XIII. Die Tonempfindungen1).

1.

Auch in bezug auf die Tonempfindungen müssen wir uns vorzugsweise auf die psychologische Analyse beschränken. Es kann hier ebenfalls nur der Anfang einer Untersuchung geboten werden.

1) Den hier dargelegten Standpunkt habe ich (von der Detailausführung abgesehen) schon um 1865 eingenommen. Stumpf (Tonpsychologie, Leipzig 1883, Bd. l), dem ich für die vielfache Berücksichtigung meiner Arbeiten hier danken muß, bringt manche mir sehr sympathische Einzelheiten. Seine S, 119 ausgesprochene Ansicht schien mir aber mit meinem Forschungsprinzip des Parallelismus unvereinbar. Seine gegen Lipps gerichtete Bemerkung jedoch (Beiträge zur Akustik, Bd. l, S. 47, Fußnote) steht meiner Auffassung wieder näher. — Vgl. meine Note: ,,Zur Analyse der Tonempfindungen", Sitzungsber. d. Wiener Akademie, Bd. 92, II. Abt., S. 1282 (1895).     Zu den für uns wichtigsten Tonempfindungen gehören diejenigen, welche durch das menschliche Stimmorgan als Äußerungen von Lust und Schmerz, zur sprachlichen Mitteilung von Gedanken, als Ausdruck des Willens u.s.w. erregt werden. Das Stimmorgan und das Gehörorgan befinden sich auch zweifellos in enger Beziehung. In einfachster und deutlichster Weise enthüllen die Tonempfindungen ihre merkwürdigen Eigenschaften in der Musik. Wille, Gefühl, Lautäußerung und Lautempfindung stehen gewiß in einem starken physiologischen Zusammenhang. Es wird auch ein guter Teil Wahrheit darin stecken, wenn Schopenhauer2) sagt, daß die Musik den Willen darstelle, wenn die Musik als eine Sprache des Gefühls bezeichnet wird, u.s.w., doch kaum die ganze Wahrheit.

              2) Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung.

2.

H. Berg3) hat, um es kurz zu sagen, nach dem Vorgange Darwins versucht, die Musik aus dem Brunstgeheul der Affen herzuleiten. Man müßte verblendet sein, wenn man das Verdienstvolle und Aufklärende der Ausführungen Darwins und Bergs verkennen wollte. Auch heute noch kann die Musik sexuelle Saiten berühren, auch heute noch wird sie zur Liebeswerbung tatsächlich benutzt. Auf die Frage aber, worin das Angenehme der Musik liegt, gibt Berg keine befriedigende Antwort. Und da er musikalisch auf dem Helmholtzschen Standpunkt der Vermeidung der Schwebungen steht und annimmt, daß die am wenigsten unangenehm heulenden Männchen den Vorzug erhielten, so darf man sich vielleicht wundern, warum die klügsten dieser Tiere nicht lieber ganz schwiegen.

              3) H. Berg, Die Lust an der Musik. Berlin 1879.

    Wenn die Beziehung irgend einer biologischen Erscheinung zur Arterhaltung aufgedeckt und dieselbe phylogenetisch hergeleitet wird, so ist damit viel getan. Keineswegs darf man aber glauben, daß auch schon alle die Erscheinung betreffenden Probleme gelöst seien. Niemand wird wohl das Angenehme der spezifischen Wollustempfindung dadurch erklären wollen, daß er deren Zusammenhang mit der Arterhaltung nachweist. Viel eher wird man zugeben, daß die Art erhalten wird, weil die Wollustempfindung angenehm ist. Mag die Musik immerhin unsern Organismus an die Liebeswerbungen der Urahnen erinnern; wenn sie zur Werbung benutzt wurde, mußte sie schon positiv Angenehmes enthalten, welches gegenwärtig allerdings durch jene Erinnerung verstärkt werden kann. Wenn der Geruch einer verlöschenden Öllampe mich fast jedesmal in angenehmer Weise an die Laterna magica erinnert, die ich als Kind bewunderte, so ist dies ein ähnlicher Fall aus dem individuellen Leben. Doch riecht darum die Lampe an sich nicht weniger abscheulich. Und wer durch Rosenduft an ein angenehmes Erlebnis erinnert wird, glaubt darum nicht, daß der Rosenduft nicht schon vorher angenehm gewesen sei. Derselbe hat durch die Assoziation nur gewonnen4). Kann nun die erwähnte Auffassung schon das Angenehme der Musik überhaupt nicht genügend erklären, so vermag sie zur Beantwortung von Spezialfragen, wie z. B., warum in einem gegebenen Fall eine Quarte einer Quinte vorgezogen wird, wohl noch weniger beizutragen.

              4) Auf die Bedeutung der Assoziation für die Ästhetik hat namentlich Fechner hingewiesen.

3.

Man würde überhaupt die Tonempfindungen etwas einseitig beurteilen, wenn man nur das Gebiet der Sprache und Musik berücksichtigen wollte. Die Tonempfindungen vermitteln nicht allein die Mitteilung, die Äußerung von Lust und Schmerz, die Unterscheidung der Stimmen von Männern, Frauen, Kindern. Sie bieten nicht allein Merkzeichen der Anstrengung, der Leidenschaft des Sprechenden oder Rufenden. Wir unterscheiden durch dieselben auch große und kleine schallende Körper, die Tritte großer und kleiner Tiere. Gerade die höchsten Töne, welche das Stimmorgan des Menschen nicht selbst erzeugt, sind für die Beurteilung der Richtung, aus welcher der Schall kommt, mutmaßlich sehr wichtig5). Ja diese letztern Funktionen der Tonempfindungen sind wahrscheinlich in der Tierwelt älter als diejenigen, welche erst im geselligen Leben der Tiere eine Rolle spielen. Wie man sich durch Neigung eines Kartonblattes vor dem Ohr überzeugen kann, werden nur jene Geräusche, welche sehr hohe Töne enthalten, das Sausen und Zischen einer Gasflamme, eines Dampfkessels oder Wasserfalles, je nach der Lage des Kartonblattes durch Reflexion modifiziert, während tiefe Töne ganz unbeeinflußt bleiben. Die beiden Ohrmuscheln können also nur durch ihre Wirkung auf hohe Töne als Richtungszeiger verwendet werden6).

5) Mach, Bemerkungen über die Funktion der Ohrmuschel. (Tröltschs Archiv für Ohrenheilkunde, N. F. Bd. 3, S. 72.) — Vgl. auch Mach und Fischer, Die Reflexion und Brechung des Schalles. Pogg. Ann., Bd. 149, S. 221. — A. Steinhauser, Theorie des binaurealen Hörens. Wien 1877.

6) Ich hatte Gelegenheit zu beobachten, wie zahme Hamster, welche gegen tiefe und laute Geräusche ganz unempfindlich waren, jedesmal plötzlich erschreckt und ungestüm in ihr Versteck fuhren, sobald man durch Reiben von Stroh oder Zerknittern von Papier ein hohes Geräusch hervorbrachte. Auch einige Monate alte Kinder sind für solche Geräusche sehr empfindlich.

4.

Den wesentlichen Fortschritt in bezug auf die Analyse der Gehörsempfindungen, welcher durch Helmholtz7) in Fortführung der gewichtigen Vorarbeiten8) von Sauveur, Rameau, R. Smith, Young, Ohm u. a. bewirkt worden ist, wird jedermann freudig anerkennen. Wir erkennen mit Helmholtz das Geräusch als eine Kombination von Tönen, deren Zahl, Höhe und Intensität mit der Zeit variiert. In dem Klange hören wir mit dem Grundton n im allgemeinen noch die Obertöne oder Partialtöne 2n, 3n, 4n usw., deren jeder einfachen pendelförmigen Schwingungen entspricht. Werden zwei Klänge, deren Grundtönen die Schwingungszahlen n und m entsprechen, melodisch und harmonisch verbunden, so kann bei bestimmten Verhältnissen9) von n und m teilweise Koinzidenz der Partialtöne eintreten, wodurch im ersteren Falle die Verwandtschaft der Klänge bemerklich, im zweiten Falle eine Verminderung der Schwebungen herbeigeführt wird. Alles dies wird nicht zu bestreiten sein, wenn es auch nicht als erschöpfend anerkannt wird.

              7) Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen, I. Aufl., Brannschweig 1863.
              8) Vgl. "Zur Geschichte der Akustik" in ,,Populärwissenschaftliche Vorlesungen, S. 48.

9) Der pte Partialton von n fällt mit dem qten von m zusammen, wenn p n = q m, also m = ist. Hierbei sind p, q ganze Zahlen.     Ebenso zustimmend kann man sich gegenüber Helmholtz' physiologischer Theorie des Hörens verhalten. Durch die Beobachtungen, welche sich beim Zusammenhang einfacher Töne ergeben, wird es äußerst wahrscheinlich, daß der Reihe der Schwingungszahlen eine Reihe von Nervenendorganen entspricht, so daß für die verschiedenen Schwingungszahlen verschiedene Endorgane vorhanden sind, von welchen jedes nur auf einige wenige einander naheliegende Schwingungszahlen anspricht; Helmholtz' physikalische Vorstellungen über die Funktion des Labyrinths haben sich dagegen als nicht haltbar erwiesen, worauf wir noch zurückkommen.

5.

Nach einem besonderen Gehörorgan für Geräusch zu suchen, scheint für jeden, der mit Helmholtz annimmt, daß alle Geräusche sich in länger oder kürzer anhaltende Tonempfindungen auflösen lassen, vorläufig überflüssig. Von dieser Inkonsequenz ist Helmholtz auch bald wieder zurückgekommen. Mit der Frage nach der Beziehung des Geräusches (insbesondere des Knalles) zum Ton habe ich mich vor langer Zeit (Winter 1872/73) beschäftigt und gefunden, daß sich alle Übergänge zwischen beiden aufweisen lassen. Ein Ton von 128 ganzen Schwingungen, den man durch den kleinen Ausschnitt einer großen, langsam rotierenden Scheibe hört, schrumpft zu einem kurzen trockenen Schlag (oder schwachen Knall) von sehr undeutlicher Tonhöhe zusammen, wenn seine Dauer auf 2—3 Schwingungen reduziert wird, während bei 4—5 Schwingungen die Höhe noch ganz deutlich ist. Anderseits bemerkt man an einem Knall, selbst wenn derselbe von einer aperiodischen Luftbewegung herrührt (Funkenwelle, explodierende Knallgasblase), bei genügender Aufmerksamkeit eine Tonhöhe, wenngleich keine sehr bestimmte. Man überzeugt sich auch leicht, daß an einem von der Dämpfung befreiten Klavier durch große explodierende Knallgasblasen vorzugsweise die tiefen, durch kleine die hohen Saiten zum Mitschwingen erregt werden. Hierdurch scheint es mir nachgewiesen, daß dasselbe Organ die Ton- und die Geräuschempfindung vermitteln kann. Man wird sich vorzustellen haben, daß eine schwächere, kurz dauernde aperiodische Luftbewegung alle, aber vorzugsweise die kleinen, leichter erregbaren, eine stärkere, längere anhaltende auch die größeren trägeren Endorgane erregt, welche dann bei ihrer geringeren Dämpfung, länger ausschwingend, sich bemerklich machen, und daß selbst bei verhältnismäßig schwachen periodischen Luftbewegungen durch Häufung der Effekte an einem bestimmten Gliede der Reihe der Endorgane die Reizung hervortritt10). Qualitativ ist die Empfindung, welche ein tiefer oder hoher Knall erregt, dieselbe, nur intensiver und von kürzerer Dauer, als diejenige, welche das Niederdrücken einer großen Anzahl benachbarter Klaviertasten in tiefer oder hoher Lage erregt. Auch fallen bei der einmaligen Reizung durch Knall die an die periodische intermittierende Reizung gebundenen Schwebungen weg.

10) Über einen Teil meiner Versuche; die an Dvo?áks Experimente über Nachbilder von Reizänderungen (1870) anknüpften, habe ich berichtet, in ,,Lotos", Augustnummer 1873. Die Versuche, betreffend die Erregung der Klaviertöne durch Explosionen, habe ich überhaupt noch nirgends erwähnt. Es wird vielleicht nicht unnütz sein, wenn es hier geschieht. — Dieselben Fragen haben später Pfaundler, S. Exner, Auerbach, Brücke, W. Kohlrausch, Abraham und Brühl u. A., und zwar von verschiedenen Gesichtspunkten aus, ausführlich behandelt.
6.

Helmholtz' Arbeit, welche bei ihrem Auftreten zunächst allgemeiner Bewunderung begegnete, erfuhr in späteren Jahren vielfache kritische Angriffe, und es scheint fast, als ob die anfängliche Überschätzung dem Gegenteil gewichen wäre. Physiker, Physiologen und Psychologen hatten ja durch beinahe vier Dezennien Zeit, die drei Seiten, welche diese Theorie darbietet, zu mustern, und es wäre wohl ein Wunder gewesen, wenn sie die schwachen Stellen nicht erspäht hätten. Ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu machen, wollen wir nun die hauptsächlichsten kritischen Bedenken in Augenschein nehmen, zunächst die von physikalischer und physiologischer Seite vorgebrachten unter einem, dann jene der Psychologen.
    Helmholtz hat, von psychologischen und physikalischen Gesichtspunkten geleitet, angenommen, daß das innere Ohr aus einem System von Resonatoren besteht, welches die Glieder der Fourierschen Reihe, die der dargebotenen Schwingungsform entspricht, als Teiltöne heraushört. Nach dieser Auffassung kann auch das Phasenverhältnis der Teilschwingungen auf die Empfindung keinen Einfluß üben. Dem entgegen versuchte der hochverdiente Akustiker König11) nachzuweisen, daß durch die bloße Phasenverschiebung der pendelförmigen Teilschwingungen der sinnliche Eindruck (die Klangfarbe) geändert werde. Aber L. Hermann12) konnte zeigen, daß bei Umkehrung des Bewegungssinnes am Phonographen keine Änderung der Klangfarbe sich ergibt. Nach Hermann erzeugen auch die einzelnen sinusförmigen Streifen der Königschen Wellensirene keine einfachen Töne, und Königs Schlüsse gründeten sich also auf eine nicht zutreffende Voraussetzung13). Diese Schwierigkeit kann demnach als beseitigt gelten.

             11) R. König, Quelques experiénces d'acoustique. Paris 1882.

             12) L. Hermann, Zur Lehre von der Klangwahrnehmung. Pflügers Archiv, Bd. 56 (1894), S. 467.

13) Ich habe schon 1867 Versuche angestellt mit einer eigentümlichen Sirene, welche einem der Königschen Apparate sehr ähnlich war. Die Mantelringe eines Zylinders trugen paarweise gleiche gegen einander verschiebbare sinusförmige Ausschnitte, so daß man Intensität und Phase des betreffenden Teiltones beliebig ändern konnte. Es zeigte sich jedoch bei diesen Versuchen, daß die sinusförmigen Ausschnitte keine einfachen Töne gaben, wenn durch eine der Sinusordinate parallele Spalte gegen dieselben geblasen wurde. Da mein Apparat noch ziemlich unvollkommen war und seinem Zweck, einen Klang aus Teiltönen von beliebiger Intensität und Phase zusammensetzen, nach dem Obigen nicht entsprach, so habe ich nichts über diese Versuche publiziert.     Nicht so leicht sind die Erscheinungen der Kombinationstöne vom Helmholtzschen Standpunkt aufzuklären. Young nahm an, daß genügend rasche Schwebungen selbst als Töne hörbar, d. h. zu Kombinationstönen werden. Da aber kein Resonator durch Schwebungen erregt werden kann, auf deren Tempo er gestimmt ist, sondern nur durch Töne, so könnten Kombinationstöne nach der Resonanztheorie nicht hörbar sein. Helmholtz setzte also voraus, daß Kombinationstöne entweder objektiv durch kräftige Töne vermöge der Abweichung von der Linearität der Bewegungsgleichungen, oder subjektiv durch asymmetrische oder nichtlineare Schwingungsbedingungen der resonierenden Teile des inneren Ohres zu erklären seien. Nun konnte König14) die Existenz von objektiven Kombinationstönen nicht nachweisen, fand dagegen auch zwischen weit abstehenden Tönen Schwebungen, welche jedesmal bei genügend rascher Folge als besondere Töne hörbar wurden. Hermann15) vernahm Kombinationstöne bei so schwachen zusammenwirkenden Tönen, daß erstere nach der Helmholtzschen Theorie sowohl objektiv als subjektiv ganz unerklärbar scheinen. Deshalb reagiert auch nach Hermanns Ansicht, der sich hierin der Königschen anschließt, das Ohr nicht nur auf sinusförmige Schwingungen, sondern auf jede Art von Periodizität mit einer durch die Dauer der Periode bestimmten Empfindung. 14) König, a. a. O. Schon nach Königs Beschreibung, der sehr starke Stimmgabeltöne verwendete, mußte ich vermuten, daß bei den von ihm beobachteten Schwebungen vielfach die Obertöne ins Spiel kamen. Die Mitwirkung solcher Obertöne hat nun Stumpf wirklich nachgewiesen (Wiedemanns Annalen, N. F. Bd. 57, S. 660). Von dieser Seite ist also die Helmholtzsche Theorie sicher. Allein bedenklich ist es, daß objektive Kombinationstöne nicht existieren (König, Hermann) und daß die subjektiven unter Umständen entstehen, welche mit der Helmholtzschen Theorie nicht vereinbar sind (Hermann). Vgl. auch M. Meyer, Zur Theorie der Differenztöne und der Gehörsempfindungen überhaupt (Zeitschr. f. Psychologie, Bd. 16, S. l).              15) Hermann, Zur Theorie der Kombinationstöne. Pflüger's Archiv, Bd. 49 (1891), S. 499.

    Die physikalische Resonanztheorie scheint, wenigstens in der ursprünglichen Form, nicht haltbar; Hermann16) glaubt sie aber durch eine physiologische Resonanztheorie ersetzen zu können. Auf diese, sowie auf die neue physikalische Hörtheorie von Ewald kommen wir noch zurück.

             16) Hermann, Pflüger's Archiv, Bd. 56, S. 493.

7.

Wir besprechen nun die Einwendungen, welche vorzugsweise von psychologischen Gesichtspunkten ausgehen. Ziemlich allgemein hat man das positive Moment bei Erklärung der Konsonanz vermißt, indem man sich mit dem bloßen Mangel an Schwebungen als zureichendem Merkmal der Harmonie nicht zufrieden geben wollte. Auch A. v. Oettingen17) vermißt die Angabe des für jedes Intervall charakteristischen positiven Elementes (S. 30) und will den Wert eines Intervalles nicht von der physikalischen Zufälligkeit des Gehaltes der Klänge an Obertönen abhängig machen. Er glaubt das positive Element in der Erinnerung (S. 40, 47) an den gemeinsamen Grundton (die Tonica) zu finden, als dessen Partialtöne die Klänge des Intervalles oft aufgetreten sind, oder in der Erinnerung an den gemeinsamen Oberton (die Phonica), welcher beiden zukommt. In bezug auf den negativen Teil der Kritik muß ich v. Oettingen vollkommen beistimmen. Die ,,Erinnerung" deckt aber das Bedürfnis der Theorie nicht, denn Konsonanz und Dissonanz sind nicht Sache der Vorstellung, sondern der Empfindung. Physiologisch halte ich also v. Oettingens Auffassung für nicht zutreffend. In v. Oettingens Aufstellung des Prinzipes der Dualität aber (der tonischen und phonischen Verwandtschaft der Klänge), sowie in seiner Auffassung der Dissonanz als eines mehrdeutigen Klanges (S. 244) scheinen mir wertvolle positive Leistungen zu liegen18).

             17) A. v. Oettingen, Harmoniesystem in dualer Entwicklung. Dorpat 1866.

18) Eine populäre Darstellung des Prinzips der Dualität, welches schon Euler (Tentamen novae theoriae musicae p. 103), D'Alembert (Eléments de musique,. Lyon 1766) und Hauptmann (Die Natur der Harmonik und Metrik, Leipzig 1853). geahnt haben, findet sich in meiner kleinen Schrift: Die Gestalten der Flüssigkeit. Die Symmetrie, Prag 1872 (Popul.-wissensch. Vorl., 3. Aufl., S. 110). — An eine vollwertige Symmetrie wie im Gebiete des Gesichtssinnes darf natürlich im Gebiete der Musik, da die Tonempfindungen selbst kein symmetrisches System bilden, nicht gedacht werden.
8.

Sehr eingehend hat Stumpf in verschiedenen Schriften die Helmholtzsche Lehre kritisiert19). Er beanstandet zunächst die zwei verschiedenen Definitionen, durch Wegfall der Schwebungen und durch Koinzidenz der Partialtöne, die Helmholtz von der Konsonanz gibt. Die erstere sei bei melodischer Folge, die letztere bei harmonischer Verbindung nicht anwendbar und nicht charakteristisch. Ein nach Art der Schwebungen intermittierender reiner Dreiklang ist keine Dissonanz. Anderseits lassen sich Beispiele von Zusammenklang weit abliegender Töne geben, bei welchen die Schwebungen unmerklich werden, und die dennoch stark dissonieren. Verteilt man zwei Stimmgabeltöne auf beide Ohren, so treten die Schwebungen jedenfalls sehr zurück, ohne daß der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz geringer würde. Auch subjektiv gehörte Töne, etwa des Ohrenklingens, kann man als Dissonanzen empfinden, ohne natürlich Schwebungen zu hören. Endlich erweisen sich bloß vorgestellte Töne als konsonant und dissonant, ohne daß hierbei die Vorstellung der Schwebungen eine wesentliche Rolle spielen würde. Die Koinzidenz der Partialtöne endlich fällt weg, wo keine Obertöne vorhanden sind, ohne daß deshalb der Unterschied zwischen Dissonanz und Konsonanz verschwinden würde. Von den Ausführungen Stumpfs gegen die Erklärung der Konsonanz durch unbewußtes Zählen, welche wohl nur mehr wenige Anhänger finden wird, wollen wir absehen20). Ebenso wird man gern zugeben, daß die Annehmlichkeit keine hinreichend charakteristische Eigenschaft der Konsonanz ist. Dieselbe kann unter Umständen. ebensowohl der Dissonanz zukommen.

19) Wir halten uns hier vor allem an Stumpf, Beiträge zur Akustik und Musik-Wissenschaft, Heft l, Leipzig 1898.

20) Solche wurden versucht von Leibniz, Euler, in neuerer Zeit von Oppel, dann von Lipps (Psychologische Studien 1885) und endlich in umfangreichen Schriften von A. J. Polak (Über Zeiteinheit in bezug auf Konsonanz, Harmonie und Tonalität,. Leipzig 1900, — Über Tonrhythmik und Stimmführung, Leipzig 1902, — Die Harmonisierung indischer, türkischer und japanischer Melodien, Leipzig 1905).

     Stumpf selbst findet das Charakteristische der Konsonanz darin, daß sich der Zusammenklang beider Töne bald mehr bald weniger dem Eindruck eines Tones nähert. Er definiert die Konsonanz durch die "Verschmelzung". Er kehrt sozusagen zu den antiken Ansichten zurück, von welchen er eine ausführliche Geschichte21) gibt. Auch Helmholtz ist diese Auffassung nicht fremd; er diskutiert dieselbe, glaubt aber allerdings die erste richtige Erklärung des Verschmelzens der Klänge gegeben zu haben. 21) C. Stumpf, Geschichte des Konsonanzbegriffes, I. Teil. Abhandl. der Münchener Akademie, phil.-hist. Kl., 1897.     Daß bei Konsonanz eine Verschmelzung der Töne stattfindet, zeigt Stumpf durch statistische Versuche. Unmusikalische halten gleichzeitig angegebene Töne desto öfter für einen, je besser dieselben konsonieren. Das Bedürfnis, die Verschmelzung weiter zu erklären, leugnet Stumpf nicht. Verschmelzen die Töne durch Ähnlichkeit, so muß dieselbe eine andere sein, als diejenige, auf welcher die Reihenfolge der Töne beruht, denn die letztere nimmt mit dem Abstand der Töne stetig ab. Da ihm aber ein solches zweites Ähnlichkeitsverhältnis rein hypothetisch scheint, so zieht er es vor, an eine physiologische Erklärung anderer Art zu denken. Die Gehirnprozesse beim gleichzeitigen Empfinden zweier Töne von einfacherem Schwingungszahlenverhältnis sollen in einer engeren Beziehung (in spezifischer Synergie) stehen, als wenn das Schwingungszahlenverhältnis komplizierter ist22). Auch aufeinander folgende Töne können verschmelzen. Obgleich die homophone Musik der polyphonen historisch vorausgeht, hält es Stumpf doch für wahrscheinlich, daß die Auswahl der Tonstufen auch für erstere durch Erfahrungen beim gleichzeitigen Hören der Töne geleitet war. In allem Wesentlichen wird man der Stumpfschen Kritik zustimmen müssen.

             22) C. Stumpf, Beiträge zur Akustik, Heft l, S. 50.

9.

Ich selbst habe schon in einer 186323) erschienenen Abhandlung und auch später24) einige kritische Bemerkungen über die Helmholtzsche Theorie gemacht, und 1866 in einer kurz vor der Oettingenschen erschienenen kleinen Schrift25) sehr bestimmt einige Forderungen bezeichnet, welchen eine vollständigere Theorie zu genügen hätte. Weitere Ausführungen habe ich in der ersten Auflage dieser Schrift (1886) gegeben.

              23) Mach, Zur Theorie des Gehörorgans. Sitzungsberichte der Wiener Akademie, 1863.

24) Vgl. meine: Bemerkungen zur Lehre vom räumlichen Sehen. Fichtes Zeitschrift für Philosophie, 1865. (Popul.-wissensch. Vorl., S. 117.)              25) Einleitung in die Helmholtzsche Musiktheorie. Graz 1866. S. d. Vorwort und SS. 23 fg., 46, 88.

    Gehen wir von der Vorstellung aus, daß eine Reihe von physikalisch oder physiologisch abgestimmten Endorganen existiert, deren Glieder bei steigender Schwingungszahl nacheinander im Maximum ansprechen, und schreiben wir jedem Endorgan seine besondere (spezifische) Energie zu. Dann gibt es so viele spezifische Energien als Endorgane und ebensoviele für uns durch das Gehör unterscheidbare Schwingungszahlen.
    Wir unterscheiden aber nicht bloß die Töne, wir ordnen sie auch in eine Reihe. Wir erkennen von drei Tönen verschiedener Höhe den mittleren ohne weiteres als solchen. Wir empfinden unmittelbar, welche Schwingungszahlen einander näher, welche ferner liegen. Das ließe sich für naheliegende Töne noch leidlich erklären. Denn wenn wir die Schwingungsweiten, die einem bestimmten Ton zukommen, symbolisch durch die Ordinaten der Kurve abc, Figur 35, darstellen, und diese Kurve uns allmählich im Sinne des Pfeiles verschoben denken, so werden naheliegenden Tönen, weil stets mehrere Organe zugleich ansprechen, auch immer schwache gemeinsame Reizungen zukommen. Allein auch ferner liegende Töne haben eine gewisse Ähnlichkeit, und auch an dem höchsten und tiefsten Ton erkennen wir noch eine solche. Nach dem uns leitenden Forschungsgrundsatze müssen wir also in allen Tonempfindungen gemeinsame Bestandteile annehmen. Es kann also nicht so viele spezifische Energien geben, als es unterscheidbare Töne gibt. Für das Verständnis der Tatsachen, die wir hier zunächst im Auge haben, genügt die Annahme von nur zwei Energien, die durch verschiedene Schwingungszahlen in verschiedenem Verhältnis ausgelöst werden. Eine weitere Zusammensetzung der Tonempfindungen ist aber durch diese Tatsachen nicht ausgeschlossen und wird durch die später zu besprechenden Erscheinungen sehr wahrscheinlich.


Fig. 35

    Die aufmerksame psychologische Analyse der Tonreihe führt unmittelbar zu dieser Ansicht. Aber auch wenn man für jedes Endorgan zunächst eine besondere Energie annimmt, und bedenkt, daß diese Energien einander ähnlich sind, also gemeinsame Bestandteile enthalten müssen, gelangt man auf denselben Standpunkt. Nehmen wir also an, nur um ein bestimmtes Bild vor uns zu haben, daß bei dem Übergang von den kleinsten zu den größten Schwingungszahlen die Tonempfindung ähnlich variiert wie die Farbenempfindung, wenn man vom reinen Rot, etwa durch allmähliche Zumischung von Gelb, zum reinen Gelb übergeht. Hierbei können wir die Vorstellung, daß für jede unterscheidbare Schwingungszahl ein besonderes Endorgan vorhanden ist, vollkommen aufrecht erhalten, nur werden durch verschiedene Organe nicht ganz verschiedene Energien, sondern immer dieselben zwei in verschiedenem Verhältnis ausgelöst26).

26) Die Ansicht, daß auf verschiedene Schwingungszahlen verschiedene Endorgane ansprechen, ist durch die Schwebungen naheliegender Töne und andere von Helmholtz hervorgehobene Tatsachen zu wohlbegründet und für das Verständnis der Erscheinungen zu wertvoll, als daß sie wieder aufgegeben werden könnte. — Die hier dargelegte Ansicht benützt die (namentlich von Hering) bei Analyse der Farbenempfindungen gewonnenen Erfahrungen.
10.

Wie kommt es nun, daß so viele gleichzeitig erklingende Töne unterschieden werden, und nicht zu einer Empfindung verschmelzen, daß zwei ungleich hohe Töne nicht zu einem Mischton von mittlerer Höhe zusammenfließen? Dadurch, daß dies tatsächlich nicht geschieht, ist die Ansicht, die wir uns zu bilden haben, weiter bestimmt. Wahrscheinlich verhält es sich ganz ähnlich, wie bei einer Reihe von Mischfarben von Rot und Gelb, welche an verschiedenen Stellen des Raumes auftreten, die ebenfalls unterschieden werden und nicht zu einem Eindruck zusammenfließen. In der Tat stellt sich eine ähnliche Empfindung ein, wenn man von der Beachtung eines Tones übergeht zur Beachtung eines anderen, wie beim Wandern eines fixierten Punktes im Sehfeld. Die Tonreihe befindet sich in einem Analogon des Raumes, in einem beiderseits begrenzten Raum von einer Dimension, der auch keine Symmetrie darbietet, wie etwa eine Gerade, die von rechts nach links senkrecht zur Medianebene verläuft. Vielmehr ist derselbe analog einer vertikalen Geraden, oder einer Geraden, welche in der Medianebene von vorn nach hinten verläuft. Während außerdem die Farben nicht an die Raumpunkte gebunden sind, sondern sich im Raum bewegen können, weshalb wir die Raumempfindungen so leicht von den Farbenempfindungen trennen, verhält es sich in Bezug auf die Tonempfindung anders. Eine bestimmte Tonempfindung kann nur an einer bestimmten Stelle des besagten eindimensionalen Raumes vorkommen, die jedesmal fixiert werden muß, wenn die betreffende Tonempfindung klar hervortreten soll. Man kann sich nun vorstellen, daß verschiedene Tonempfindungen in verschiedenen Teilen der Tonsinnsubstanz auftreten, oder daß neben den beiden Energien, deren Verhältnis die Färbung der hohen und tiefen Töne bedingt, noch eine dritte, einer Innervation ähnliche besteht, welche beim Fixieren der Töne auftritt. Auch beides zugleich könnte stattfinden. Zur Zeit dürfte es weder möglich noch schon notwendig sein, hierüber zu entscheiden.
    Daß das Gebiet der Tonempfindungen eine Analogie zum Raum darbietet, und zwar zu einem Raum, der keine Symmetrie aufweist, drückt sich schon unbewußt in der Sprache aus. Man spricht von hohen und tiefen Tönen, nicht von rechten und linken, wiewohl unsere Musikinstrumente letztere Bezeichnung sehr nahe legen.

11.

In einer meiner ersten Arbeiten27) habe ich die Ansicht vertreten, daß das Fixieren der Töne mit der veränderlichen Spannung des Tensor tympani zusammenhänge. Diese Ansicht kann ich meinen eigenen Beobachtungen und Experimenten gegenüber nicht aufrecht erhalten. Die Raumanalogie fällt hiermit jedoch nicht, sondern es ist nur das betreffende physiologische Element erst aufzufinden. Die Annahme, daß die Vorgänge im Kehlkopf (beim Singen) zur Bildung der Tonreihe beitragen, habe ich in der Arbeit von 1863 ebenfalls berührt, aber nicht haltbar gefunden. Das Singen ist zu äußerlich und zufällig mit dem Hören verbunden. Ich kann Töne weit über die Grenzen meiner Stimme hinaus hören und mir vorstellen. Wenn ich eine Orchesteraufführung mit allen Stimmen höre, oder wenn mir dieselbe als Halluzination entgegentritt, so kann ich mir unmöglich denken, daß mir das Verständnis des ganzen Stimmengewebes durch meinen einen Kehlkopf, der noch dazu gar kein geübter Sänger ist, vermittelt wird. Ich halte die Empfindungen, die man beim Hören von Musik gelegentlich zweifellos im Kehlkopf bemerkt, für nebensächlich, so wie ich mir in meiner musikalisch geübteren Zeit rasch zu jedem gehörten Klavier- oder Orgelstück nebenbei die gegriffenen Tasten vorstellte. Wenn ich mir Musik vorstelle, höre ich immer deutlich die Töne. Aus den die Musikaufführungen begleitenden motorischen Empfindungen allein wird keine Musik, so wenig der Taube, der die Bewegungen der Spieler im Orchester sieht, Musik hört. Ich kann also in diesem Punkte Strickers Ansicht nicht zustimmen. (Vergl. Stricker, Du langage et de la musique. Paris 1885.)

27) Zur Theorie des Gehörorgans, 1863. — Durch gemeinschaftlich mit Kessel ausgeführte Versuche ,,über die Akkommodation des Ohres" (Sitzb. der Wiener Akademie, Bd. 66, Abt. 3, Oktober 1872) gelang der Nachweis einer veränderlichen Stimmung und Resonanzfähigkeit des Gehörpräparates für verschiedene Töne, indem die Exkursionen der durch einen Schlauch zugeführten Schallschwingungen mikroskopisch beobachtet wurden. Eine derartige spontane Veränderung der Stimmung am lebenden Ohr nachzuweisen, gelang aber nicht bei Einleitung des Schalles und Beobachtung durch einen hierzu konstruierten Mikroskop-Ohrenspiegel. Ich bin aber später zweifelhaft geworden, ob die gewaltigen Schwingungen, die man so beobachtet, überhaupt maßgebend sind, da sie doch ohne Schaden kaum ungedämpft ins Labyrinth gelangen könnten. Solange man also nicht die Schwingungen am lebenden Ohr beim normalen Hören mit Sicherheit zu beobachten vermag, wird diese Frage kaum endgültig zu entscheiden sein. Eine Lichtinterferenzmethode könnte zum Ziele führen. Dieselbe müßte aber von besonders einfacher Form sein, um unter den schwierigen Verhältnissen des lebenden Ohres anwendbar zu sein.     Anders muß ich mich zu Strickers Ansicht über die Sprache stellen (vergl. Stricker, Die Sprachvorstellungen, Wien 1880). Zwar tönt mir eine Rede, an die ich denke, voll ins Ohr, ich zweifle auch nicht, daß durch das Erklingen der Hausglocke, durch einen Lokomotivenpfiff usw. direkt Gedanken erregt werden können, daß kleine Kinder und selbst Hunde Worte verstehen, die sie nicht nachsprechen können; doch bin ich durch Stricker überzeugt worden, daß zwar nicht der einzig mögliche, aber der gewöhnliche uns geläufige Weg des Sprachverständnisses der motorische ist, und daß wir sehr übel daran sind, wenn uns dieser abhanden kommt. Ich kann selbst aus meiner Erfahrung Bestätigungen dieser Ansicht anführen. Fremde, die meiner Rede folgen wollen, sehe ich häufig leise die Lippen bewegen. Gibt mir jemand seine Wohnung an, und versäume ich den Straßennamen und die Hausnummer nachzusprechen, so vergesse ich die Adresse gewiß, behalte sie aber bei Gebrauch dieser Vorsicht im Gedächtnis. Ein Freund sagte mir kürzlich, er wolle das indische Drama "Urvasi" nicht lesen, weil er die Namen nur mit Mühe zusammenbuchstabiere, und folglich nicht behalte. Der Traum des Taubstummen, von dem Stricker erzählt, ist überhaupt nur nach seiner Ansicht verständlich. — Bei ruhiger Überlegung ist dieses anscheinend paradoxe Verhältnis auch gar nicht so wunderbar. Wie sehr sich unsere Gedanken in gewohnten, einmal eingeübten Bahnen bewegen, zeigt die überraschende Wirkung eines Witzes. Gute Witze wären nicht so selten, wenn wir uns nicht vorzugsweise in ausgefahrenen Bahnen bewegen würden. Manchem fällt die naheliegende Nebenbedeutung eines Wortes gar nie ein. Und wer denkt, wenn er die Namen Schmied, Schuster, Schneider als Namen gebraucht, an die betreffenden Handwerke? — Um ein naheliegendes Beispiel aus einem anderen Gebiete anzuführen, bringe ich in Erinnerung, daß ich Spiegelschrift neben dem Original sofort als mit diesem symmetrisch-kongruent erkenne, ohne sie doch direkt lesen zu können, da ich die Schrift motorisch mit der rechten Hand erlernt habe. Daran kann ich am besten erläutern, warum ich Stricker nicht auch in Bezug auf Musik beistimme: Die Musik verhält sich zur Sprache, wie das Ornament zur Schrift.

12.

Die Analogie zwischen dem Fixieren von Raumpunkten und dem Fixieren von Tönen habe ich wiederholt durch Experimente erläutert, die ich hier nochmals anführen will. Dieselbe Kombination von zwei Tönen klingt verschieden, je nachdem man den einen oder den anderen beachtet. Die Kombinationen 1 und 2 haben einen merklich verschiedenen Charakter, ja nachdem man den obern oder untern Ton fixiert. Wer die Aufmerksamkeit nicht willkürlich zu leiten vermag, helfe sich dadurch, daß er den einen Ton später eintreten läßt (3, 4). Dieser zieht dann die Aufmerksamkeit auf sich. Bei einiger Übung gelingt es, eine Harmonie (wie 5) in ihre Bestandteile aufzulösen, und diese (etwa wie bei 6) einzeln herauszuhören. Diese und die folgenden Experimente werden der anhaltenden Töne wegen besser und überzeugender mit der Physharmonika, als mit dem Klavier ausgeführt.

    Besonders überraschend ist die Erscheinung, die eintritt, wenn man einen fixierten Ton in einer Harmonie erlöschen läßt. Die Aufmerksamkeit gleitet dann auf einen der nächstliegenden über, welcher mit einer Deutlichkeit auftaucht, als wenn er eben angeschlagen worden wäre. Der Eindruck des Experimentes ist ganz ähnlich demjenigen, den man erhält, wenn man, in die Arbeit vertieft, plötzlich den gleichmäßigen Schlag der Pendeluhr auftauchen hört, der gänzlich aus dem Bewußtsein geschwunden war. Im letzteren Falle tritt das ganze Tongebiet über die Schwelle, während im ersteren ein Teil höher gehoben wird. Fixiert man z. B. in 7 die Oberstimme, während man von oben nach unten fortschreitend einen Ton nach dem andern erlöschen läßt, so erhält man ungefähr den Eindruck 8. Fixiert man in 9 den tiefsten Ton und verfährt umgekehrt, so erhält man den Eindruck 10.
    Dieselbe Harmoniefolge klingt sehr verschieden, je nach der fixierten Stimme. Fixiere ich in 11 oder 12 die Oberstimme, so scheint sich nur die Klangfarbe zu ändern. Beachtet man aber in 11 den Baß, so scheint die ganze Klangmasse in die Tiefe zu fallen, dagegen zu steigen, wenn man in 12 den Schritt e—f beachtet. Es wird hierbei recht deutlich, daß Akkorde sich als Vertreter von Klängen verhalten können. Lebhaft erinnern diese Beobachtungen an den wechselnden Eindruck, den man erhält, wenn man in einem Ornament bald diesen, bald jenen Punkt fixiert.
    Es sei hier noch an das unwillkürliche Wandern der Aufmerksamkeit erinnert, welches beim (mehrere Minuten) anhaltenden gleichmäßigen Erklingen eines Harmoniumtones eintritt, wobei nach und nach alle Obertöne von selbst in voller Klarheit auftauchen28). Der Vorgang scheint auf eine Erschöpfung der Aufmerksamkeit für einen länger beobachteten Ton zu deuten. Diese Erschöpfung wird auch wahrscheinlich durch ein Experiment, welches ich an einem andern Orte ausführlicher beschrieben habe29). Die hier dargelegten Verhältnisse im Gebiete der Tonempfindungen könnten etwa durch folgendes Bild veranschaulicht werden. Gesetzt, unsere beiden Augen wären nur einer einzigen Bewegung fähig, sie vermöchten nur die Punkte einer horizontalen, in der Medianebene liegenden Geraden durch wechselnde symmetrische Konvergenzstellung zu verfolgen, der nächste fixierte Punkt sei rein rot, der fernste, welcher der Parallelstellung entspricht, rein gelb, und dazwischen lägen alle Übergänge; so würde dieses System unserer Gesichtsempfindungen die Verhältnisse der Tonempfindungen sehr fühlbar nachahmen.

Fig. 36

             28) Vgl. meine "Einleitung in die Helmholtzsche Musiktheorie", S. 29.
             29) Vgl. meine "Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen", S. 58.

13.

Nach der bisher gewonnenen Ansicht bleibt eine in dem folgenden zu betrachtende wichtige Tatsache unverständlich, deren Erklärung aber von einer vollständigeren Theorie unbedingt gefordert werden muß. Wenn zwei Tonfolgen von zwei verschiedenen Tönen ausgehen und nach denselben Schwingungszahlenverhältnissen fortschreiten, so erkennen wir in beiden dieselbe Melodie ebenso unmittelbar durch die Empfindung, als wir an zwei geometrisch ähnlichen, ähnlich liegenden Gebilden die gleiche Gestalt erkennen. Gleiche Melodien in verschiedener Lage können als Tongebilde von gleicher Tongestalt oder als ähnliche Tongebilde bezeichnet werden. Man kann sich überzeugen, daß dieses Erkennen nicht an die Verwendung geläufiger musikalischer Intervalle oder oft verwendeter einfacherer Schwingungszahlenverhältnisse gebunden ist. Wenn man an einer Violine oder überhaupt an einem mehrsaitigen Instrument, die einzelnen leeren Saiten in beliebige unharmonische Stimmung bringt, dann auf dem Griffbrett ein ganz beliebig in komplizierten Verhältnissen geteiltes Papier befestigt, so kann man dieselben Teilungspunkte in beliebiger Folge, erst auf der einen, dann auf den anderen Saiten greifen, oder schleifend verbinden. Obgleich nun das Gehörte gar keinen musikalischen Sinn hat, erkennt man auf jeder Saite dieselbe Melodie wieder. Das Experiment würde sich nicht überzeugender gestalten, wenn man die Teilung in irrationalen Verhältnissen vornehmen wollte. Dies gelingt ja in Wirklichkeit nur annähernd. Der Musiker könnte immer noch behaupten, er höre den bekannten musikalischen Intervallen nahe liegende oder zwischen denselben liegende. Nicht abgerichtete Singvögel bedienen sich nur ausnahmsweise der musikalischen Intervalle.
    Schon bei einer Folge von nur zwei Tönen wird die Gleichheit des Schwingungszahlenverhältnisses unmittelbar erkannt, die Tonfolgen c—f, d—g, e—a usw., welche alle dasselbe Schwingungszahlenverhältnis (3 : 4) darbieten, werden alle unmittelbar als gleiche Intervalle, als Quarten erkannt. Dies ist die Tatsache in ihrer einfachsten Form. Das Merken und Wiedererkennen der Intervalle ist das Erste, was sich der angehende Musiker aneignen muß, wenn er mit seinem Gebiet vertraut werden will.
    E. Kulke hat in einer kleinen, sehr lesenswerten Schrift30) eine hierauf bezügliche Mitteilung über die originelle Unterrichtsmethode von P. Cornelius gemacht, die ich hier nach Kulkes mündlicher Mitteilung noch ergänzen will. Um die Intervalle leicht zu erkennen, ist es nach Cornelius zweckmäßig, sich einzelne Tonstücke, Volkslieder usw. zu merken, welche mit diesen Intervallen beginnen. Die Tannhäuser-Ouvertüre beginnt z. B. mit einer Quart. Höre ich eine Quarte, so bemerke ich sofort, daß die Tonfolge der Beginn der Tannhäuser - Ouvertüre sein könnte, und erkenne daran das Intervall. Ebenso kann die Fidelio - Ouvertüre No. 1 als Repräsentant der Terz verwendet werden, usw. Dieses vortreffliche Mittel, welches ich bei akustischen Demonstrationen erprobt und sehr wirksam gefunden habe, ist anscheinend eine Komplikation. Man könnte meinen, es müßte leichter sein, ein Intervall, als eine Melodie zu merken. Doch bietet eine Melodie der Erinnerung mehr Hilfen, so wie man ein individuelles Gesicht leichter merkt und mit einem Namen verknüpft, als einen bestimmten Winkel oder eine Nase. Jeder Mensch merkt sich Gesichter und verknüpft sie mit Namen; Leonardo da Vinci hat aber die Nasen in ein System gebracht

         30) E. Kulke, Über die Umbildung der Melodie. Ein Beitrag zur Entwicklungslehre. Prag (Calve) 1884.

14.

So wie jedes Intervall in der Tonfolge in charakteristischer Weise sich bemerklich macht, ebenso verhält es sich in der harmonischen Verbindung. Jede Terz, jede Quart, jeder Molldreiklang oder Durdreiklang hat seine eigentümliche Färbung, an welcher er unabhängig von der Höhe des Grundtons und unabhängig von der Zahl der Schwebungen, welche ja mit dieser Höhe rasch zunimmt, erkannt wird.
    Eine Stimmgabel, die man vor ein Ohr hält, hört man fast nur mit diesem Ohr. Bringt man zwei etwas gegen einander verstimmte, stoßende Stimmgabeln vor dasselbe Ohr, so sind die Stöße sehr deutlich. Stellt man aber die eine Gabel vor das eine, die andere vor das andere Ohr, so werden die Stöße sehr schwach. Zwei in einem harmonischen Intervall stehende Gabeln klingen stets etwas rauher vor einem Ohr. Der Charakter der Harmonie bleibt aber auch bewahrt, wenn man vor je ein Ohr eine Gabel stellt31). Auch die Disharmonie bleibt bei diesem Experiment sehr deutlich. Harmonie und Disharmonie sind jedenfalls nicht durch die Schwebungen allein bestimmt.

31) Vgl. Fechner, Über einige Verhältnisse des binokularen Sehens. Leipzig 1860, S. 536. — Ich habe solche Versuche vielfach selbst angestellt.
15.

Sowohl bei der melodischen als bei der harmonischen Verbindung zeichnen sich die Töne, welche in einfachen Schwingungszahlenverhältnissen stehen, 1) durch Gefälligkeit und 2) durch eine für jenes Verhältnis charakteristische Empfindung aus. Was die Gefälligkeit betrifft, so kann nicht in Abrede gestellt werden, daß dieselbe teilweise durch das Zusammenfallen der Partialtöne und bei harmonischer Verbindung auch durch das hiermit verbundene Zurücktreten der Schwebungen bei bestimmten Schwingungszahlenverhältnissen aufgeklärt ist. Der unbefangene Musikerfahrene ist aber nicht ganz befriedigt. Ihn stört die zu bedeutende Rolle, welche der zufälligen Klangfarbe eingeräumt wird, und er merkt, daß die Töne noch in einer positiven Kontrastbeziehung stehen, wie die Farben, nur daß bei Farben keine so genauen gefälligen Verhältnisse angegeben werden können.
    Die Bemerkung, daß wirklich eine Art Kontrast unter den Tönen besteht, drängt sich beinahe von selbst auf. Ein konstanter glatter Ton ist etwas sehr Unerfreuliches und Farbloses, wie eine gleichmäßige Farbe, in welche sich unsere ganze Umgebung hüllt. Erst ein zweiter Ton, eine zweite Farbe wirkt belebend. Läßt man einen Ton, wie beim Experimentieren mit der Sirene, langsam in die Höhe schleifen, so geht ebenfalls aller Kontrast verloren. Derselbe besteht hingegen zwischen weiter abstehenden Tönen, und nicht nur zwischen den sich unmittelbar folgenden, wie das nebenstehende Beispiel erläutern mag. Der Gang 2 klingt ganz anders nach 1 als allein, 3 klingt anders als 2, und auch 5 anders als 4 unmittelbar nach 3.

16.

Wenden wir uns nun zu dem zweiten Punkt, der charakteristischen Empfindung, welche jedem Intervall entspricht, und fragen wir, ob dieselbe nach der bisherigen Theorie erklärt werden kann. Wenn ein Grundton n mit seiner Terz m melodisch oder harmonisch verbunden wird, so fällt der 5. Partialton des ersten Klanges (5n) mit dem vierten des zweiten Klanges (4m) zusammen. Dies ist das Gemeinsame, was nach der Helmholtzschen Theorie allen Terzverbindungen zukommt. Kombiniere ich die Klänge C und E oder F und A und stelle in dem folgenden Schema ihre Partialtöne dar, so koinzidieren in der Tat in dem einen Fall die mit , in dem andern die mit  bezeichneten Partialtöne, in beiden Fällen der fünfte Partialton des tieferen mit dem vierten Partialton des höheren Klanges. Dieses Gemeinsame besteht aber nur für den physikalisch analysierenden Verstand, und hat mit der Empfindung nichts zu schaffen. Für die Empfindung koinzidieren in dem ersten Fall die ?, in dem zweiten die ?, also ganz verschiedene Töne. Gerade dann, wenn wir für jede unterscheidbare Schwingungszahl eine zugehörige spezifische Energie annehmen, müssen wir fragen, wo bleibt der jeder Terzverbindung gemeinsame Empfindungsbestandteil?

    Man halte diese meine Unterscheidung nicht für Pedanterie und Haarspalterei. So wenig meine Frage, worin die physiologische Ähnlichkeit der Gestalten zum Unterschied von der geometrischen bestehe, überflüssig war, so wenig ist diese gleichzeitig (vor etwa 40 Jahren) gestellte Frage unnötig. Will man ein physikalisches oder mathematisches Kennzeichen der Terz als ein Merkmal der Terzempfindung gelten lassen, so begnüge man sich nach Euler32) mit der Koinzidenz von je vier und fünf Schwingungen, welche Auffassung gar nicht so übel war, solange man glauben konnte, daß der Schall auch im Nerv noch als periodische Bewegung fortgehe, was A. Seebeck (Pogg. Ann., Bd. 68) noch für möglich gehalten hat33). Die Helmholtzsche Koinzidenz von 5n und 4m ist in Bezug auf diesen Punkt nicht weniger symbolisch und nicht aufklärender.

              32) Euler, Tentamen novae theoriae musicae. Petropoli 1739, S. 36.

33) Es ist mir unverständlich, wie man heute noch die Theorie der zeitlichen Koinzidenz der Impulse aufrecht halten kann. Ich habe seinerzeit A. Seebecks Experiment, wie ich glaube, durch ein besseres Verfahren ersetzt (Über einige der physiologischen Akustik angehörige Erscheinungen, Ber. d. Wiener Akademie vom 26. Juni 1864), habe aber eine Periodizität im empfundenen Nervenprozeß nicht annehmen können. Der Umstand, daß zwischen einem subjektiven und einem naheliegenden objektiven Ton, ebenso zwischen zwei subjektiven Tönen niemals Schwebungen beobachtet werden, war ja damals nicht bekannt, ist aber gegenwärtig nicht mehr zu bezweifeln. Man vergleiche Stumpfs interessante Mitteilung ".Beobachtungen über subjektive Töne und über Doppelthören" (Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane, Bd. 21, S. 100—121). Die subjektiven Töne, die in meinem Ohr auftreten, sind gewöhnlich von zu kurzer Dauer, um mit denselben zu experimentieren. Doch gelang es mir kürzlich (1906), mit einem sehr deutlichen und konstanten zum Klavier zu gelangen und mich zu überzeugen, daß bei leisem Anschlagen des eine Spur tieferen  auf dem Klavier keine Schwebungen nachweisbar waren. Für mich war dieser Nachweis ja überflüssig, denn ich halte die gegenteilige Annahme physiologisch für unzulässig. Sehr wichtig sind aber Stumpfs Beobachtungen der Konsonanz und Dissonanz subjektiver schwebungsloser Töne.
17.

Bis hierher habe ich meine Ausführungen mit der Überzeugung vorgebracht, daß ich nicht nötig haben werde, einen wesentlichen Schritt zurück zu tun. Dieses Gefühl begleitet mich nicht in gleichem Maße bei der Entwicklung der folgenden Hypothese, die sich mir im wesentlichen vor langer Zeit dargeboten hat. Sie mag aber wenigstens dazu dienen, die Forderung, die ich an eine vollständigere Theorie der Tonempfindungen glaube stellen zu müssen, auch von der positiven Seite zu beleuchten und zu erläutern. Ich will meine Ansicht zunächst so darstellen, wie dies in der ersten Auflage dieser Schrift geschehen ist.
    Für ein Tier von einfacher Organisation sei die Wahrnehmung leiser periodischer Bewegungen des Mediums, in dem es sich befindet, eine wichtige Lebensbedingung. Wird der Wechsel der Aufmerksamkeit (wegen der zu großen Organe, in welchen so rapide Änderungen nicht mehr eintreten können) zu träge und die Oszillationsperiode zu kurz, die Amplitude zu klein, als daß die einzelnen Phasen der Reizung ins Bewußtsein fallen könnten, so wird es noch möglich sein, die gehäuften Empfindungseffekte des oszillatorischen Reizes wahrzunehmen. Das Gehörorgan wird dem Tastorgan den Rang ablaufen34). Ein schwingungsfähiges Endorgan (ein Hörhaar) spricht nun vermöge seiner physikalischen Eigenschaften nicht auf jede Schwingungszahl an, aber auch nicht auf eine, sondern gewöhnlich auf mehrere weit von einander abliegende35). Sobald also das ganze Kontinuum der Schwingungszahlen zwischen gewissen Grenzen für das Tier von Wichtigkeit wird, genügen nicht mehr einige wenige Endorgane, sondern es stellt sich das Bedürfnis nach einer ganzen Reihe solcher Organe von abgestufter Stimmung ein. Als ein solches System wurde von Helmholtz zunächst das Cortische Organ, dann die Basilarmembran angesehen.

34) Es ist deshalb fraglich, ob Tiere, welche ein so kleines Zeitmaß haben, daß ihre willkürlichen Bewegungen für uns tönen, in dem gewöhnlichen Sinne hören, oder ob vielmehr nicht das ein Tasten ist, was uns an ihnen den Eindruck des Hörens macht, Vgl. z. B. die schönen Versuche und Beobachtungen von V. Graber (Die chordotonalen Organe. Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. 20, S. 506). – Vgl. ,,Bewegungsempfindun-gen", S. 123. – Diese Vermutung hat sich seither vielfach bestätigt. – Populärwiss. Vorles., 3. Aufl., S. 401.              35) Wie z. B. V. Hensen beobachtet hat.

    Schwerlich wird nun ein Glied dieses Systems nur auf eine Schwingungszahl ansprechen. Wir müssen vielmehr erwarten, daß es viel schwächer in abgestufter Intensität (vielleicht durch Knoten abgeteilt) auch auf die Schwingungszahlen 2n, 3n, 4n usw., und ebenso auch auf die Schwingungszahlen  usw. anspricht. Da die Annahme einer besondern Energie für jede Schwingungszahl sich als unhaltbar gezeigt hat, so stellen wir uns dem Obigen gemäß vor, daß zunächst nur zwei Empfindungsenergien, sagen wir Dumpf (D) und Hell (H) ausgelöst werden. Die betreffende Empfindung wollen wir (ähnlich wie dies bei Mischfarben geschieht) symbolisch durch pD + qH darstellen, oder wenn wir p + q = 1 setzen, und q als eine Funktion f(n) der Schwingungszahl ansehen 36), durch

[1 - f(n)]D + f(n)H.

    Die auftretende Empfindung soll nun der Schwingungszahl des oszillatorischen Reizes entsprechen, an welchem Glied der Reihe der Endorgane der Reiz auch angreifen mag. Hierdurch wird die frühere Darstellung nicht wesentlich gestört. Denn indem das Glied Rn am stärksten auf n und viel schwächer auf 2n, 3n oder  anspricht, indem Rn auch auf einen aperiodischen Anstoß mit n ausschwingt, wird doch die Empfindung [1 - f(n)]D + f(n)H überwiegend an das Glied Rn gebunden bleiben.

             36) Will man eine recht einfache Darstellung haben, so setzt man f (n) = k. logn.

    Gut konstatierte Fälle von Doppelthören (vgl. Stumpf Tonpsychologie I, S. 266 fg.) könnten uns nötigen, das Auslösungsverhältnis von D und H als vom Endorgan und nicht von der Schwingungszahl abhängig zu betrachten, was aber unsere Auffassung ebenfalls nicht stören würde.
    Ein Glied Rn spricht also stark auf n, schwächer aber auch auf 2n, 3n ... und  ... mit den diesen Schwingungszahlen zugehörigen Empfindungen an. Es ist aber doch sehr unwahrscheinlich, daß die Empfindung genau dieselbe bleibt, ob Rn auf n oder ob  auf n anspricht. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß jedesmal, wenn die Glieder der Organreihe auf einen Partialton ansprechen, die Empfindung eine schwache Zusatzfärbung erhält, die wir symbolisch für den Grundton durch Z1, für die Obertöne durch, Z2, Z3 ... für die Untertöne durch  ... darstellen wollen. Hiernach wäre also die Tonempfindung etwas reicher zusammengesetzt als dies der Formel [1 - f(n)]D + f(n)H entspricht. Die Empfindungen, welche die Reihe der Endorgane, durch die Grundtöne gereizt, gibt, bilden also ein Gebiet mit der Zusatzfärbung Z1, die Reizung derselben Reihe durch den ersten Oberton gibt ein besonderes Empfindungsgebiet mit der Zusatzfärbung Z2 usw. Die Z können entweder unveränderliche Bestandteile sein, oder selbst wieder aus zwei Bestandteilen U und V bestehen, und durch

[1 - f(n)]U+f(n)V
darstellbare Reihen bilden, worüber zu entscheiden jetzt nicht von Belang ist.
    Allerdings sind nun die physiologischen ElementeZ1 Z2, ... erst zu finden. Allein schon die Einsicht, daß sie zu suchen sind, scheint mir wichtig. Sehen wir zu, wie sich das Gebiet der Tonempfindungen ausnimmt, wenn man die Z1, Z2 ... als gegeben ansieht.
    Betrachten wir als Beispiel eine melodische oder harmonische Terzverbindung. Die Schwingungszahlen seien also n = 4p und m = 5p; der tiefste gemeinsame Oberton ist 5n = 4 m = 20 p, der höchste gemeinsame Unterton ist p. Dann ergibt sich folgende Übersicht:
 
  Die Glieder der Reihe der Endorgane : Rp R4p R5p R20 p
Wenn die Klänge 4p und 5p keine Obertöne enthalten

 

sprechen an auf die Schwingungszahlen : 4p, 5p 4p 5p
mit den Zusatzempfindungen: Z4 Z5 Z1 Z1 ,
Wenn die Klänge 4p und 5p Obertöne enthalten sprechen außerdem an auf die Schwingungszahlen: 20p = 5 (4p) 20p = 4 (5p)
mit den Zusatzempfindungen: Z5 Z4

    Bei der Terzverbindung treten also die für die Terz charakteristischen Zusatzempfindungen Z4, Z5 und  hervor, auch wenn die Klänge gar keine Obertöne enthalten, und erstere (Z4, Z5) werden noch verstärkt, wenn in den Klängen entweder in der freien Luft oder doch im Ohr Obertöne vorkommen. Das Schema läßt sich leicht für jedes beliebige Intervall verallgemeinern.37)

37) Die hier gegebene Darstellung findet sich in etwas konziserer Form und etwas variiert in meiner Note "Zur Analyse der Tonempfindungen". Sitzungsber. der Wiener Akademie, math.-nat. Kl., II. Abt., Dezember 1883. Die Analyse der Tonempfindungen wird hier nach Analogie der wesentlich weiter vorgeschrittenen Analyse der Farbenempfindungen versucht. Jede Schwingungszahl des Lichtes löst einige wenige spezifische Energien in einem von dieser Schwingungszahl abhängigen Verhältnisse aus. Die Erregbarkeit dieser Energien ist an verschiedenen Stellen der Netzhaut verschieden. Analoge Verhältnisse werden mutatis mutandis auch für die Tonempfindungen angenommen. Der unendlichen Mannigfaltigkeit des physikalischen Reizes schien anfänglich in beiden Fällen eine unendliche Mannigfaltigkeit der Empfindungen zu entsprechen. Die psychologische Analyse führt in beiden Fällen dazu, eine geringere Anzahl von Empfindungen anzunehmen und diese nach dem Prinzip des Parallelismus nicht mehr unmittelbar von dem komplizierten physikalischen Reiz, sondern von dem ebenso einfachen psychophysischen Prozeß unmittelbar abhängig zu denken.     Diese Zusatzfärbungen werden also, obgleich sie bei einzelnen Tönen und beim Schleifen der Töne fast gar nicht bemerkt werden, bei Kombination von Tönen mit bestimmten Schwingungszahlenverhältnissen hervortreten, wie die Kontraste schwach gefärbter fast weißer Lichter bei deren Kombination lebendig werden. Und zwar entsprechen denselben Schwingungszahlenverhältnissen bei jeder beliebigen Tonhöhe immer dieselben Kontrastfärbungen.
    So wird es verständlich, wie die Töne durch melodische und harmonische Verbindung mit anderen die mannigfaltigste Färbung erhalten können, die einzelnen Tönen fehlt.
    Die Elemente Z1, Z2 ... darf man sich nicht in unveränderlicher bestimmter Anzahl gegeben denken. Vielmehr muß man sich vorstellen, daß die Zahl der bemerkbaren Z von der Organisation, Übung des Gehörs und von der Aufmerksamkeit abhängt. Nach dieser Auffassung werden auch nicht direkt Schwingungszahlenverhältnisse durch das Gehör erkannt, sondern nur die durch dieselben bedingten Zusatzfärbungen. Die durch [1—f (n)] D + f (n) H symbolisch dargestellte Tonreihe ist nicht unendlich, sondern begrenzt. Da f (n) sich zwischen den Werten o und 1 bewegt, sind D und H die Empfindungen, die einem tiefsten und höchsten Ton entsprechen, die Endglieder. Sinkt oder steigt die Schwingungszahl bedeutend unter oder über diejenige des Grundtones des äußersten Gliedes, so findet nur ein geringeres Ansprechen, aber keine Änderung der Art der Empfindung mehr statt. Auch die Empfindung der Intervalle muß in der Nähe der beiden Hörgrenzen verschwinden. Zunächst weil der Unterschied der Tonempfindung überhaupt aufhört, dann aber noch, weil an der oberen Grenze die Glieder der Reihe fehlen, welche durch Untertöne gereizt werden könnten, an der untern Grenze aber diejenigen, welche auf Obertöne reagieren.
    Überblicken wir noch einmal die gewonnene Ansicht, so sehen wir, daß fast alles, was durch Helmholtz' Arbeiten statuiert worden ist, beibehalten werden kann. Die Geräusche und Klänge lassen sich in Töne zerlegen. Jeder unterscheidbaren Schwingungszahl entspricht ein besonderes Nervenendorgan. An die Stelle der vielen spezifischen Energien setzen wir aber bloß zwei, die uns die Verwandtschaft aller Tonempfindungen verständlich machen, und erhalten durch die Rolle, welche wir der Aufmerksamkeit zuweisen, gleichwohl mehrere gleichzeitig angegebene Töne unterscheidbar. Durch die Hypothese des mehrfachen Ansprechens der Glieder der Reihe der Endorgane und der "Zusatzfärbungen" tritt die Bedeutung der zufälligen Klangfarbe zurück, und wir sehen den Weg, auf welchem den positiven Merkmalen der Intervalle namentlich auf Grund musikalischer Tatsachen weiter nachzuforschen ist. Endlich erhält durch die letztere Ansicht das v. Oettingensche Prinzip der Dualität eine Unterlage, die vielleicht diesem Forscher selbst etwas besser zusagen dürfte als die "Erinnerung", während sich zugleich zeigt, warum die Dualität keine vollwertige Symmetrie sein kann.

18.

Die Hypothese des mehrfachen Ansprechens der Reihe der Endorgane, sowie jene der Zusatzfärbungen, habe ich ausdrücklich als solche bezeichnet und habe dieselbe lediglich zu dem Zweck vorgebracht, um den Sinn der Postulate, welche sich durch die psychologische Analyse ergeben, zu erläutern und andere vielleicht zu einem glücklicheren Griff anzuregen. Ich kann mich also nicht wundern, wenn andere diesem Versuche nicht ohne weiteres zustimmen. Daß aber diese Hypothese nutzlos sei und ihren Zweck verfehle, wie Stumpf 38) sagt, kann ich nicht erkennen. Das Zusammentreffen der Zusatzfärbungen Z4, Z5, bezw.  in einem Nerv ist nicht bloß ein physischer, sondern auch ein psychophysischer Umstand. Die Empfindung einer Mischfärbung durch ein Element wird kaum gleichgültig sein. Es scheint mir vielmehr, daß das, was ich suche: die Erklärung der bestimmten Färbung der Intervalle, und auch das, was Stumpf sucht: die Erklärung der Verschmelzung, durch die von mir angenommene partielle Koinzidenz auch ohne Obertöne wirklich dargestellt würde. Wenn ferner Stumpf sagt, daß bei Klängen mit Obertönen für Helmholtz keine Schwierigkeit besteht, die Ähnlichkeit gleicher Intervalle zu verstehen, so beruht dies auf einem Verkennen dessen, was ich gegen Helmholtz vorgebracht habe. Niemand wird befriedigt sein, wenn man ihm sagt, daß bei zwei Terzen gleich starke Obertöne zusammenfallen, da es sich doch um qualitativ ähnliche Empfindungen handelt. Wäre das Wiedererkennen eines melodischen Terzenschrittes unmittelbar verständlich, so brauchte man für das Erkennen der harmonischen Terzen Verbindung natürlich keine besondere Erklärung zu suchen. Da aber Stumpf selbst die melodischen Schritte durch die harmonische Verbindung für charakterisiert hält, so würde diese Auffassung einen Zirkel einschließen. Auch nach meiner Darlegung leitet die Tatsache der melodischen und harmonischen Auswahl bestimmter Schwingungszahlenverhältnisse auf dasselbe Problem. Meine Hypothese lehnt sich an die Resonanztheorie an, und ist nach Stumpfs Ansicht schon deshalb zu verwerfen. Letzterer Punkt soll noch besonders zur Sprache gebracht werden.

             38) Stumpf, Beiträge zur Akustik und Musikwissenschaft, Heft l, S. 17, 18

19.

Über die physikalischen Vorgänge beim Hören, bezw. die Funktion der Teile des mittleren Ohres ist schon sehr viel diskutiert worden. Trotzdem scheint es, daß eine unbefangene Revision der physikalischen Hörtheorie sehr notwendig ist. Man hat gefragt, ob die Gehörknöchelchen als Ganzes schwingen, oder ob die Schallwellen durch dieselben hindurchziehen. E. H. Weber hat sich für die erstere Ansicht entschieden, welche experimentell von Politzer bestätigt und theoretisch wohl von mir zuerst begründet worden ist39). Wenn nämlich die Dimensionen der Knöchelchen gegen die Länge der in Betracht kommenden Schallwellen in deren Material sehr klein ist, wie es wirklich zutrifft, so ist es keine Frage, daß in der ganzen Ausdehnung der Knöchelchen nahezu dieselbe Bewegungsphase auftreten, demnach sich die Knöchelchen als Ganzes bewegen müssen. Man dachte sich nun die Bewegung der Gehörknöchelchen auf die Labyrinthflüssigkeit übertragen. Allein pathologische Erfahrungen lehren, daß man, wenn nur das Labyrinth in Ordnung ist, auch ohne Mitwirkung der Gehörknöchelchen und des Trommelfelles noch recht gut hört. Diese Teile scheinen nur von Wichtigkeit zu sein, wenn es sich um die Übertragung der leisesten Luftbewegungen auf das Labyrinth handelt. Da scheint die Reduktion des auf die ganze Trommelfellfläche entfallenden Druckes auf die kleine Steigbügelfußplatte notwendig. Sonst können die Schallwellen auch durch die Kopfknochen auf das Labyrinth übertragen werden. Durch Aufsetzen von tönenden Körpern (Stimmgabeln) auf verschiedene Stellen des Kopfes überzeugt man sich davon, daß die Richtung der auf das Labyrinth eindringenden Schallwellen keine besondere Rolle spielt. Alle Dimensionen des schallperzipierenden Apparates sind wieder so klein gegen die hörbaren Schallwellen, die Schallgeschwindigkeit in den Knochen und der Labyrinthflüssigkeit so groß, daß wieder in einem Moment nur merklich dieselbe Wellenphase in der ganzen Ausdehnung des Labyrinthes Platz greifen kann. Das Obige führt darauf, nicht die Bewegungen und die Bewegungsrichtung, sondern die Druckvariationen, welche im Labyrinth nahezu synchron auftreten, als empfindungserregend, als den maßgebenden Reiz zu betrachten.

39) Mach, Zur Theorie des Gehörorgans. Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Bd. 58, Juli 1863. Ferner: Helmholtz, Die Mechanik der Gehörknöchelchen, 1869.     Betrachten wir dennoch die Bewegung, welche im Labyrinth durch die Bewegungen der Steigbügelplatte eingeleitet werden kann. Wir denken uns zunächst alle Weichteile herausgenommen, und den durch die Knochenwand begrenzten Raum nur mit Flüssigkeit gefüllt. Die Bewegung, die hier Platz greifen kann, ist eine periodische Strömung vom ovalen gegen das runde Fenster und umgekehrt, deren Form, bei der gegen die Schallgeschwindigkeit verschwindenden Geschwindigkeit der Störung, von der Periode fast ganz unabhängig sein wird. Denkt man sich die Flächen der beiden Fenster als positive und negative Elektrode und die Flüssigkeit leitend, so stimmen die elektrischen Stromlinien mit den Linien der periodischen Strömung überein. Daran kann nun nicht viel geändert werden, wenn die Weichteile in die Flüssigkeit von so wenig verschiedenem spezifischen Gewicht versenkt werden. Die Masse der Flüssigkeit spielt die Hauptrolle. Davon, daß einzelne Gebilde je nach der Tonhöhe, trotz der Flüssigkeit, einen besonderen lokalen Schwingungszustand annehmen könnten, wird kaum die Rede sein dürfen. Die quantitativen Verhältnisse sind hier ganz andere, als bei Saiten oder Membranen in der Luft.
    Es scheint mir demnach, daß die neue Hörtheorie von Ewald40) nicht haltbarer ist, als die Helmholtzsche Theorie der Cortischen Fasern, oder der elektiven Schwingungen der Basilarmembran. Wenn eine mit Öl bestrichene Membran bei Ewalds Versuchen schon bei stärkerem Anstrich keine deutliche Abteilung mehr zeigt, so würde sie beim Versenken in eine Flüssigkeit, noch dazu bei entsprechend kleinen Dimensionen vollends versagen. Es muß übrigens hervorgehoben werden, daß die Ewaldsche Theorie sonst vielfach ansprechend ist und manche Vorteile bieten würde. Die Membranen zeigen z. B. Koinzidenzen der Knotenlinien bei harmonischen Intervallen, auch ohne Obertöne. Diese Theorie hat also den Anschein, einen Teil der oben ausgesprochenen Postulate zu erfüllen. Leider ist sie physikalisch nicht zulässig, abgesehen von anderen Schwierigkeiten, welche auch sie nicht zu lösen vermag. Ich maße mir selbstverständlich nicht an, eine schöne fleißige Arbeit mit wenigen Worten abzutun, kann aber meine Bedenken doch nicht unterdrücken.

             40) Ewald, Eine neue Hörtheorie, Bonn 1899.

    Bald nach Erscheinen der vierten Auflage dieses Buches, in welcher ich meine Zweifel betreffend die Membranschwingungen in Flüssigkeiten in den vorstehenden Zeilen geäußert hatte, trat Ewald41) mit den Experimenten an seiner "camera acustica" hervor. Es gelang ihm, eine in Wasser versenkte zarte Membran, ungefähr von den Dimensionen der Basilarmembran, akustisch in stehende Schwingungen mit deutlichen, der Tonhöhe entsprechenden, Knotenabteilungen zu versetzen. Hiermit war meine Vermutung als falsch erwiesen und ich hatte Grund zu überlegen, worin ich geirrt hatte. Da fielen mir nun die sehr kleinen Knotenabteilungen ein, die ich vor Jahren selbst an Flüssigkeitsmembranen erhalten hatte42). Ich erinnerte mich ferner der Friesachschen43) Versuche mit in Wasser versenkten Saiten. Aus letzteren ergab sich nämlich, daß das Eintauchen in Flüssigkeiten wie eine Vergrößerung der Masse der Saite sich äußert, indem die Flüssigkeit nur in der nächsten Umgebung der Saite, in sehr kurzen Bahnen synchron hin- und herströmend, diese Schwingung begleitet. Es ist also ganz wohl denkbar, daß die Labyrinthflüssigkeit als Ganzes hin- und herschwingt, und daß dennoch in derselben die vielmal kleinere Fortpflanzungsgeschwindigkeit in der Membran in stehenden Schwingungen der letzteren zu Tage tritt. Ist aber die Existenz solcher Membranschwingungen nachgewiesen, so gewinnen Ewalds theoretische Ideen sehr an Wert. Ich möchte hier noch auf zwei Mitteilungen von A. Stöhr44) hinweisen, die mir entwicklungsfähige Gedankenkeime zu enthalten scheinen.

             41) Ewald, Pflügers Archiv, 1903, Bd. 93, S. 485.
             42) Optisch-akustische Versuche, Prag 1872, S. 93.
             43) Friesach, Ber. d. Wiener Akademie 1867, Bd. 36, 2. Abt., S. 316.

44) Stöhr, Über Unterbrechungstöne. Deutsche Revue, Juli 1904. – Auf die Notwendigkeit eines asymmetrischen akustischen Angriffes ist auch schon hingewiesen bei Mach und Kessel, Die Funktion der Trommelhöhle, Ber. d. Wiener Akademie, Bd. 66, 3. Abt., 1872. — Stöhr, Klangfarbe oder Tonfarbe, Süddeutsche Monatshefte, München und Leipzig, Juli 1904. — Stöhr verfolgt hier auf anderen Wegen Ziele, die den meinigen nahe liegen.
20.

Die Schwierigkeit, die Resonanztheorie physikalisch zu begründen, ist wohl von allen, die sich mit derselben beschäftigt haben, mehr oder minder gefühlt worden, wie mir scheint, nicht am wenigsten von deren Urheber. Zugleich erkannte man aber, daß mit dem Aufgeben derselben dasjenige Motiv, welches das Verständnis der Klanganalyse, die Durchsichtigkeit der Lehre von den Tonempfindungen bedingt, verloren geht. Daher die krampfhaften Bemühungen, die Resonanztheorie zu halten. L. Hermann45) scheint mir nun das richtige Wort ausgesprochen zu haben, wenn er meint, daß ohne irgend eine Resonanztheorie nicht auszukommen sei, daß diese aber nicht notwendig eine physikalische sein müsse, sondern auch eine physiologische sein könne. Man kann mit Hermann die plausible Annahme machen, daß die nervösen Endorgane selbst für Reize von einer bestimmten Periode besonders empfindlich sind46). Es müssen nicht gerade Elastizitätskräfte sein, welche das Organ in seine Gleichgewichtslage zurücktreiben, sondern man kann sich einen elektrischen, chemischen usw. Gleichgewichtszustand denken, und Abweichungen von demselben, die sich wie + und - verhalten. Unter diesen Organen kann ferner eine Verbindung bestehen, wodurch eines auf das andere erregend wirken kann. Es eröffnet sich so die begründete Aussicht, den Verlust der physikalischen Resonanztheorie zu ersetzen. Auf die vollständige und genaue Wiedergabe der Hermannschen Ausführungen muß ich verzichten, und muß mich begnügen, auf dessen Abhandlungen zu verweisen.

              45) Hermann, Pflügers Archiv, Bd. 56, S. 494, 495 ff., 1894.

46) Dieselbe behält vielleicht auch dann noch ihren Wert, wenn es auch gelingt, eine genügende physikalische Resonanztheorie zu gründen.     Nur einen Punkt wollen wir noch ins Auge fassen. Wenn zwei sinusförmige (pendelförmige) Schwingungen von den Schwingungszahlen n, n' zusammenwirken, so entstehen Schwebungen, die man als ein (n'–n)-maliges Anschwellen und Abschwellen des Tones n oder n' in der Sekunde auffassen kann. Niemals läßt sich aber die Luftbewegung als eine solche ansehen, in welcher die Sinusschwingung, d. h. der Ton n'–n, enthalten wäre. Auch ein physikalischer Resonator von der Schwingungszahl n'–n kann durch solche Schwebungen, ob sie schnell oder langsam sind, niemals erregt werden. Man übersieht ja leicht, wenn man sich den Verlauf der Schwebungen vorstellt oder dieselben zeichnet, daß auf die Dauer der Resonatorschwingung (n'n) ebensoviele und gleich starke positive und negative Impulse fallen. Auch auf die erste Hälfte dieser Zeit entfallen gleiche gleichsinnige Impulse wie auf die zweite Hälfte. Eine wirksame Summation ist also ausgeschlossen. Dieselbe wäre nur möglich, wenn man den Resonator für die eine Art der Impulse empfänglicher machen könnte, als für die andere Art, und empfänglicher in der einen Hälfte seiner Schwingungsdauer. Man sieht, wie dieselbe Überlegung dazu führt, die Youngsche Erklärung der Kombinationstöne durch rasche Schwebungen aufzugeben, und wie sie anderseits unter Festhalten der Resonanztheorie zur Helmholtzschen Theorie der Kombinationsstöne leitet. Die physikalischen Verhältnisse, welche Helmholtz annehmen mußte, scheinen aber unter den Umständen, unter welchen man Kombinationstöne hört, nicht zu bestehen. Wohl aber ist es denkbar, daß ein nervöses Organ für entgegengesetzte Impulse ungleich empfänglich und ebenso in verschiedenen Stadien seiner Erregung verschieden empfänglich ist. Denn es folgt nicht einfach den einwirkenden Kräften, sondern enthält einen Energievorrat, auf welchen jene Kräfte nur auslösend einwirken. Somit hätte der Irrtum Youngs und der mutmaßlich mißlungene Verbesserungsversuch Helmholtz' auf einen wichtigen neuen Gesichtspunkt geleitet.

21.

Bei ihrem Auftreten erschien die Helmholtzsche Lehre von den Tonempfindungen als eine schöne, vollendete, mustergültige Leistung. Dennoch haben fundamentale Aufstellungen derselben der Kritik nicht Stand halten können. Und diese Kritik war keineswegs eine mutwillige, wie daraus genügend hervorgeht, daß die Ausführungen der verschiedenen Kritiker trotz aller individueller Eigentümlichkeit auf dieselben Punkte und nach denselben Richtungen hinweisen. Das Hauptproblem erscheint durch die Kritik fast auf den Stand vor Helmholtz zurückgeschraubt. Es könnte dies tragisch wirken, wenn es überhaupt erlaubt wäre, diese Sache vom Standpunkte einer Person zu betrachten.
    Wir können aber die Helmholtzsche Leistung trotz ihrer angreifbaren Seiten nicht unterschätzen. Außer dem reichlichen positiven Gewinn, den wir dieser Arbeit verdanken, ist Bewegung in die Fragen gekommen, sie hat den Forschern zu andern Versuchen Mut gemacht, eine Menge von neuen Untersuchungen ist angeregt, neue Aussichten sind eröffnet, mögliche Irrwege definitiv für immer verschlossen worden. Leichter knüpft ja ein neuer Versuch und die Kritik an eine schon vorhandene positive Arbeit an.
    Helmholtz hat sich wohl darin getäuscht, daß er meinte, diese Aufgabe, welche dem Psychologen, Physiologen und Physiker reichlich Arbeit gibt, hauptsächlich nach physikalischen Gesichtspunkten bewältigen zu können. Haben doch seine befreundeten Zeitgenossen, welche um die Mitte des vorigen Jahrhunderts mit ihm die physikalische Physiologenschule begründeten, auch erkennen müssen, daß das Stückchen anorganischer Physik, welches wir beherrschen, bei weitem noch nicht die ganze Welt ist. Die "Lehre von den Tonempfindungen" ist ein genialer Wurf, der Ausdruck einer künstlerischen Intuition, welcher uns, wenn auch nur symbolisch, durch eine physikalische Analogie, durch ein Bild die Wege weist, die die weitere Untersuchung einzuschlagen hat. Wir müssen deshalb acht geben, daß wir mit den zu beseitigenden Mängeln nicht auch wertvollen Besitz über Bord werfen. Aus welchen Gründen Helmholtz selbst von der Kritik so wenig Notiz genommen hat, weiß ich nicht. Mit seiner letztwilligen Verfügung aber, nach welcher der Text der "Tonempfindungen" nach seinem Tode unverändert bleibt, scheint er mir das Richtige getroffen zu haben.

22.

Für denjenigen, welcher die Dinge vom Standpunkte der Entwickelungslehre zu betrachten pflegt, ist die moderne Musik in ihrer hohen Ausbildung, sowie die spontan und plötzlich auftretende musikalische Begabung, auf den ersten Blick eine höchst sonderbare rätselhafte Erscheinung. Was hat diese Gehörsentwickelung mit der Arterhaltung zu schaffen? Geht sie nicht weit über das Notwendige oder überhaupt nur Nützliche hinaus? Was soll uns die feine Unterscheidung der Tonhöhen? Was nützt uns der Sinn für die Intervalle, für die Klangfärbungen des Orchesters?
    Eigentlich kann man in bezug auf jede Kunst dieselbe Frage stellen, ob sie ihren Stoff aus diesem oder jenem Sinnesgebiet schöpft. Die Frage besteht auch bezüglich der scheinbar weit über das notwendige Maß hinausgehenden Intelligenz eines Newton, Euler usw. Die Frage liegt nur am nächsten bezüglich der Musik, welche gar kein praktisches Bedürfnis zu befriedigen, meist nichts darzustellen hat. Sehr verwandt mit der Musik ist aber die Ornamentik. Wer sehen will, muß Richtungen der Linien unterscheiden können. Wer sie fein zu unterscheiden vermag, dem kann sich aber, gewissermaßen als ein Nebenprodukt seiner Ausbildung, das Gefühl für die Gefälligkeit der Kombinationen von Linien ergeben. So verhält es sich auch mit dem Sinn für Farbenharmonie nach Entwicklung des Unterscheidungsvermögens für Farben, so wird es auch mit der Musik sich verhalten.
    Wir müssen uns auch gegenwärtig halten, daß das, was wir Talent und Genie nennen, so groß uns auch dessen Wirkungen erscheinen, in der Begabung nur eine kleine Differenz gegen das Normale darstellt. Auf etwas größere psychische Stärke in einem Gebiet reduziert sich das Talent. Zum Genie wird dasselbe durch die über die Jugendzeit hinaus erhaltene Fähigkeit der Anpassung, durch die Erhaltung der Freiheit, sich außerhalb der Schablone zu bewegen. Die Naivität des Kindes entzückt uns und macht uns fast immer den Eindruck des Genies. Gewöhnlich schwindet aber dieser Eindruck bald, und wir merken, daß dieselben Äußerungen, welche wir gewohnt sind, als Erwachsene auf Rechnung der Freiheit zu setzen, beim Kinde noch auf Mangel an Festigkeit beruhten.
    Talent und Genie treten, wie Weismann treffend hervorgehoben hat47), in der Folge der Generationen nicht allmählich und langsam hervor, sie können auch nicht das Resultat einer gehäuften Übung der Vorfahren sein, sie zeigen sich spontan und plötzlich. Mit dem eben Besprochenen zusammengehalten, wird dies auch verständlich, wenn wir bedenken, daß die Deszendenzen nicht genau den unmittelbaren Vorfahren gleichen, sondern etwas variierend die Eigenschaften derselben und auch fernerer Vorfahren und Verwandten bald etwas abgeschwächt, bald etwas gesteigert aufweisen. Die Vergleichung mehrerer Kinder desselben Elternpaares ist da sehr lehrreich. Den Einfluß der Abstammung auf psychische Anlagen zu leugnen, wäre ebenso unvernünftig, als im Sinne der modernen bornierten oder perfiden Rassenfanatiker, alles darauf zurückzuführen. Hat doch jeder an sich erfahren, welche reichen psychischen Erwerbungen er der kulturellen Umgebung, dem Einfluß längst entschwundener Geschlechter, sowie der Zeitgenossen verdankt. Die Entwicklungsfaktoren werden eben im postembryonalen Leben nicht plötzlich unwirksam48).

              47) Weismann, Über die Vererbung, Jena 1883, S. 43.

48) Vgl. die gesunden, nüchternen Ansichten bei R. Wallaschek, Anfänge der Tonkunst. Leipzig 1903, S. 291–298.