Unter »Normaltäuschungen« sind solche zu verstehen, die weder durch pathologische Zustände, noch durch abnorme Versuchsbedingungen (z. B. durch Kreuzung der Finger) entstanden sind. Zur Darlegung meiner eigenen Ergebnisse auf dem Gebiete der taktilen Lagewahrnehmung scheint ein vorangehender kurzer Blick über die bisherigen sogenannten Lokalisationsversuche unentbehrlich zu sein; an dieser Stelle sollen nur die hauptsächlichsten seither mitgeteilten Tatsachen angeführt werden; auf die Deutungen und die Kritik kommen wir erst in den Abschnitten 3 und 4.
1. Die bisherigen Ergebnisse.
Volkmann1) (1844), durch die Forschungen
von Weber angeregt, hat wohl als der erste über Lokalisationsversuche
berichtet. Seine Beobachter ließen sich bei verschlossenen Augen
stechen und zeigten dann mit geöffneten Augen den Punkt, an welchem
vermeintlich gereizt wurde. Die durchschnittliche Größe des
begangenen Fehlers schwankte von 1 mm an den Fingerspitzen bis zu 4 cm
am Oberarm; hier ist offenbar eine große Ähnlichkeit mit den
von Weber konstatierten Schwellen für Unterscheidung zweier Zirkelspitzen
zu verzeichnen. Die Richtung der Fehler lag gewöhnlich in der Längsachse
der Nerven; drei Personen hatten eine distale, die vierte dagegen eine
proximale Tendenz.
3) Moleschotts Untersuch., 5 (l), S. 174.
Szabadföldi4) (1862) bediente sich
desselben Verfahrens, konstatierte aber wiederum, daß die Fehler
dem Raumsinn entsprechen; sie sollen sich vermindern, wenn man das reizende
Instrument heizt.
7) Comptes Rendus de la Société de la Biologie, 1884 und 1902.
Leubuscher8) (1886) findet nach dem Weberschen Verfahren, daß die Lokalisationsfehler insofern vom Drucksinne abhängig sind, als sehr schwache Reize etwas besser lokalisiert werden.
8) Jenaische Zeit. f. Naturwiss., 20,
S. 34 (auch im Zentralbl. f. klin. Med. 7. Jahrg., S. 129).
Barth9) (1894) wendet sich zur Erforschung
des Lokalisationsgedächtnisses und konstatiert eine regelmäßige
Zunahme des Fehlers mit dem Zeitintervall. Er benutzt nicht nur das Webersche,
sondern auch folgendes neues Verfahren: Ein Punkt wird auf der Haut mit
Tinte notiert; der Beobachter merkt sich den Punkt, schließt die
Augen und versucht ihn nun mit dem Stifte zu berühren; die Fehler
zeigen sich kleiner als nach dem Weberschen Verfahren. Im allgemeinen haben
die Fehler eine distale Tendenz.
9) Etudes sur le sens du lien et sur
la mémoire de ce sens. Diss. Dorpat. Da ich leider der russischen
Sprache nicht mächtig bin, muß ich mich auf die Angaben von
Henri stützen (Die Raumwahrnehmung des Tastsinnes, 1898, S. 93).
Henri10) (18931898) führt mannigfache
sinnreiche Neuerungen ein. Die meisten Versuche geschehen noch nach dem
Volkmannschen Verfahren, aber mit der interessanten Modifikation, daß
der Beobachter die vermeintliche Stelle nicht mehr auf dem gereizten Gliede
selbst, sondern auf einer Photographie davon anzeigt; die Modifikation
soll keine Änderung der Ergebnisse herbeigeführt haben; aber
nunmehr können die Fehler graphisch registriert werden. Henri kommt
zu dem Ergebnis, daß man gewöhnlich zu nahe an irgendeiner hervorragenden
Stelle (»Leiste, Knöchel, Rand, Gelenk usw.«) lokalisiert;
je zahlreicher solche Anhaltspunkte vorhanden sind, desto kleiner sind
die Fehler; letztere werden größer bei schwachem Reize11).
Ein anderes Verfahren bestand darin, daß die Hand der Versuchsperson
unter einem in Quadratzentimetern eingeteilten Schirm lag; der Experimentator
beschreibt mündlich einen Hauptpunkt, und der Beobachter muß
dann sagen, unter welchem Quadrat er liegt; die Fehler sind sehr klein
und bevorzugen die Richtung nach dem Körper zu. In das Webersche Verfahren
führt Henri die nützliche Modifikation ein, daß er den
Stift des Beobachters durch eine mit Tinte gefüllte Glasröhre
ersetzt und so eine graphische Registrierung des gesamten Herumtastens
entstehen läßt. In einer andern Versuchsserie darf der Beobachter
die vermeintliche Stelle nicht berühren, sondern nur auf sie von oben
hindeuten; jetzt sind die Fehler an den Fingern ebenso groß, wie
am Arm; ihre Richtung ist individuell verschieden; die vertikale Entfernung
des Zeigefingers von der gereizten Haut wird meistens sehr überschätzt.
Auch andere Variationen sind probiert und außerdem das Barthsche
Verfahren nachgeprüft worden; eine interessante Versuchsserie beschäftigt
sich mit der Unsicherheit in der Angabe der Finger12) Im allgemeinen
betont Henri die überwiegend distale Tendenz der Fehler.
10) Archives d. Physiologie, 1893,
S. 615; Année psychologique, 2. S. 168, und 3. S. 225; C. R. de
la Soc. de Biol., 1896; Rev. Phil. 1897; Über die Raumwahrnehmungen
des Tastsinnes, 1898.
11) Es ist nicht zu ersehen, ob Henri darauf Rücksicht genommen hat, daß man schon das Gegenteil angegeben hatte.
12) Es ist sonderbar, daß er
dabei diese Verwechslung der Finger als eine Neuentdeckung betrachtet.
(Vgl. Die Raumwahrnehmung des Tastsinnes, S. 126 u. 128.) Die Tatsache
ist doch wohl lange bekannt. Unter andern haben sie Mitchell (Injuries
of Nerves and their consequences, 1874, Chap. 6) und Leubuscher (Jenaische
Zeit. f. Naturwiss. 1886, Bd. 20, S. 24) konstatiert. Ich glaube
gezeigt zu haben, daß die Unterscheidung der Finger und Zehen wesentlich
von Miterregungen in den Gelenken abhängt (Brit. J. Psych., I, S.
302304).
Lewy13) (1895) beschäftigt sich,
wie im vorangegangenen Jahre Barth, mit dem Lokalisationsgedächtnis;
sowohl Verfahren wie Ergebnis sind den früheren sehr ähnlich.
In einigen Versuchen aber beobachtet Lewy (wie einst Aubert und Kammler)
sorgfältig die Stelle des ersten Kontakts des Stiftes mit dem gereizten
Gliede; doch findet er den Fehler nicht viel größer als den
nach dem suchenden Herumtasten. In einigen weiteren Versuchsserien wird
während der Lokalisation die Aufmerksamkeit der Versuchspersonin verschiedenerweise
abgelenkt; dadurch wird der Fehler allemal größer.
13) Zeitschr. f. Psychologie, 8. S.
231,
Pillsbury14) (1895) widmet sich besonders
der Beeinflussung der Lokalisation durch die Gesichtsvorstellungen. Nach
dem Weberschen, wie auch nach dem photographischen Verfahren Henris findet
er, daß die Genauigkeit abnimmt, wenn man sich bemüht, kein
Gesichtsbild von der gereizten Hautstelle zu haben. Die Fehler liegen in
distaler Richtung.
14) Am. J. Psychology, 7, S. 42.
Washburn15) (1895) erforscht die Beeinflussung durch die Gesichtsvorstellungen weiter und kann dieselbe in mannigfachen Erscheinungen spüren. Gewöhnlich wurde der Beobachter an zwei Stellen, oder mit einer fortlaufenden Kante gereizt. Auch einige Webersche Versuche wurden gemacht. Die Fehler neigen nicht gegen die »Grenzlinien« zu (wie Henri behauptete), sondern rücken von ihnen ab; zu diesem Henri widersprechenden Ergebnis sei, wie Washburn mitteilt, auch Pillsbury gekommen. Die Tendenz der Fehler scheint bei Washburn proximal zu sein.
Die Absicht der ursprünglichen Lokalisationsversuche von Volkmann war darauf gerichtet, zu den Weberschen Experimenten mit den Zirkelspitzen eine Ergänzung zu liefern; letztere Versuche hatten, wie man annahm, die Feinheit der angeborenen »Raumanschauung« geprüft; erstere dagegen sollten sich auf die erworbenen, von den geometrischen Verhältnissen der Glieder abhängigen »Ortserkenntnisse« beziehen, vermöge deren die Hand jeden beliebigen Körperteil sofort zu berühren vermöge. In diese Begriffsunterscheidung scheint Weber eingewilligt zu haben; denn er bezieht seine späteren Zirkelergebnisse auf den »Raumsinn«; keineswegs aber gibt er zu, daß der »Ortssinn« durch solche Lokalisationsversuche zu prüfen sei; letztere betrachtet er vielmehr bloß als andere, nur weniger genaue Prüfungen des Raumsinnes. Die meisten späteren Forscher haben nicht einmal Volkmanns Terminologie angenommen19), sondern vielmehr in beliebiger Abwechslung Raumsinn und Ortssinn als synonyme Begriffe gebraucht; während für diejenige räumliche Orientierung, welche von den geometrischen Verhältnissen der Glieder abhängt, der Ausdruck »Lagewahrnehmung« vorgezogen wurde.
19) Vgl. Nothnagel, Deutsches Archiv
f.
klin. Med. 2, 1867; Dehn, Vergleichende Prüfungen über den Haut-
und Geschmackssinn, 1894, v. Frey, Sitzungsb. d. phys.-med. Ges. zu Würzburg,
9. Nov. 1899.
Jedoch ist im Jahre 1858 von Aubert und Kammler die
Bezeichnung Ortssinn nochmals energisch für Lokalisationsversuche
gefordert worden; begrifflich aber wird jetzt der Ortssinn vom Raumsinn
folgendermaßen unterschieden: »Hier wird die Fähigkeit
der Unterscheidung zweier Punkte und ihrer Lage zueinander, dort die Fähigkeit,
die Lage eines Punktes in bezug auf fühlende Punkte unserer Haut anzugeben,
geprüft«20). So fällt der klare Volkmannsche
Begriff weg, und statt dessen tritt ein ziemlich unklarer ein; denn der
psychologische Unterschied zwischen »der Lage zweier Punkte zueinander«
einerseits und »der Lage eines Punktes in bezug auf fühlende
Punkte« andererseits ist nicht ohne weiteres einzusehen. Diese theoretische
Unterscheidung hat neuerdings mehrere energisch für sie eintretende
Anhänger gefunden21), aber eine haltbarere Definition oder
eine einwandfreie Begründung- ihres Standpunktes haben diese kaum
geliefert 22), trotzdem ist es wohl möglich, daß
sie sich im wesentlichen dem wirklichen Tatbestand angenähert haben.
Wie dem auch sein mag, sicher ist die fortbestehende Uneinigkeit in der
Deutung der Lokalisationsversuche; dabei gibt die schwankende Terminologie
manchen Anlaß zu gegenseitigen Mißverständnissen, welche
einen sachlichen Abschluß der Untersuchungen keineswegs fördern.
20) Moleschotts Untersuch., 5 (l), S. 174.
21) Vgl. Förster, Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie, 9, 1901; auch die schon angeführten Werke von Henri.
22) Im Jahre 1902 schlug Henri vor,
die Bezeichnungen Raumsinn und Ortssinn durch »degré de distinction«
und »localisation« zu ersetzen; aber seine Erklärung des
letzten Begriffes blieb noch objektiv (reconnaifre le point de la peau
qui a été le siége d'impression tactile). Von
Claparède sind drei Ausdrücke vorgeschlagen worden: »discrimination
tactile«, »perception cutanée spatiale< und »localisation«
(C. R. de la Soc. de Biolog., 54, S. 343 und 757).
In anderer Hinsicht dagegen haben die bisherigen
Forscher eine ebenso merkwürdige Übereinstimmung gezeigt; das
Wesen nämlich des Lokalisationsprozesses ist allemal als kinetisch
angesehen worden. Diese kinetische Hypothese tritt zwar in mannigfaltigen
Schattierungen zutage, aber ihre tatsächlichen Wirkungen laufen hier
immer auf dasselbe Resultat hinaus; denn für jeden Lokalisationsfehler
wird ohne irgendeine empirische Begründung dem sich momentan bewegenden
Gliede die Schuld gegeben. Schon von Aubert und Kammler23) wird
der Fehler als eine falsche Beurteilung »der Größe der
ausgeführten Bewegung « aufgefaßt. Pillsbury24)
und nach ihm Parrish25) begründen die von ihnen beobachtete
distale Tendenz der Lokalisationen mit dem Loebschen Satze, daß Flexionsbewegungen
gegenüber Extensionsbewegungen unterschätzt werden26).
Henri27) gibt für alle Beobachter verschiedene »individuelle«
Erklärungen, welche aber mit der obigen kinetischen Voraussetzung
sämtlich übereinstimmen; der erste Beobachter soll den Arm zuviel,
der zweite ihn zuwenig bewegt haben, während der dritte alles beides
begangen haben soll, indem die Bewegung der Schulter zu groß, die
des Ellenbogens jedoch zu klein gewesen sei. Ebenso geben Kramer und Moskiewicz28)
für alle Lokalisationsfehler der Ungenauigkeit der Bewegungen die
Schuld. Schließlich, und am ausdrücklichsten, sagt Pearce29),
daß »seine Arbeit sich auf die Theorie stütze, daß
jede Empfindung und jedes Bild des sensorischen Reizes ein mehr oder weniger
bestimmtes motorisches Element habe, dessen Natur in einer Tendenz zu Lokalisationsbewegungen
bestehe«. Eine andere Erklärungsart kommt bei keiner Untersuchung
vor30).
23) a. a. O. S. 161.
24) a. a. O. S. 5253.
25) a. a. O. S. 265.
26 ) Pflügers Archiv. Bd. 46, 1890,
27) Die Raumwahrnehmung des Tastsinnes. S. 111114.
28) a. a. O. S. 111112.
29) Psych. Review. 9, S. 333.
30) Außer dem erwähnten
Einflusse der Gesichtsvorstellungen.
3. Die drei fundamentalen Orientierungsklassen31) und ihre Entwicklungsgeschichte.
Durch die oben geschilderte Unklarheit in der Auffassung
des Problems und durch Voreingenommenheit in bezug auf die Lösungen
scheint mir allem Fortschritt der Weg von vornherein abgesperrt zu sein.
Um vorwärts zu kommen, müssen wir vor allem die körperlichen
Orientierungen in drei Fundamentalklassen einteilen; zwischen diesen sind
wohl Kombinationen, kaum aber eigentliche Übergänge aufzuweisen.
31) Hierbei wird nur die Orientierung
der Körperteile untereinander in Betracht gezogen. Die weitere taktile
Orientierung in bezug auf die Außenwelt, wie sie mittels des Ohrlabyrinthes
usw. zustande kommt, wird nicht berührt.
Es wird sich dann bald zeigen, daß diese drei Klassen ebensovielen wohlmarkierten Entwicklungsstufen entsprechen. Dabei soll aber die Rede keineswegs von der ursprünglichen, sondern nur von der nächstliegenden Genese sein; denn offenbar sind diese beiden Ordnungen der Erklärung eines Entwicklungsproduktes sehr deutlich zu unterscheiden; in der Erdgeschichte z. B. hat man vor 2000 Jahren eine Wirbeltheorie und andere geniale, noch heute beachtenswerte Hypothesen von der Entstehung der Welt aufzustellen gewußt. Aber erst seit einem Jahrhundert ist man in die weniger anspruchsvolle Wissenschaft der allerletzten Phasen der Erdentwicklung, in die Geologie, eingedrungen. Und so werden wir jetzt wohl tun, uns auch in bezug- auf jenes im Laufe der Zeit entwickelte Produkt, welches wir die taktile Raumvorstellung nennen, der bescheidenen Erforschung der nächstliegenden Genesen zuzuwenden. Davon werden vielleicht schließlich die Hypothesen über die ursprüngliche Entstehung selbst einen nicht zu unterschätzenden Nutzen ziehen.
Der ersten Orientierungsklasse und zugleich der ältesten Entwicklungsstufe entspricht der sogenannte »Raumsinn«, wie ihn Weber mit den Zirkelspitzen maß. Diese Fähigkeit hängt unmittelbar von der Differenzierung der zwei betreffenden Tastempfindungen ab; durch diese Differenzierung wird bei simultaner Reizung die Zerlegung,bei sukzessiver die Unterscheidung erst ermöglicht. Theoretisch zwar sollte diese Fähigkeit noch weiter in die Wahrnehmung der Zweiheit und in die des räumlichen Auseinanderseins analysiert werden; aber empirisch wenigstens laufen diese zwei Fähigkeiten, selbst in pathologischen Fällen, beinahe parallel (wenn auch nicht ganz, wie ich glaube)32).
32) Die Besprechung des Raumsinnes der Netzhaut maß hier unterbleiben, da uns dies zu weit führen würde.
In der zweiten Klasse dagegen beruht die Orientierung nicht auf einer unmittelbaren Vergleichung zweier Empfindungen, sondern auf der Vermittlung einer »assimilativ« reproduzierten Vorstellung des umgebenden Hautgebietes. Diese Klasse kommt am reinsten zum Vorschein in den Versuchen von Henri, Pillsbury und Washburn, wo der Beobachter die vermeintliche Reizstelle nicht auf dem gereizten Gliede selbst, sondern auf einer Photographie oder einem Modell anzeigt; sie liegt ferner den Versuchen von Henri und Barth zugrunde, wo der Beobachter die vermeintliche Stelle in Worten beschreiben soll, wie in Kliniken gebräuchlich ist. Offenbar ist diese Klasse grundverschieden von der ersten; man kann sehr wohl zwei Stiche räumlich auseinanderhalten und doch beide auf ein falsches Hautgebiet verlegen. In dieser reproduzierten Vorstellung des Hautgebietes sind gleichzeitig sowohl Tast- als auch Gesichtskomponenten vorhanden, und je nach den Umständen können die einen oder die andern dominieren; der Übergang ist aber zu fließend, als daß man daraus zwei Klassen bilden könnte; gewöhnlich hat diese Vorstellung einen sehr schematischen Charakter und enthält nur das, was praktisch nötig ist.
Diese zweite Orientierungsklasse scheint nun den wahren Kern des »Ortssinnes« auszumachen, so wie dieser Begriff von Aubert, Kammler und ihren Anhängern gefaßt wird. Haben dann diese Forscher recht, wenn sie auch die Weberschen Lokalisationsversuche hier unterbringen wollen? Oder war vielmehr Weber selbst berechtigt, diese Versuche als bloß nochmalige weniger reine Prüfungen des Raumsinnes zu betrachten? Auf subjektive Wahrnehmung allein gestützt, ist man sehr geneigt, sich für Weber zu entscheiden; aber die objektive Untersuchung, besonders diejenige pathologischer Fälle, zeigt unwiderleglich, daß die für bloße Ungenauigkeiten der Versuche gehaltenen Momente tatsächlich den Vorgang ganz beherrschen und ihn dem Ortssinne sehr nahe rücken; es hat sich nämlich gezeigt, daß der Raumsinn eines Patienten durch anstrengende Bewegungen allemal so gut wie aufgehoben wurde, während dabei doch die Webersche Lokalisationsfähigkeit immer intakt blieb33). Und auch die subjektive Beobachtung führt, wie ich finde, schließlich zum selben Resultat; denn in der Tat werden die zwei Empfindungen der reizenden Spitze bzw. des suchenden Stiftes nicht unmittelbar (wie man leicht erwarten könnte), sondern erst durch Vermittlung einer assimilativ reproduzierten Vorstellung des betreffenden Hautgebietes miteinander verglichen. Der Vorgang ist etwa folgender: Die von der Reizspitze ausgelöste Empfindung klingt mehr oder weniger ab, ohne selbst eine Vorstellung des umgebenden Hautgebietes erzeugen zu müssen; wohl aber entspringt eine solche Vorstellung aus den von dem suchenden Stift erzeugten Empfindungen, und diese Vorstellung entwickelt sich nun gegen die Stelle der Spitzeempfindung hin, ruft letztere wieder wach und absorbiert sie.
33) Siehe Anhang I.
Außerdem ist das Webersche und selbst das Volkmannsche
Verfahren weiter dadurch verunreinigt, daß in beiden auch die dritte
Orientierungsklasse, die reine Lagenwahrnehmung, eine Rolle spielt34),
denn nur diese, nicht der Raumsinn oder die Hautvorstellung, kann die suchende
Hand des Beobachters bis zum ersten Kontakt mit der gereizten Haut führen;
und doch wirkt die Stelle des ersten Kontaktes auch auf die endgültige
Lokalisation35). Leider ist die überwiegende Mehrzahl der
bisherigen Experimente und der pathologischen Prüfungen bei diesen
zwei ursprünglichen und höchst unreinen Verfahren stehen geblieben36).
34) Dieser Einwand gegen das Webersche Lokalisationsverfahren, daß darin grundverschiedene Prozesse zusammengeworfen seien, hat natürlich gar nichts gemeinsam mit dem Einwand von Czermak; letzterer erklärt das Verfahren für »an und für sich gänzlich unbrauchbar«, weil es nur den Größt-, nicht auch den Kleinstwert der Unterscheidungsschwelle zu bestimmen vermag; in diesem letzteren Einwand liegt ein merkwürdiges Verkennen der Brauchbarkeit der Methode des mittleren Fehlers überhanpt. (Ber. d. K. Akad. d. Wiss. zu Wien, 1855, Bd. 15, S. 475.)
35) Diesen Zusammenhang zwischen der ersten Kontaktstelle und der endgültigen Lokalisation habe ich experimentell feststellen können.
36) Dem obenerwähnten Mitwirken
der Lagewahrnehmung ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, wenn in pathologischen
Fällen die Lokalisation (besonders an den Fingern und Zehen) oft eine
Abhängigkeit von den Bewegungsempfindungen vorspiegelt; denn letztere
sind in enger Beziehung nicht mit der Orts-, sondern mit der Lagen-Wahrnehmung,
d. h. nicht mit der zweiten, sondern mit der dritten Orientierungsklasse.
Daß die zweite Orientierungsklasse, kurz als »Ortswahrnehmung« bezeichnet, eine spätere Entwicklungsstufe darbietet, erhellt schon aus ihrer komplexen reproduktiven Beschaffenheit. Ihre nahe Abkunft aus der »Raumwahrnehmung« tritt noch darin zutage, daß unter normalen Bedingungen alle beide durchgängig fast dieselben Schwellenwerte aufweisen (wenn richtig verglichen). Das Wesen des Entwicklungsprozesses zeigt sich in der obenerwähnten pathologischen Beobachtung, daß trotz einer großen die Raumwahrnehmung ganz aufhebenden Abstumpfung der Empfindungsqualitäten die Ortswahrnehmung noch intakt fortbestehen kann; denn diese Tatsache beweist, daß die Reproduktion des betreffenden Hautgebietes nicht mehr mittels der bewußten Empfindungsqualität ausgelöst zu werden braucht, sondern durch die mechanisierende, jedes unnötige Mittelglied verdrängende Übung jetzt zu einer unmittelbaren »spezifischen« Funktion des betreffenden Tastnerven überhaupt geworden ist.
Die dritte Klasse, die reine Lagenwahrnehmung, wird den Gegenstand unser eigenen Versuche ausmachen. Psychologisch unterscheidet sie sich von der zweiten Klasse dadurch, daß es hier nicht mehr darauf ankommt, zwei Empfindungen in der Vorstellung des betreffenden Hautgebietes, sondern in der des ganzen umgebenden Raumes zur Deckung zu bringen. Diese Klasse tritt am reinsten in den Versuchen von Henri und Parrish hervor, wo der Beobachter die vermeintliche Stelle nicht berührt, sondern nur auf sie von oben her hindeutet; hierher gehören auch die Versuche von Aubert und Kammler, Lewy und Pearce, wo man die Webersche Methode beibehält, aber bloß die Stelle der ersten Berührung mit der Haut in Betracht zieht; ferner gehören hierher die Versuche von Bloch und die von Kramer und Moskiewicz, wo eine Hand ihre frühere, oder die von der andern verlassene Stelle wieder einnehmen soll; im Prinzip gehören hierher auch die Henrischen Versuche, wo die Lokalisation durch die Blicklinien ermittelt wird; denn da sind offenbar die Bewegungen, und ebenso die schließliche Lage der suchenden Hand nur durch diejenigen der Augen ersetzt.
Ein anderes, tiefer einschneidendes Kennzeichen ist,
daß jetzt der Orientierungsprozeß sich nicht mehr auf das gereizte
Hautgebiet beschränkt, sondern sich vielmehr über eine fortlaufende
Kette von Teilbestimmungen erstreckt37). Obgleich die Lagenvorstellung
eines mittelstark gereizten Punktes, für sich betrachtet, einer der
einfachsten Bestandteile des Bewußtseins ist, so ist sie doch immer
erst das Produkt von allen diesen Teilbestimmungen, welche ihre komplizierte
Summation fast ebenso mechanisch wie die Hebel einer Rechenmaschine bewirken,
und in der Vorstellung erst das Gesamtresultat angeben. Wenn nur eine einzige
dieser Teilbestimmungen fehlt, so ist die ganze Orientierungsfähigkeit
aufgehoben38).
37) Werden zwei Lagenwahrnehmungen miteinander verglichen, wie es bei allen Lokalisationsversuchen geschehen muß, so erstreckt sich die Kette von Teilbestimmungen jeweils von der gereizten bis zur suchenden Hautstelle (Finger oder Netzhaut).
38) Dabei aber zeigen die erhaltenen
Reflexe geköpfter Frösche, daß die allgemeine Beziehung
zum dominierenden Kopf nicht unentbehrlich ist; und auch bei vollem menschlichen
Bewußtsein kann unter Umständen die Domination des Kopfes der
des Rumpfes weichen. Vgl. Aubert (Delage), Studien über die Orientierung,
1888.
Diese Teilbestimmungen sind nun von zweierlei Art:
Diejenigen der ersten Art beruhen auf den Winkelstellungen aller bei der
Orientierung beteiligten Gelenke und lassen sich deshalb als »artikular«
bezeichnen. Die Teilbestimmungen der zweiten Art beziehen sich auf den
Raum innerhalb jedes beteiligten Gliedabschnittes; sie können daher
»segmental«39) genannt werden40). Diese
Unterscheidung ist von fundamentaler Wichtigkeit für das Verständnis
der Erscheinungen der Lagewahrnehmung.
39) Die Ausdrücke »artikular» und »segmental» befriedigen mich noch nicht vollkommen, aber trotz aller Mühe und freundlicher Unterstützung ist es mir nicht gelungen, bessere zu finden; es ist aber eine für jede fruchtbare Besprechung der Lagewahrnehmungen unentbehrliche Voraussetzung, die damit gemeinten und oben definierten Begriffe kurz und eindeutig ausdrücken zu können.
40) Offenbar geben diese Bestimmungen
den Winkel bzw. Strahl eines Polarkoordinatensystems ab.
Physiologisch sind die Unterschiede handgreiflich.
Die »artikularen« Erregungen liegen tief und nahe am Gelenke
(vermutlich in den Pacinischen Körperchen); die entsprechenden Leitungsbahnen
kreuzen sich erst im verlängerten Mark; durchweg behalten sie für
jedes Gelenk eine merkwürdige kompakte Gruppierung und einheitliche
Funktion bei, was sich darin kundgibt, daß beschränkte Affektionen
im Rückenmark oder Gehirn scharf abgegrenzte, sehr intensive Erscheinungen
in der Peripherie erzeugen41). Die »segmentalen «
Erregungen dagegen scheinen nur in bezug auf den gereizten und den suchenden
Gliedabschnitt periphere Vorgänge zu enthalten; letztere finden hauptsächlich
in den Tastorganen der Haut statt; ihre Leitungsbahnen kreuzen sich bald
nach Eintritt in das Rückenmark; die Nervenäste anastomosieren
vielfach untereinander, wodurch die beschränktesten inneren Störungen
diffuse Erscheinungen in der Peripherie hervorbringen. Für alle intermediären
(d. h. zwischen den reizenden und suchenden gelegenen) Gliedabschnitte
sind die segmentalen Bestimmungen offenbar konstant, und deshalb können
sie in vollkommen genügender Weise schon durch zentrale Miterregungen
oder »Assoziationen « geliefert werden (s. S. 94), Diese physiologischen
Unterschiede genügen, um die beiden aufgestellten Gruppen scharf voneinander
abzugrenzen, und liefern also eine feste objektive Basis, worauf die subjektive
Unterscheidung weiterbauen kann42).
41) Siehe Anhang I.
42) Die psychologische Fruchtbarkeit
einer solchen objektiven Basis hat sich schon in der Geschichte der Erforschung
der Farbenempfindungen deutlich manifestiert.
Psychologisch ist der Unterschied weniger qualitativ,
als vielmehr funktionell ausgeprägt, was natürlich seine Wichtigkeit
nicht vermindert. In der Ruhe nämlich lösen die artikularen Erregungen
keine merklichen Empfindungen aus, aber nichtsdestoweniger bestimmen sie
mit erstaunlicher Genauigkeit die Lagevorstellungen aller distalwärts
entstehenden Empfindungen; nur in der Bewegung erzeugen sie merkliche Empfindungen,
die sich dann aber als viel zu wenig differenziert zeigen, um zur aktuellen
Orientierung genügen zu können43). Die segmentalen
Erregungen dagegen setzen merkliche Empfindungen sowohl an der gereizten
als an der suchenden Hautstelle notwendig voraus, da ja diese Empfindungen
als Träger der schließlich zustande kommenden Lagevorstellungen
dienen; aber in bezug auf alle intermediären Gliedabschnitte erfordern
die segmentalen Bestimmungen weder Empfindungen noch selbst physiologische
(periphere) Erregungen.
43) Siehe Anhang
I.
Die spätere Entwicklung dieser dritten Orientierungsklasse erhellt nicht nur aus der noch größeren Kompliziertheit des ganzen Vorganges, sondern namentlich aus der vollkommeneren Differenzierung und Selbständigkeit der vorgestellten Räumlichkeit; denn jetzt findet die Orientierung nicht mehr bloß in einem ausgedehnten Empfindungskomplex, sondern in der reinen, abstrakt vorgestellten Ausdehnung, im Raume selbst, statt. Außerdem ist die schon auf der zweiten Stufe beobachtete Mechanisierung hier noch weiter fortgeschritten; denn es ist nicht nur die Reproduktion der Lagevorstellung zu einer unmittelbaren Funktion der physiologischen Gelenkerregung geworden, sondern es können auch die einst vermittelnden Empfindungen in den Gelenken ursprünglich vermutlich höchst fein differenziert! jetzt nur noch als verkümmerte Überbleibsel ihr Dasein fristen. Offenbar ist diese intakte Lokalisationsfähigkeit der Gelenkerregungen bei degenerierten Empfindungen nur ein jetzt normal gewordener Zustand, den wir als pathologisch auch schon weiter oben (S. 14) bei den Hauterregungen beobachtet haben44).
44) Es könnte jetzt die alte Frage
auftauchen, welche von den drei Fähigkeitsklassen angeboren und welche
erworben sind. Aber diese Fragestellung scheint mir den modernen genetischen
Anschauungen nicht mehr angepaßt zu sein. Der Mensch, in diesem Fall
eine Ausnahme von den Tieren bildend, kann unmittelbar nach der Geburt
keine physische Funktion vollkommen ausüben; aber eine mehr oder weniger
ausgebildete Anlage hat er zu j e d e r allgemeinen Tätigkeit. Deshalb
sollte man nicht fragen, ob, sondern inwieweit eine Fähigkeit erst
erworben werden muß. Im gegenwärtigen Fall nun erreicht
nach meinen Beobachtungen selbst die dritte Stufe schon in den ersten Lebenswochen
eine überraschend fortgeschrittene Entwicklung, obwohl sie sich erst
viel später vervollkommnet.
In bezug auf die bisherigen Ansichten über diese
drei Klassen, Raum-, Orts- und Lagewahrnehmung, findet man, daß gerade
diejenigen Forscher, welche gestrebt haben, die zweite von der ersten abzutrennen,
sie um so mehr mit der dritten vermengt haben. Die einzige ausdrückliche
Klassifikation ist die von Henri gewesen45). Danach macht zwar
der
»Raumsinn«, ebenso wie nach unserer Auseinandersetzung, eine
Klasse für sich aus. Aber alles andere wird als »Lokalisation
« zusammengestellt und folgendermaßen weiter eingeteilt: »Lokalisation
mit Berührung und Bewegung«, >visuelle Lokalisation« und
»Lokalisation mit Beschreibung«. Offenbar hat diese Einteilung
einen sehr äußerlichen Charakter; in der ersten Gruppe werden
so grundverschiedene Vorgänge zusammengeworfen, wie das Herumtasten
nach der Reizstelle und das bloße Hinzeigen darauf, während
die dritte Abteilung »mit Beschreibung« nichts Wesentliches
darbietet, was nicht schon in der »visuellen Lokalisation«
vorhanden war, denn ob ich sage, daß ich in der Mitte der zweiten
Phalanx des Ringfingers berührt worden bin, oder ob ich auf die entsprechende
Stelle der Photographie hindeute, ist ziemlich dasselbe.
45) »Die Raumwahrnehmungen des
Tastsinnes«, S. IX u. X.
Was folgt aus der vorstehenden Analyse der Lagewahrnehmung
für die Deutung der Beobachtung? Da die Lagewahrnehmung auf einer
fortlaufenden Kette von Teilbestimmungen von der gereizten bis zur suchenden
Hautstelle beruht, so ist irgendeine von diesen Teilbestimmungen imstande,
die Lokalisation irrezuführen. Nicht nur am bewegten Arm der Versuchsperson
kann die Fehlerquelle liegen, wie alle Forscher vorausgesetzt haben, sondern
ebensogut am andern in Ruhe bleibenden Arm. Ferner, statt eines solchen
artikularen kann der Fehler ebensogut einen segmentalen Charakter haben;
statt die Flexionsstellung eines Gelenkes kann man die Länge irgendeines
Gliedabschnittes falsch beurteilt haben. In diesem Aufsatze also werde
ich versuchen, spekulative Vorurteile fernzuhalten und alle die erwähnten
Fehlerquellen unbefangen zu berücksichtigen; dann wird es sich bald
von selbst ergeben, inwieweit die Bewegung für die Lagenwahrnehmung
maßgebend ist.
4. Kritik der bisherigen Methodik.
a) In bezug auf die Lokalisationsfeinheit.
Nicht nur die Deutung, sondern auch die Methodik der bisherigen Lokalisationsversuche läßt sich kaum allen kritischen Einwänden entziehen. Auf alle Mängel, die bei individuellen Forschungen zutage getreten sein mögen, brauchen wir hier nicht einzugehen, wohl aber auf solche, von denen man zu glauben berechtigt ist, daß sie die gesamten bisherigen Forschungen schädlich beeinflußt haben.
Das Hauptziel aller bisherigen Untersuchungen ist natürlich die Messung der Lokalisationsfeinheit an verschiedenen Hautstellen und unter verschiedenen Bedingungen gewesen; und dazu hat man immer die zunächst liegende Methode des »mittleren Fehlers« angewandt. Nun ist aber die auffällige Tatsache hervorzuheben, daß bisher trotz aller Hinweise Fechners kein einziges Mal das variable Element des beobachteten Fehlers vom konstanten Element getrennt worden ist. Und gerade in der Lokalisation ist das bloße rohe Gesamtergebnis der zwei Elemente besonders bedeutungslos, da letztere von grundverschiedenen Momenten abhängen. Ohne diese Trennung vorgenommen zu haben, wissen wir nur, daß der variable Fehler jedenfalls kleiner als das angegebene rohe Ergebnis sein muß.
Nehmen wir konkrete Beispiele: Von den vielen Versuchen, die Lokalisationsfeinheit mit dem Raumsinn zu vergleichen, ist der weitaus sorgfältigste und wertvollste der von Kottenkamp und Ullrich gewesen. An gewissen Hautstellen fanden sie eine Übereinstimmung mit dem Raumsinn und an andern eine Diskrepanz. Aber wie soll man wissen, ob nicht an einigen Hautstellen sich konstante Tendenzen oder »Täuschungen» festgesetzt haben, welche mit der Lokalisationsfeinheit nichts zu tun haben? Eine sehr geringe Täuschungstendenz würde schon genügen, alle Vergleiche mit dem Raumsinn umzustürzen. Ganz Analoges läßt sich zu dem vermeintlichen Einfluß der Reizstärke, des Gesichtsbildes, des Gedächtnisses, der Ablenkung der Aufmerksamkeit usw. sagen. Und in der Tat sind, wie wir bald sehen werden, alle die erwähnten Momente imstande, auf die konstanten Tendenzen eine starke Wirkung auszuüben.
Allerdings ist die mathematische Reinigung des rohen Ergebnisses vom konstanten Element so lange unmöglich, als man bloß die Größe und die allgemeine Richtung der Fehler zu registrieren vermag. Um die verlangte Ausscheidung bewerkstelligen zu können, muß erst das ganze Verfahren entsprechend weiter ausgebildet werden.
So gefährlich und versteckt habe ich die Beeinflussung
des variabeln durch den konstanten Fehler gefunden, daß ich es vorgezogen
habe, die eingehende Untersuchung des ersteren zu unterlassen, bis ich
erst den letzteren gründlich untersacht hatte46). Daher
wird im folgenden Aufsatze die beobachtete Lokalisationsfeinheit (i. a.
W. der variable Fehler) mit möglichst wenig Diskussion konstatiert
werden; unsere Aufmerksamkeit wird sich auf das andere Hauptziel, die konstanten
Fehler oder »Täuschungen« konzentrieren.
46) Ich kann hier schon sagen, daß
ich Versuche angestellt habe, um die variabeln Fehler für alle Körperteile
zu ermitteln, und ferner, um sie in die aller Teilbestimmungen quantitativ
aufzulösen. Bis jetzt scheint es, daß die Präzision jeder
segmentalen Teilbestimmung annähernd gleich dem Raumsinn an derselben
Hautstelle ist; jede artikulare Teilbestimmung dagegen zeigt sich allemal
beinahe proportional der von Goldscheider gefundenen Bewegungsempfindungsschwelle
im betreffenden Gelenke. Auf diese Weise scheint es möglich, zu den
Elementen vorzudringen, wovon die drei Fähigkeiten, Raum-, Lage- und
Bewegungswahrnehmungen, in letzter Instanz abhängen; sind dann in
einem gegebenen Falle die Schwellen für zwei dieser Fähigkeiten
empirisch bestimmt worden, so läßt sich die dritte deduzieren;
die Wahrheit der Deduktion, und damit die Gültigkeit des ganzen Räsonnements
ist sofort empirisch kontrollierbar.
Aber eine mathematische Behandlung ist immer noch
unentbehrlich, sobald man wissen will, ob irgendein Ergebnis nicht dem
bloßen Zufalle zuzuschreiben ist; denn hierzu muß man die »wahrscheinliche
Abweichung» heranziehen47). Davon hat man jedoch niemals
die geringste Erwähnung getan, und (mit einer untenstehenden Ausnahme)
hat man nicht einmal die notwendigen Daten angegeben, mit deren Hilfe wir
die wahrscheinliche Abweichung selbst ausrechnen könnten. Man wird
wohl gemeint haben, ein genügendes Kriterium in seinem eigenen unmittelbaren
Urteile oder »Sicherheitsgefühle« zu besitzen; aber diese
subjektiven Kriterien haben sich in langer, sorgfältiger von mir angestellter
Prüfung als überraschend trügerisch herausgestellt, während
die Vermittelung durch die objektive wahrscheinliche Abweichung, richtig
und innerhalb der erlaubten Grenzen gebraucht, eine ebenso überraschende
Zuverlässigkeit an den Tag gelegt hat. Durch Ignorieren der wahrscheinlichen
Abweichung kommt man nicht nur zu falschen Schätzungen der Beweiskraft
seiner Ergebnisse, sondern man hat auch keine Norm außer dem jeweiligen
Belieben , wie zahlreich die Versuche anzustellen sind.
47) Auf den viel gebräuchlicheren
synonymen Ausdruck »wahrscheinlicher Fehler« mußte hier
verzichtet werden, da diese mathematische Bedeutung des Wortes Fehler,
zusammen mit dem ganz verschiedenen Begriff des Fehlers der Lokalisation,
sehr verwirrend wirkt.
Hier muß ich indessen konstatieren, daß in einer der gediegensten Arbeiten, der von Lewy, ein prinzipieller Einwand gegen die Anwendung der Mathematik erhoben worden ist. Weit davon, wie alle andern Forscher, die Rechnungen einfach zu unterlassen, hat er die mittlere Abweichung der einzelnen Fehler nach dem genauesten und mühevollsten Verfahren berechnet; statt aber den kleinen noch erforderlichen Schritt zu machen, und die wahrscheinliche Abweichung der allein in Betracht kommenden Mittelwerte zu deduzieren, wendet er sich vielmehr vom ganzen Thema mißtrauisch ab mit der Bemerkung, daß von «diesen aus der physikalischen Betrachtung herübergenommenen Fehlerberechnungen« nicht viel für die Psychologie zu gewinnen sei. Hiemach allerdings wäre die Abneigung aller Forscher gegen die rechnerische Bearbeitung ihres Versuchsmaterials einigermaßen gerechtfertigt, und für die gegenwärtige Arbeit hätte man sich viel Mühe ersparen können. Aber glücklicherweise gibt uns Lewy den Grund seines Mißtrauens an; es hatte sich nämlich bei seinen Ergebnissen herausgestellt, daß unter variierten Versuchsbedingungen das Verhältnis des mittleren Lokalisationsfehlers zur mittleren Abweichung von demselben nicht konstant blieb, was doch nach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen zu erwarten wäre. Aber nun bezieht sich natürlich diese zu erwartende Konstanz nur auf den reinen variabeln Fehler; auch die Physiker dürften sie kaum erhoffen, wenn sie, wie Lewy, noch rohe, mit überwiegenden konstanten Komponenten behaftete Fehler vor sich hätten.
Die nächste Rüge muß sich gegen die
unvollkommene Registrierung der Lokalisationen richten; gewöhnlich
werden, außer der Entfernung, nur gewisse Hauptrichtungen (distal,
proximal, ulnar und radial) notiert. Eine Ausnahme findet in dem sehr kleinen
Teile der Henrischen Versuche statt, wo die Lokalisationen auf Photographien
der Hand und des Gelenkes aufgezeichnet werden; aber auch in diesen Versuchen
es wird über die Stellung des Armes nichts mitgeteilt48)
erfahren wir bloß die Richtung der Fehler in bezug auf die Hand
selbst und gar nicht in bezug auf die andern Körperteile, was doch
ebenso wichtig ist.
48) Henri sagt nur: »Die Versuchsperson
hält ihren Vorderarm und ihre Hand auf einen Tisch« (Die Raumwahrnehmung
des Tastsinnes, S. 118).
Dann ist, soviel man aus den nicht sehr klaren Versuchsbeschreibungen entnehmen kann, keine gebührende Rücksicht auf die reine Unwissentlichkeit des Verfahrens genommen worden; wenn ein Beobachter Gelegenheit bekommt, seine Fehler zu bemerken, so treten allerlei unwillkürliche und nicht ohne weiteres berechenbare Verbesserungstendenzen ein. Dieser Einwand betrifft am entschiedensten alle Versuche, die zu unserer dritten Klasse gehören; sonst müßte man sicherlich längst zu einigen der auffallenden Erscheinungen gekommen sein, die sich in den folgenden Versuchen manifestiert haben.
Endlich muß ich auf eine nicht geradezu als Fehlerhaftigkeit zu bezeichnende, aber immerhin bedenkliche Unterlassung hinweisen. Es sind nämlich die Stellungen der gereizten Glieder nie systematisch und vergleichsweise variiert worden; ja, wie wir soeben sahen, ist die Stellung meistens nicht einmal eindeutig notiert worden. Aber doch hätten die erstaunlichen Angaben von Bloch schon im Jahre 1884 auf diesen Punkt aufmerksam machen sollen.
Infolge solcher methodologischer Unvollkommenheiten stehen die bisher gewonnenen Ergebnisse, selbst über Täuschungen, in keinem Verhältnis zu dem dafür aufgewendeten Fleiße und Scharfsinn. Die Zahl der Ergebnisse überhaupt ist sehr karg, und die der leidlich begründeten ist noch kleiner. Einige Forscher haben stark betont, daß die Lokalisationen eine distale Tendenz haben; aber andere, wie wir gesehen haben, finden im Gegenteil, daß die Tendenz proximal ist; und schon der allererste, Volkmann, bemerkte, daß trotz gleicher Versuchsbedingungen die verschiedenen Personen verschiedene Tendenzen hätten. Sodann ist von einem Forscher (Henri) behauptet worden, daß die Lokalisationen sich den »Grenzlinien» annähern; aber diese von vornherein schwach unterstützte Angabe wird sofort nachher negiert (Washburn, Pillsbury).
Die glaubwürdigeren Entdeckungen scheinen also
auf folgende vier Punkte zusammenzuschrumpfen: die von Henri beobachtete
Tendenz, die Lage des gereizten Arms zu tief vorzustellen; die ebenfalls
von ihm beobachtete Tendenz, bei der Blicklokalisation die Richtung nach
dem Körper zu zu bevorzugen; die Angabe von Kramer und Moskiewicz,
daß der eine Arm, wenn er zum andern symmetrisch gestellt werden
soll, zu einer bequemeren Stellung neigt; und die Beobachtung von Pearce,
daß die Lokalisation eines Reizes nach einem simultanen Nebenreize
zu abgelenkt wird.
Die Zahl der einzelnen Lokalisationen hat sich auf ungefähr 6000 gehäuft; sie war keineswegs willkürlich, sondern durch zwei Momente bestimmt. Das erste Moment bezog sich auf die Zahl der Versuchsanordnungen, und mußte sich nach der Komplexität der Aufgabe und der erstrebten Vollständigkeit der Lösung richten, Das zweite Moment dagegen bezog sich auf die Zahl der einzelnen Versuche innerhalb jeder Versuchsanordnung, und diese Zahl ist nur durch die Wahrscheinlichkeitsgesetze bestimmt worden; die Versuche wurden allemal so lange fortgesetzt, bis die wahrscheinlichen Abweichungen auf genügend kleine Bruchteile der hauptsächlich in Betracht kommenden Erscheinungen herabgesetzt waren. Die wahrscheinliche Abweichung des variabeln Fehlers habe ich nach bekannter Formel gleich angenommen, wo v dem mittleren variabeln Fehler und n der Zahl der in v berechneten Fälle gleich ist. In ähnlicher Weise ist die wahrscheinliche Abweichung des konstanten Fehlers gleich gesetzt, wo v und n dieselben Bedeutungen haben. Wenn zwei Beobachtungsserien unter gleichen Bedingungen vorgenommen worden sind, dann ist der »wahrscheinliche Unterschied« zwischen den beiden Mittelwerten gleich gesetzt worden, wo p1 und p2 die wahrscheinlichen Abweichungen der betreffenden Serien sind.
Natürlich gelten diese Formeln genau nur für Fehler, die sich in die normale Wahrscheinlichkeitskurve einordnen, was strenggenommen nicht oft zutreffen dürfte. Aber annähernd wenigstens scheint diese Kurve eine sehr allgemeine Gültigkeit zu besitzen; und mehr wie annähernde Gültigkeit ist bei vernünftigem Gebrauche der wahrscheinlichen Abweichung durchaus nicht erforderlich. Nach meinen Erfahrungen über Lokalisationsfehler würden obige Formeln etwas zu große Werte liefern; eine kleine Diskrepanz in dieser Richtung kann aber nicht schaden49).
49) Theoretisch dürfte diese Diskrepanz
darauf hindeuten, daß die Verteilungskurve der Fehler nach oben sich
etwas verflacht, was eigentlich bei allen sensorischen Unterscheidungen
geschehen müßte, wenn dem Begriffe der »Schwelle«
irgendeine objektive Bedeutung zukommen sollte; denn sonst würde die
Unterscheidungsfähigkeit nicht in einem speziellen Gebiet, sondern
nur ganz allmählich verschwinden.
Im praktischen Gebrauch der Formeln sind folgende vier Regeln am wichtigsten. Die erste ruft in Erinnerung, daß die empirisch bestimmte wahrscheinliche Abweichung nur einen Annäherungswert für die wahre wahrscheinliche Abweichung (d. h. die Abweichung, welche wirklich die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, übertroffen wie nicht erreicht zu werden) darstellt; daher, wenn n kleiner ist, so wird die empirisch bestimmte wahrscheinliche Abweichung nicht nur größer, sondern auch an sich weniger zuverlässig; doch bleibt sie, wie ich meine, selbst bei fünf oder sechs Fällen lehrreich genug, und deshalb gebe ich sie jedesmal an.
Die zweite Regel besagt, daß eine Abweichung vom Mittelwert erst dann eine besondere Berücksichtigung verdient, wenn sie mindestens dreimal größer als die wahrscheinliche Abweichung ist; ganz ebenso muß der Unterschied zwischen zwei Mittelwerten mindestens dreimal größer als ihr wahrscheinlicher Unterschied ausfallen, bevor er einer Erklärung bedürftig wird; um Zufall ganz auszuschließen, muß der beobachtete Wert den wahrscheinlichen um das Fünffache übertreffen, und dabei muß auch n groß sein50).
50) Es scheint mir also die Größe der wahrscheinlichen Abweichung von nur geringer Wichtigkeit zu sein, wenn man nicht ihr Verhältnis zur wahrscheinlichen Häufigkeit der Abweichungen anderer Größen im Auge behält. Folgende Tafel (Auszug aus meinem Aufsatz im American Journal of Psycbology, 1904, S. 76) stellt dieses Verhältnis für die normale Wahrscheinlichkeitsstreuung dar. Theoretisch sind zwar etwas verschiedene Wertsysteme noch möglich, die auch als »wahrscheinlich« zu bezeichnen sind; ein solches haben wir z. B., wenn zwei normale Wahrscheinlichkeitsstreuungen aufeinander superponiert sind, von denen die eine sehr steil und die andere sehr flach verläuft (schon bei vier bis fünf Komponenten wird der Gesamtverlauf wieder annähernd normal); aber solche Fragen haben hier wenig praktisches Interesse, weil es uns, wie schon gesagt, nur auf rohe Annäherungswerte ankommt.
Wenn die beobachtete dividiert durch
die = 1
2 3
4 5
6
wahrscheinliche Abweichung
dann ist ihre wahrscheinliche Häufigkeit
=
ungefähr
Die dritte Regel beruht darauf, daß der Begriff des »zufälligen Fehlers« einen elastischen Umfang hat, welcher niemals in der Folgerung größer sein darf als in der Begründung. Nehmen wir den Fall an, daß dieselbe Hautstelle bei derselben Gliederstellung mehrmals hintereinander geprüft wird. Trotz der Gleichheit der Bedingungen wird jede Lokalisation etwas verschieden von der andern ausfallen; und aus dieser Verschiedenheit berechnet man einen variabeln Fehler und eine wahrscheinliche Abweichung, welche beide als »erster Ordnung« bezeichnet werden können, und welche für viele Zwecke vollkommen genügen; z. B. wenn man die Diskrepanz der Ergebnisse zweier alternierender Versuchsbedingungen überlegen will. Aber zuweilen, besonders in neuen Versuchsstunden, bemerkt man eine Verschiebung der Gesamttendenz der Lokalisationen; um auch über solche Schwankungen zweiter und seltenerer Ordnung Rechenschaft zu geben, muß man die Versuche der Zahl nach sehr weit ausdehnen, und n nicht aus Einzelfällen, sondern aus angemessenen Gruppen hernehmen; demgemäß werden sowohl der mittlere variable Fehler, als auch die wahrscheinliche Abweichung größer sein; diese Schwankungen seltenerer Ordnung werde ich zukünftig als »systematisch variable« Fehler bezeichnen. Noch umfangreicher wird der Begriff der zufälligen Abweichung, wenn man auch noch die individuellen Verschiedenheiten darunter bringen will; diese dritte Ordnung ist ebenso leicht berechenbar, und lieferte zuweilen den zweckmäßigsten Wert. Also, die wahrscheinliche Abweichung ist nicht in starrer, mechanischer Weise, sondern mit eingehender Berücksichtigung aller Verhältnisse des je vorliegenden Falles anzuwenden; kurz, die Zahlen sind als eine Waffe der Vernunft, mitnichten als eine Dispensation davon zu gebrauchen.
Die vierte Regel erinnert daran, daß es weitere und noch schlimmere Gefahren gibt, diejenigen, welche von der Individualität des Forschers, von den herkömmlichen wissenschaftlichen Vorurteilen, von der notwendigen Beschränktheit und Unnatürlichkeit des Experiments überhaupt herrühren; alle solche Störungen lassen sich nicht variieren und dadurch eliminieren. Deshalb darf die Wahrscheinlichkeitsrechnung obwohl ein logisches Glied in der Verwertung psycho-mathematischer Werte, dessen Vernachlässigung überall irreführende Ergebnisse großzieht sich doch nie anmaßen, die ganze logische Kette zu sein.