliche Veränderung, die er beim Anblick einer dekolletierten Dame mit Bestürzung an sich wahrnahm, für eine Krankheit gehalten, über welche er einen Kollegen konsultierte. Der ganze Komplex von ihm durchaus neuen Empfindungen und Gefühlen, die sich da auf einmal offenbarten, hatte überhaupt einen starken Zusatz von Schrecken.

4) H. E. Ziegler, Theoretisches zur Tierphysiologie und vergleichenden Neurophysiologie. (Biol. Zentralblatt, Leipzig 1900, Bd. 20, Nr. l.)

5) Denkt man sich das organische Leben als einen dynamischen Gleichgewichtszustand mehrerer chemischer Komponenten-Phasen, in welchem durch Störung einer Komponente im allgemeinen auch die übrigen gestört werden, so kann man hoffen, nicht nur das Gedächtnis, sondern auch die Assoziation chemisch zu begreifen. Vgl. die Anm. 1 S. 195 und den Text S. 82.

5.

Die Ansichten über die Wechselwirkung der Teile des Zentralnervensystems scheinen einer bemerkenswerten Wandlung entgegenzugehen, wie dies Loeb6) auf Grund eigener Arbeiten und jener von Goltz und Ewald darlegt. Hiernach sind die Tropismen der Tiere von jenen der Pflanzen nicht wesentlich verschieden, und die Nerven gewähren im ersteren Falle nur den Vorteil einer rascheren Reizleitung. Das Leben des Nervensystems wird auf segmentale Reflexe, die Koordination der Bewegungen auf gegenseitige Erregung und Reizleitung, die Instinkte werden auf Kettenreflexe zurückgeführt. Der Schnappreflex des Frosches löst z. B. den Schluckreflex aus. Komplizierte organisierte Zentren werden nicht angenommen, sondern das Gehirn selbst wird als eine Anordnung von Segmenten betrachtet. In allen diesen Ansichten liegt, soweit ich dies beurteilen kann, ein glückliches und bedeutsames Streben, sich von unnötig verwickelten, mit Metaphysik durchsetzten Annahmen zu befreien. Nur darin kann ich Loeb nicht beistimmen, daß er in Darwins phylogenetischen Forschungen über die Instinkte eine fehlerhafte Einseitigkeit sieht, welche fallen zu lassen und durch physikalisch-chemische Untersuchung zu ersetzen wäre. Gewiß lag letztere Darwin fern. Gerade dadurch gewann er aber den freien Blick für seine eigenartigen großen Entdeckungen, die kein Physiker als solcher hätte machen können. Wir streben ja überall, wo es möglich ist, nach physikalischer Einsicht, nach Erkenntnis des unmittelbaren ("kausalen") Zusammenhanges. Es fehlt aber sehr viel daran, daß diese schon überall erreichbar wäre. Und in solchen Fällen andere fruchtbare Gesichtspunkte, die man immerhin als provisorische ansehen mag, aufzugeben, würde jedenfalls eine andere und sehr folgenschwere Einseitigkeit sein. Die Dampfmaschine kann, wie Loeb sagt, nur physikalisch verstanden werden. Die einzelne gegebene Dampfmaschine, ja! Wenn es sich aber darum handelt, die gegenwärtigen Formen der Dampfmaschine zu verstehen, dann reicht dies nicht. Die ganze Geschichte der technischen und sozialen Kultur, nicht minder die geologischen Voraussetzungen, müssen heran. Jedes einzelne dieser Momente mag ja zuletzt physikalisch verständlich werden, klärt uns aber auch auf, lange bevor dies erreicht ist7).

              6) Loeb, Vergleichende Physiologie des Gehirns. Leipzig 1899.
              7) Loeb, a. a. O. S. 130.

6.

Denke ich mir, daß während ich empfinde, ich selbst oder ein anderer mein Gehirn mit allen physikalischen und chemischen Mitteln beobachten könnte, so würde es möglich sein zu ermitteln, an welche Vorgänge des Organismus Empfindungen von bestimmter Art gebunden sind. Dann könnte auch die oft aufgeworfene Frage, wie weit die Empfindung in der organischen Welt reicht, ob die niedersten Tiere, ob die Pflanzen empfinden, wenigstens nach der Analogie, ihrer Lösung näher geführt werden. So lange diese Aufgabe auch nicht in einem einzigen Spezialfall gelöst ist, kann hierüber nicht entschieden werden. Zuweilen wird auch gefragt, ob die (unorganische) "Materie" empfindet. Wenn man von den geläufigen verbreiteten physikalischen Vorstellungen ausgeht, nach welchen die Materie das unmittelbar und zweifellos gegebene Reale ist, aus welcher sich alles, Unorganisches und Organisches, aufbaut, so ist die Frage natürlich. Die Empfindung muß ja dann in diesem Bau irgendwie plötzlich entstehen, oder von vornherein in den Grundsteinen vorhanden sein. Auf unserm Standpunkt ist die Frage eine Verkehrtheit. Die Materie ist für uns nicht das erste Gegebene. Dies sind vielmehr die Elemente (die in gewisser bekannter Beziehung als Empfindungen bezeichnet werden). Jede wissenschaftliche Aufgabe, die für ein menschliches Individuum einen Sinn haben kann, bezieht sich auf Ermittelung der Abhängigkeit der Elemente von einander. Auch was wir im vulgären Leben Materie nennen, ist eine bestimmte Art des Zusammenhanges der Elemente. Die Frage nach der Empfindung der Materie würde also lauten: ob eine bestimmte Art des Zusammenhanges der Elemente (die in gewisser Beziehung auch immer Empfindungen sind) empfindet? In dieser Form wird die Frage niemand stellen wollen8). Alles, was für uns Interesse haben kann, muß sich bei Verfolgung der allgemeinen Aufgabe ergeben. Wir fragen nach den Empfindungen der Tiere, wenn deren sinnlich beobachtetes Verhalten durch diese verständlicher wird. Nach Empfindungen des Kristalls zu fragen, die keine weitere Aufklärung über dessen sinnlich vollkommen bestimmtes Verhalten geben, hat keinen praktischen und keinen wissenschaftlichen Sinn.

              8) Vgl. populär-wissenschaftliche Vorlesungen, 3. Aufl. 1903, S. 242.