I. Teil. Einleitung.

    Unter »Normaltäuschungen« sind solche zu verstehen, die weder durch pathologische Zustände, noch durch abnorme Versuchsbedingungen (z. B. durch Kreuzung der Finger) entstanden sind. Zur Darlegung meiner eigenen Ergebnisse auf dem Gebiete der taktilen Lagewahrnehmung scheint ein vorangehender kurzer Blick über die bisherigen sogenannten Lokalisationsversuche unentbehrlich zu sein; an dieser Stelle sollen nur die hauptsächlichsten seither mitgeteilten Tatsachen angeführt werden; auf die Deutungen und die Kritik kommen wir erst in den Abschnitten 3 und 4.

1. Die bisherigen Ergebnisse.

    Volkmann1) (1844), durch die Forschungen von Weber angeregt, hat wohl als der erste über Lokalisationsversuche berichtet. Seine Beobachter ließen sich bei verschlossenen Augen stechen und zeigten dann mit geöffneten Augen den Punkt, an welchem vermeintlich gereizt wurde. Die durchschnittliche Größe des begangenen Fehlers schwankte von 1 mm an den Fingerspitzen bis zu 4 cm am Oberarm; hier ist offenbar eine große Ähnlichkeit mit den von Weber konstatierten Schwellen für Unterscheidung zweier Zirkelspitzen zu verzeichnen. Die Richtung der Fehler lag gewöhnlich in der Längsachse der Nerven; drei Personen hatten eine distale, die vierte dagegen eine proximale Tendenz.
 
 

1) Wagners Handwörterbuch d. Physiologie. II. S. 571.     E. H. Weber2) (1852} führte jetzt selbst ein Lokalisationsverfahren ein, welches sich seitdem allgemeiner Gunst erfreut hat. Es mußten nämlich die Versuchspersonen bei geschlossenen Augen nach dem vermeintlichen Orte mit einem Stift herumtasten. Die Ergebnisse sind wieder dem mit Zirkelspitzen gemessenen »Raumsinn« proportional gefunden worden.
 
  2) Ber. d. K. Ges. d. Wiss. z. Leipzig, M-P Klasse.     Aubert und Kammler3) (1858) wollten das neue Webersche Verfahren nachprüfen. Zu ihrer Überraschung fanden sie die Fehler viel kleiner, als sie nach den Raumsinnschwellen sein sollten; nur der erste Kontakt des Stiftes, wenn die Haut überhaupt zum ersten Male berührt wurde, konnte einen viel größeren Fehler erzeugen. Die Fehlergröße zeigte keine Abhängigkeit vom Drucksinne.

3) Moleschotts Untersuch., 5 (l), S. 174.
 
 

    Szabadföldi4) (1862) bediente sich desselben Verfahrens, konstatierte aber wiederum, daß die Fehler dem Raumsinn entsprechen; sie sollen sich vermindern, wenn man das reizende Instrument heizt.
 
 

4) Moleschotts Untersuch., 9, S. 624.     Kottenkamp und Ullrich5) (1870) wollen das Verhältnis zum Raumsinn durch sorgfältigere Webersche Versuche endgültig festsetzen; an einigen Stellen finden sie eine gute Übereinstimmung; an andern dagegen tritt eine unerklärliche Diskrepanz zutage. Die Tendenz der Fehler ist eher proximal.
 
  5) Archiv f. Ophthalmologie, 17 (2), S. 39.     Donders6) (1871] wendet sich einem ganz neuen Verfahren zu, freilich zu wesentlich andern Zwecken. Er verdunkelt das Zimmer vollständig mit Ausnahme eines sehr lichtschwachen, elektrisch beleuchteten Punktes, welchen der Beobachter fixieren soll; dann läßt Donders etwas seitlich vom Beobachter einen elektrischen Funken überspringen. Der Beobachter weiß den Ort des Funkens, sowie den des Fixationspunktes, mit dem Finger gut zu treffen.
 
  6) Zeitschrift f. Biologie, 6, S. 41.     Bloch7) (1884—1902) will auch ein neues Verfahren gebrauchen. Er stellt einen zweiflügeligen vertikalen Schirm in der Weise vor sich auf, daß jede Hand verschiedene Orte je eines Flügels erreichen kann. Nun versucht er beide Hände zu genau korrespondierenden Orten an den zwei Flügeln emporzuheben. Für Orte in der Nähe seines Körpers beträgt die durchschnittliche Diskrepanz der Hände 1—2 cm; für Orte weit vom Körper dagegen steigt sie bis zu 4—6 cm. An den Ergebnissen wird nichts geändert, wenn der eine Arm ganz ruhig auf einem Kissen liegt, und auch dann nicht, wenn er durch Gummibänder, die ihn gewaltsam von der Stelle wegzuziehen streben, in starke Spannung gebracht wird. Besonders schwer fällt es, die eine Hand an den Ort zu bringen, welchen die andere soeben verlassen hat. In einer späteren Arbeit glaubt dieser Forscher das Webersche Verfahren mit Vorteil dahin zu modifizieren, daß er sich selbst reizt; dies geschieht aber mit solcher Kraft, daß er die Stelle nach der Lokalisation noch sehen kann; auf diesem Wege entdeckt er, daß das bekannte Vierordtsche Gesetz für den Fuß wenigstens ungültig ist.
 
 
 
 

    7) Comptes Rendus de la Société de la Biologie, 1884 und 1902.

    Leubuscher8) (1886) findet nach dem Weberschen Verfahren, daß die Lokalisationsfehler insofern vom Drucksinne abhängig sind, als sehr schwache Reize etwas besser lokalisiert werden.

    8) Jenaische Zeit. f. Naturwiss., 20, S. 34 (auch im Zentralbl. f. klin. Med. 7. Jahrg., S. 129).
 
 
 
 

    Barth9) (1894) wendet sich zur Erforschung des Lokalisationsgedächtnisses und konstatiert eine regelmäßige Zunahme des Fehlers mit dem Zeitintervall. Er benutzt nicht nur das Webersche, sondern auch folgendes neues Verfahren: Ein Punkt wird auf der Haut mit Tinte notiert; der Beobachter merkt sich den Punkt, schließt die Augen und versucht ihn nun mit dem Stifte zu berühren; die Fehler zeigen sich kleiner als nach dem Weberschen Verfahren. Im allgemeinen haben die Fehler eine distale Tendenz.
 
 

    9) Etudes sur le sens du lien et sur la mémoire de ce sens. Diss. Dorpat. Da ich leider der russischen Sprache nicht mächtig bin, muß ich mich auf die Angaben von Henri stützen (Die Raumwahrnehmung des Tastsinnes, 1898, S. 93).
 
 

    Henri10) (1893—1898) führt mannigfache sinnreiche Neuerungen ein. Die meisten Versuche geschehen noch nach dem Volkmannschen Verfahren, aber mit der interessanten Modifikation, daß der Beobachter die vermeintliche Stelle nicht mehr auf dem gereizten Gliede selbst, sondern auf einer Photographie davon anzeigt; die Modifikation soll keine Änderung der Ergebnisse herbeigeführt haben; aber nunmehr können die Fehler graphisch registriert werden. Henri kommt zu dem Ergebnis, daß man gewöhnlich zu nahe an irgendeiner hervorragenden Stelle (»Leiste, Knöchel, Rand, Gelenk usw.«) lokalisiert; je zahlreicher solche Anhaltspunkte vorhanden sind, desto kleiner sind die Fehler; letztere werden größer bei schwachem Reize11). Ein anderes Verfahren bestand darin, daß die Hand der Versuchsperson unter einem in Quadratzentimetern eingeteilten Schirm lag; der Experimentator beschreibt mündlich einen Hauptpunkt, und der Beobachter muß dann sagen, unter welchem Quadrat er liegt; die Fehler sind sehr klein und bevorzugen die Richtung nach dem Körper zu. In das Webersche Verfahren führt Henri die nützliche Modifikation ein, daß er den Stift des Beobachters durch eine mit Tinte gefüllte Glasröhre ersetzt und so eine graphische Registrierung des gesamten Herumtastens entstehen läßt. In einer andern Versuchsserie darf der Beobachter die vermeintliche Stelle nicht berühren, sondern nur auf sie von oben hindeuten; jetzt sind die Fehler an den Fingern ebenso groß, wie am Arm; ihre Richtung ist individuell verschieden; die vertikale Entfernung des Zeigefingers von der gereizten Haut wird meistens sehr überschätzt. Auch andere Variationen sind probiert und außerdem das Barthsche Verfahren nachgeprüft worden; eine interessante Versuchsserie beschäftigt sich mit der Unsicherheit in der Angabe der Finger12) Im allgemeinen betont Henri die überwiegend distale Tendenz der Fehler.
 
 
 
 

    10) Archives d. Physiologie, 1893, S. 615; Année psychologique, 2. S. 168, und 3. S. 225; C. R. de la Soc. de Biol., 1896; Rev. Phil. 1897; Über die Raumwahrnehmungen des Tastsinnes, 1898.
 
 

    11) Es ist nicht zu ersehen, ob Henri darauf Rücksicht genommen hat, daß man schon das Gegenteil angegeben hatte.

    12) Es ist sonderbar, daß er dabei diese Verwechslung der Finger als eine Neuentdeckung betrachtet. (Vgl. Die Raumwahrnehmung des Tastsinnes, S. 126 u. 128.) Die Tatsache ist doch wohl lange bekannt. Unter andern haben sie Mitchell (Injuries of Nerves and their consequences, 1874, Chap. 6) und Leubuscher (Jenaische Zeit. f. Naturwiss. 1886, Bd. 20, S. 24) konstatiert. Ich glaube gezeigt zu haben, daß die Unterscheidung der Finger und Zehen wesentlich von Miterregungen in den Gelenken abhängt (Brit. J. Psych., I, S. 302—304).
 
 
 
 

    Lewy13) (1895) beschäftigt sich, wie im vorangegangenen Jahre Barth, mit dem Lokalisationsgedächtnis; sowohl Verfahren wie Ergebnis sind den früheren sehr ähnlich. In einigen Versuchen aber beobachtet Lewy (wie einst Aubert und Kammler) sorgfältig die Stelle des ersten Kontakts des Stiftes mit dem gereizten Gliede; doch findet er den Fehler nicht viel größer als den nach dem suchenden Herumtasten. In einigen weiteren Versuchsserien wird während der Lokalisation die Aufmerksamkeit der Versuchspersonin verschiedenerweise abgelenkt; dadurch wird der Fehler allemal größer.
 
 

    13) Zeitschr. f. Psychologie, 8. S. 231,
 
 

    Pillsbury14) (1895) widmet sich besonders der Beeinflussung der Lokalisation durch die Gesichtsvorstellungen. Nach dem Weberschen, wie auch nach dem photographischen Verfahren Henris findet er, daß die Genauigkeit abnimmt, wenn man sich bemüht, kein Gesichtsbild von der gereizten Hautstelle zu haben. Die Fehler liegen in distaler Richtung.
 
 
 
 

    14) Am. J. Psychology, 7, S. 42.

    Washburn15) (1895) erforscht die Beeinflussung durch die Gesichtsvorstellungen weiter und kann dieselbe in mannigfachen Erscheinungen spüren. Gewöhnlich wurde der Beobachter an zwei Stellen, oder mit einer fortlaufenden Kante gereizt. Auch einige Webersche Versuche wurden gemacht. Die Fehler neigen nicht gegen die »Grenzlinien« zu (wie Henri behauptete), sondern rücken von ihnen ab; zu diesem Henri widersprechenden Ergebnis sei, wie Washburn mitteilt, auch Pillsbury gekommen. Die Tendenz der Fehler scheint bei Washburn proximal zu sein.

15) Phil. Studien, II, S. 190. Parrish16) (1896) wiederholt die obigen Versuche Pillsburys, macht aber die Henri sche Modifikation, daß der Beobachter auf die vermeintliche Stelle bloß von oben hindeutet. Dadurch werden die Fehler viel größer; im übrigen stimmen die Ergebnisse mit denen von Pillsbury überein. 16) Anm. J. Psychology, 8, S. 250.     Kramer und Moskiewicz17) (1901) wiederholen die Versuche von Bloch, indem sie die beiden Arme symmetrisch zueinander zu stellen suchen. Ebenso wie Bloch finden sie, daß Muskelspannung keinen Einfluß ausübt. Auch prüfen sie die Genauigkeit, mit der der eine Arm die vom andern eingenommene Stellung symmetrisch reproduzieren kann; dabei zeigte die Reproduktion eine auffallende Neigung, die bequemste Lage zu bevorzugen.
 
  17) Zeitschr. f. Psychologie, 25, S. 101.     Pearce18) (1902) teilte in einem Aufsatz über »normale motorische Suggestibilität« mit, daß eine Lokalisation durch einen simultanen Nebenreiz merklich beeinflußt, und zwar gegen letzteren hingezogen wird; sein Verfahren ist das von Aubert und Kammler, indem nur die Stelle des ersten Kontaktes des suchenden Stiftes mit dem gereizten Glied in Betracht gezogen wird. Schon im nächsten Jahre kann Pearce die eben erwähnte Erscheinung nicht nur bestätigen, sondern sie auch bei der visuellen und akustischen Orientierung nachweisen.
 
  18) Psych. Review, 9, S, 329.
 
 
2. Kritik der bisherigen Deutungen der Versuche.



    Die Absicht der ursprünglichen Lokalisationsversuche von Volkmann war darauf gerichtet, zu den Weberschen Experimenten mit den Zirkelspitzen eine Ergänzung zu liefern; letztere Versuche hatten, wie man annahm, die Feinheit der angeborenen »Raumanschauung« geprüft; erstere dagegen sollten sich auf die erworbenen, von den geometrischen Verhältnissen der Glieder abhängigen »Ortserkenntnisse« beziehen, vermöge deren die Hand jeden beliebigen Körperteil sofort zu berühren vermöge. In diese Begriffsunterscheidung scheint Weber eingewilligt zu haben; denn er bezieht seine späteren Zirkelergebnisse auf den »Raumsinn«; keineswegs aber gibt er zu, daß der »Ortssinn« durch solche Lokalisationsversuche zu prüfen sei; letztere betrachtet er vielmehr bloß als andere, nur weniger genaue Prüfungen des Raumsinnes. Die meisten späteren Forscher haben nicht einmal Volkmanns Terminologie angenommen19), sondern vielmehr in beliebiger Abwechslung Raumsinn und Ortssinn als synonyme Begriffe gebraucht; während für diejenige räumliche Orientierung, welche von den geometrischen Verhältnissen der Glieder abhängt, der Ausdruck »Lagewahrnehmung« vorgezogen wurde.

    19) Vgl. Nothnagel, Deutsches Archiv f. klin. Med. 2, 1867; Dehn, Vergleichende Prüfungen über den Haut- und Geschmackssinn, 1894, v. Frey, Sitzungsb. d. phys.-med. Ges. zu Würzburg, 9. Nov. 1899.
 
 

    Jedoch ist im Jahre 1858 von Aubert und Kammler die Bezeichnung Ortssinn nochmals energisch für Lokalisationsversuche gefordert worden; begrifflich aber wird jetzt der Ortssinn vom Raumsinn folgendermaßen unterschieden: »Hier wird die Fähigkeit der Unterscheidung zweier Punkte und ihrer Lage zueinander, dort die Fähigkeit, die Lage eines Punktes in bezug auf fühlende Punkte unserer Haut anzugeben, geprüft«20). So fällt der klare Volkmannsche Begriff weg, und statt dessen tritt ein ziemlich unklarer ein; denn der psychologische Unterschied zwischen »der Lage zweier Punkte zueinander« einerseits und »der Lage eines Punktes in bezug auf fühlende Punkte« andererseits ist nicht ohne weiteres einzusehen. Diese theoretische Unterscheidung hat neuerdings mehrere energisch für sie eintretende Anhänger gefunden21), aber eine haltbarere Definition oder eine einwandfreie Begründung- ihres Standpunktes haben diese kaum geliefert 22), trotzdem ist es wohl möglich, daß sie sich im wesentlichen dem wirklichen Tatbestand angenähert haben. Wie dem auch sein mag, sicher ist die fortbestehende Uneinigkeit in der Deutung der Lokalisationsversuche; dabei gibt die schwankende Terminologie manchen Anlaß zu gegenseitigen Mißverständnissen, welche einen sachlichen Abschluß der Untersuchungen keineswegs fördern.
 
 
 

    20) Moleschotts Untersuch., 5 (l), S. 174.

    21) Vgl. Förster, Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie, 9, 1901; auch die schon angeführten Werke von Henri.

    22) Im Jahre 1902 schlug Henri vor, die Bezeichnungen Raumsinn und Ortssinn durch »degré de distinction« und »localisation« zu ersetzen; aber seine Erklärung des letzten Begriffes blieb noch objektiv (reconnaifre le point de la peau qui a été le siége d'impression tactile). Von Claparède sind drei Ausdrücke vorgeschlagen worden: »discrimination tactile«, »perception cutanée spatiale< und »localisation« (C. R. de la Soc. de Biolog., 54, S. 343 und 757).
 
 

    In anderer Hinsicht dagegen haben die bisherigen Forscher eine ebenso merkwürdige Übereinstimmung gezeigt; das Wesen nämlich des Lokalisationsprozesses ist allemal als kinetisch angesehen worden. Diese kinetische Hypothese tritt zwar in mannigfaltigen Schattierungen zutage, aber ihre tatsächlichen Wirkungen laufen hier immer auf dasselbe Resultat hinaus; denn für jeden Lokalisationsfehler wird — ohne irgendeine empirische Begründung — dem sich momentan bewegenden Gliede die Schuld gegeben. Schon von Aubert und Kammler23) wird der Fehler als eine falsche Beurteilung »der Größe der ausgeführten Bewegung « aufgefaßt. Pillsbury24) und nach ihm Parrish25) begründen die von ihnen beobachtete distale Tendenz der Lokalisationen mit dem Loebschen Satze, daß Flexionsbewegungen gegenüber Extensionsbewegungen unterschätzt werden26). Henri27) gibt für alle Beobachter verschiedene »individuelle« Erklärungen, welche aber mit der obigen kinetischen Voraussetzung sämtlich übereinstimmen; der erste Beobachter soll den Arm zuviel, der zweite ihn zuwenig bewegt haben, während der dritte alles beides begangen haben soll, indem die Bewegung der Schulter zu groß, die des Ellenbogens jedoch zu klein gewesen sei. Ebenso geben Kramer und Moskiewicz28) für alle Lokalisationsfehler der Ungenauigkeit der Bewegungen die Schuld. Schließlich, und am ausdrücklichsten, sagt Pearce29), daß »seine Arbeit sich auf die Theorie stütze, daß jede Empfindung und jedes Bild des sensorischen Reizes ein mehr oder weniger bestimmtes motorisches Element habe, dessen Natur in einer Tendenz zu Lokalisationsbewegungen bestehe«. Eine andere Erklärungsart kommt bei keiner Untersuchung vor30).
 
 

    23) a. a. O. S. 161.

    24) a. a. O. S. 52—53.

    25) a. a. O. S. 265.

    26 ) Pflügers Archiv. Bd. 46, 1890,

    27) Die Raumwahrnehmung des Tastsinnes. S. 111—114.

    28) a. a. O. S. 111—112.

    29) Psych. Review. 9, S. 333.

    30) Außer dem erwähnten Einflusse der Gesichtsvorstellungen.
 

      Aber trotz dieser vollständigen Übereinstimmung so vieler ausgezeichneter Forscher kann ich mich des schweren Bedenkens dagegen nicht erwehren, daß man die Fehlerquelle in einer rein spekulativen Weise bestimmen wollte. Vorsichtiger wäre es jedenfalls, dieser Fehlerquelle vorurteilslos nachzuforschen, und die Spekulation auf die nahe zur Hand liegenden Tatsachen, nicht umgekehrt, zu gründen.
 
 

3. Die drei fundamentalen Orientierungsklassen31) und ihre Entwicklungsgeschichte.


    Durch die oben geschilderte Unklarheit in der Auffassung des Problems und durch Voreingenommenheit in bezug auf die Lösungen scheint mir allem Fortschritt der Weg von vornherein abgesperrt zu sein. Um vorwärts zu kommen, müssen wir vor allem die körperlichen Orientierungen in drei Fundamentalklassen einteilen; zwischen diesen sind wohl Kombinationen, kaum aber eigentliche Übergänge aufzuweisen.
 
 

    31) Hierbei wird nur die Orientierung der Körperteile untereinander in Betracht gezogen. Die weitere taktile Orientierung in bezug auf die Außenwelt, wie sie mittels des Ohrlabyrinthes usw. zustande kommt, wird nicht berührt.
 
 

    Es wird sich dann bald zeigen, daß diese drei Klassen ebensovielen wohlmarkierten Entwicklungsstufen entsprechen. Dabei soll aber die Rede keineswegs von der ursprünglichen, sondern nur von der nächstliegenden Genese sein; denn offenbar sind diese beiden Ordnungen der Erklärung eines Entwicklungsproduktes sehr deutlich zu unterscheiden; in der Erdgeschichte z. B. hat man vor 2000 Jahren eine Wirbeltheorie und andere geniale, noch heute beachtenswerte Hypothesen von der Entstehung der Welt aufzustellen gewußt. Aber erst seit einem Jahrhundert ist man in die weniger anspruchsvolle Wissenschaft der allerletzten Phasen der Erdentwicklung, in die Geologie, eingedrungen. Und so werden wir jetzt wohl tun, uns auch in bezug- auf jenes im Laufe der Zeit entwickelte Produkt, welches wir die taktile Raumvorstellung nennen, der bescheidenen Erforschung der nächstliegenden Genesen zuzuwenden. Davon werden vielleicht schließlich die Hypothesen über die ursprüngliche Entstehung selbst einen nicht zu unterschätzenden Nutzen ziehen.

    Der ersten Orientierungsklasse und zugleich der ältesten Entwicklungsstufe entspricht der sogenannte »Raumsinn«, wie ihn Weber mit den Zirkelspitzen maß. Diese Fähigkeit hängt unmittelbar von der Differenzierung der zwei betreffenden Tastempfindungen ab; durch diese Differenzierung wird bei simultaner Reizung die Zerlegung,bei sukzessiver die Unterscheidung erst ermöglicht. Theoretisch zwar sollte diese Fähigkeit noch weiter in die Wahrnehmung der Zweiheit und in die des räumlichen Auseinanderseins analysiert werden; aber empirisch wenigstens laufen diese zwei Fähigkeiten, selbst in pathologischen Fällen, beinahe parallel (wenn auch nicht ganz, wie ich glaube)32).

    32) Die Besprechung des Raumsinnes der Netzhaut maß hier unterbleiben, da uns dies zu weit führen würde.

    In der zweiten Klasse dagegen beruht die Orientierung nicht auf einer unmittelbaren Vergleichung zweier Empfindungen, sondern auf der Vermittlung einer »assimilativ« reproduzierten Vorstellung des umgebenden Hautgebietes. Diese Klasse kommt am reinsten zum Vorschein in den Versuchen von Henri, Pillsbury und Washburn, wo der Beobachter die vermeintliche Reizstelle nicht auf dem gereizten Gliede selbst, sondern auf einer Photographie oder einem Modell anzeigt; sie liegt ferner den Versuchen von Henri und Barth zugrunde, wo der Beobachter die vermeintliche Stelle in Worten beschreiben soll, wie in Kliniken gebräuchlich ist. Offenbar ist diese Klasse grundverschieden von der ersten; man kann sehr wohl zwei Stiche räumlich auseinanderhalten und doch beide auf ein falsches Hautgebiet verlegen. In dieser reproduzierten Vorstellung des Hautgebietes sind gleichzeitig sowohl Tast- als auch Gesichtskomponenten vorhanden, und je nach den Umständen können die einen oder die andern dominieren; der Übergang ist aber zu fließend, als daß man daraus zwei Klassen bilden könnte; gewöhnlich hat diese Vorstellung einen sehr schematischen Charakter und enthält nur das, was praktisch nötig ist.

    Diese zweite Orientierungsklasse scheint nun den wahren Kern des »Ortssinnes« auszumachen, so wie dieser Begriff von Aubert, Kammler und ihren Anhängern gefaßt wird. Haben dann diese Forscher recht, wenn sie auch die Weberschen Lokalisationsversuche hier unterbringen wollen? Oder war vielmehr Weber selbst berechtigt, diese Versuche als bloß nochmalige weniger reine Prüfungen des Raumsinnes zu betrachten? Auf subjektive Wahrnehmung allein gestützt, ist man sehr geneigt, sich für Weber zu entscheiden; aber die objektive Untersuchung, besonders diejenige pathologischer Fälle, zeigt unwiderleglich, daß die für bloße Ungenauigkeiten der Versuche gehaltenen Momente tatsächlich den Vorgang ganz beherrschen und ihn dem Ortssinne sehr nahe rücken; es hat sich nämlich gezeigt, daß der Raumsinn eines Patienten durch anstrengende Bewegungen allemal so gut wie aufgehoben wurde, während dabei doch die Webersche Lokalisationsfähigkeit immer intakt blieb33). Und auch die subjektive Beobachtung führt, wie ich finde, schließlich zum selben Resultat; denn in der Tat werden die zwei Empfindungen der reizenden Spitze bzw. des suchenden Stiftes nicht unmittelbar (wie man leicht erwarten könnte), sondern erst durch Vermittlung einer assimilativ reproduzierten Vorstellung des betreffenden Hautgebietes miteinander verglichen. Der Vorgang ist etwa folgender: Die von der Reizspitze ausgelöste Empfindung klingt mehr oder weniger ab, ohne selbst eine Vorstellung des umgebenden Hautgebietes erzeugen zu müssen; wohl aber entspringt eine solche Vorstellung aus den von dem suchenden Stift erzeugten Empfindungen, und diese Vorstellung entwickelt sich nun gegen die Stelle der Spitzeempfindung hin, ruft letztere wieder wach und absorbiert sie.

    33) Siehe Anhang I.
 
 

    Außerdem ist das Webersche und selbst das Volkmannsche Verfahren weiter dadurch verunreinigt, daß in beiden auch die dritte Orientierungsklasse, die reine Lagenwahrnehmung, eine Rolle spielt34), denn nur diese, nicht der Raumsinn oder die Hautvorstellung, kann die suchende Hand des Beobachters bis zum ersten Kontakt mit der gereizten Haut führen; und doch wirkt die Stelle des ersten Kontaktes auch auf die endgültige Lokalisation35). Leider ist die überwiegende Mehrzahl der bisherigen Experimente und der pathologischen Prüfungen bei diesen zwei ursprünglichen und höchst unreinen Verfahren stehen geblieben36).
 
 

    34) Dieser Einwand gegen das Webersche Lokalisationsverfahren, daß darin grundverschiedene Prozesse zusammengeworfen seien, hat natürlich gar nichts gemeinsam mit dem Einwand von Czermak; letzterer erklärt das Verfahren für »an und für sich gänzlich unbrauchbar«, weil es nur den Größt-, nicht auch den Kleinstwert der Unterscheidungsschwelle zu bestimmen vermag; in diesem letzteren Einwand liegt ein merkwürdiges Verkennen der Brauchbarkeit der Methode des mittleren Fehlers überhanpt. (Ber. d. K. Akad. d. Wiss. zu Wien, 1855, Bd. 15, S. 475.)

    35) Diesen Zusammenhang zwischen der ersten Kontaktstelle und der endgültigen Lokalisation habe ich experimentell feststellen können.

    36) Dem obenerwähnten Mitwirken der Lagewahrnehmung ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, wenn in pathologischen Fällen die Lokalisation (besonders an den Fingern und Zehen) oft eine Abhängigkeit von den Bewegungsempfindungen vorspiegelt; denn letztere sind in enger Beziehung nicht mit der Orts-, sondern mit der Lagen-Wahrnehmung, d. h. nicht mit der zweiten, sondern mit der dritten Orientierungsklasse.
 
 
 

    Daß die zweite Orientierungsklasse, kurz als »Ortswahrnehmung« bezeichnet, eine spätere Entwicklungsstufe darbietet, erhellt schon aus ihrer komplexen reproduktiven Beschaffenheit. Ihre nahe Abkunft aus der »Raumwahrnehmung« tritt noch darin zutage, daß unter normalen Bedingungen alle beide durchgängig fast dieselben Schwellenwerte aufweisen (wenn richtig verglichen). Das Wesen des Entwicklungsprozesses zeigt sich in der obenerwähnten pathologischen Beobachtung, daß trotz einer großen die Raumwahrnehmung ganz aufhebenden Abstumpfung der Empfindungsqualitäten die Ortswahrnehmung noch intakt fortbestehen kann; denn diese Tatsache beweist, daß die Reproduktion des betreffenden Hautgebietes nicht mehr mittels der bewußten Empfindungsqualität ausgelöst zu werden braucht, sondern durch die mechanisierende, jedes unnötige Mittelglied verdrängende Übung jetzt zu einer unmittelbaren »spezifischen« Funktion des betreffenden Tastnerven überhaupt geworden ist.

    Die dritte Klasse, die reine Lagenwahrnehmung, wird den Gegenstand unser eigenen Versuche ausmachen. Psychologisch unterscheidet sie sich von der zweiten Klasse dadurch, daß es hier nicht mehr darauf ankommt, zwei Empfindungen in der Vorstellung des betreffenden Hautgebietes, sondern in der des ganzen umgebenden Raumes zur Deckung zu bringen. Diese Klasse tritt am reinsten in den Versuchen von Henri und Parrish hervor, wo der Beobachter die vermeintliche Stelle nicht berührt, sondern nur auf sie von oben her hindeutet; hierher gehören auch die Versuche von Aubert und Kammler, Lewy und Pearce, wo man die Webersche Methode beibehält, aber bloß die Stelle der ersten Berührung mit der Haut in Betracht zieht; ferner gehören hierher die Versuche von Bloch und die von Kramer und Moskiewicz, wo eine Hand ihre frühere, oder die von der andern verlassene Stelle wieder einnehmen soll; im Prinzip gehören hierher auch die Henrischen Versuche, wo die Lokalisation durch die Blicklinien ermittelt wird; denn da sind offenbar die Bewegungen, und ebenso die schließliche Lage der suchenden Hand nur durch diejenigen der Augen ersetzt.

    Ein anderes, tiefer einschneidendes Kennzeichen ist, daß jetzt der Orientierungsprozeß sich nicht mehr auf das gereizte Hautgebiet beschränkt, sondern sich vielmehr über eine fortlaufende Kette von Teilbestimmungen erstreckt37). Obgleich die Lagenvorstellung eines mittelstark gereizten Punktes, für sich betrachtet, einer der einfachsten Bestandteile des Bewußtseins ist, so ist sie doch immer erst das Produkt von allen diesen Teilbestimmungen, welche ihre komplizierte Summation fast ebenso mechanisch wie die Hebel einer Rechenmaschine bewirken, und in der Vorstellung erst das Gesamtresultat angeben. Wenn nur eine einzige dieser Teilbestimmungen fehlt, so ist die ganze Orientierungsfähigkeit aufgehoben38).
 
 
 

    37) Werden zwei Lagenwahrnehmungen miteinander verglichen, wie es bei allen Lokalisationsversuchen geschehen muß, so erstreckt sich die Kette von Teilbestimmungen jeweils von der gereizten bis zur suchenden Hautstelle (Finger oder Netzhaut).

    38) Dabei aber zeigen die erhaltenen Reflexe geköpfter Frösche, daß die allgemeine Beziehung zum dominierenden Kopf nicht unentbehrlich ist; und auch bei vollem menschlichen Bewußtsein kann unter Umständen die Domination des Kopfes der des Rumpfes weichen. Vgl. Aubert (Delage), Studien über die Orientierung, 1888.
 
 

    Diese Teilbestimmungen sind nun von zweierlei Art: Diejenigen der ersten Art beruhen auf den Winkelstellungen aller bei der Orientierung beteiligten Gelenke und lassen sich deshalb als »artikular« bezeichnen. Die Teilbestimmungen der zweiten Art beziehen sich auf den Raum innerhalb jedes beteiligten Gliedabschnittes; sie können daher »segmental«39) genannt werden40). Diese Unterscheidung ist von fundamentaler Wichtigkeit für das Verständnis der Erscheinungen der Lagewahrnehmung.
 
 

    39) Die Ausdrücke »artikular» und »segmental» befriedigen mich noch nicht vollkommen, aber trotz aller Mühe und freundlicher Unterstützung ist es mir nicht gelungen, bessere zu finden; es ist aber eine für jede fruchtbare Besprechung der Lagewahrnehmungen unentbehrliche Voraussetzung, die damit gemeinten und oben definierten Begriffe kurz und eindeutig ausdrücken zu können.

    40) Offenbar geben diese Bestimmungen den Winkel bzw. Strahl eines Polarkoordinatensystems ab.
 
 

    Physiologisch sind die Unterschiede handgreiflich. Die »artikularen« Erregungen liegen tief und nahe am Gelenke (vermutlich in den Pacinischen Körperchen); die entsprechenden Leitungsbahnen kreuzen sich erst im verlängerten Mark; durchweg behalten sie für jedes Gelenk eine merkwürdige kompakte Gruppierung und einheitliche Funktion bei, was sich darin kundgibt, daß beschränkte Affektionen im Rückenmark oder Gehirn scharf abgegrenzte, sehr intensive Erscheinungen in der Peripherie erzeugen41). Die »segmentalen « Erregungen dagegen scheinen nur in bezug auf den gereizten und den suchenden Gliedabschnitt periphere Vorgänge zu enthalten; letztere finden hauptsächlich in den Tastorganen der Haut statt; ihre Leitungsbahnen kreuzen sich bald nach Eintritt in das Rückenmark; die Nervenäste anastomosieren vielfach untereinander, wodurch die beschränktesten inneren Störungen diffuse Erscheinungen in der Peripherie hervorbringen. Für alle intermediären (d. h. zwischen den reizenden und suchenden gelegenen) Gliedabschnitte sind die segmentalen Bestimmungen offenbar konstant, und deshalb können sie in vollkommen genügender Weise schon durch zentrale Miterregungen oder »Assoziationen « geliefert werden (s. S. 94), Diese physiologischen Unterschiede genügen, um die beiden aufgestellten Gruppen scharf voneinander abzugrenzen, und liefern also eine feste objektive Basis, worauf die subjektive Unterscheidung weiterbauen kann42).
 
 

    41) Siehe Anhang I.

    42) Die psychologische Fruchtbarkeit einer solchen objektiven Basis hat sich schon in der Geschichte der Erforschung der Farbenempfindungen deutlich manifestiert.
 
 

    Psychologisch ist der Unterschied weniger qualitativ, als vielmehr funktionell ausgeprägt, was natürlich seine Wichtigkeit nicht vermindert. In der Ruhe nämlich lösen die artikularen Erregungen keine merklichen Empfindungen aus, aber nichtsdestoweniger bestimmen sie mit erstaunlicher Genauigkeit die Lagevorstellungen aller distalwärts entstehenden Empfindungen; nur in der Bewegung erzeugen sie merkliche Empfindungen, die sich dann aber als viel zu wenig differenziert zeigen, um zur aktuellen Orientierung genügen zu können43). Die segmentalen Erregungen dagegen setzen merkliche Empfindungen sowohl an der gereizten als an der suchenden Hautstelle notwendig voraus, da ja diese Empfindungen als Träger der schließlich zustande kommenden Lagevorstellungen dienen; aber in bezug auf alle intermediären Gliedabschnitte erfordern die segmentalen Bestimmungen weder Empfindungen noch selbst physiologische (periphere) Erregungen.
 
 

        43) Siehe Anhang I.
 
 

    Die spätere Entwicklung dieser dritten Orientierungsklasse erhellt nicht nur aus der noch größeren Kompliziertheit des ganzen Vorganges, sondern namentlich aus der vollkommeneren Differenzierung und Selbständigkeit der vorgestellten Räumlichkeit; denn jetzt findet die Orientierung nicht mehr bloß in einem ausgedehnten Empfindungskomplex, sondern in der reinen, abstrakt vorgestellten Ausdehnung, im Raume selbst, statt. Außerdem ist die schon auf der zweiten Stufe beobachtete Mechanisierung hier noch weiter fortgeschritten; denn es ist nicht nur die Reproduktion der Lagevorstellung zu einer unmittelbaren Funktion der physiologischen Gelenkerregung geworden, sondern es können auch die einst vermittelnden Empfindungen in den Gelenken — ursprünglich vermutlich höchst fein differenziert! — jetzt nur noch als verkümmerte Überbleibsel ihr Dasein fristen. Offenbar ist diese intakte Lokalisationsfähigkeit der Gelenkerregungen bei degenerierten Empfindungen nur ein jetzt normal gewordener Zustand, den wir als pathologisch auch schon weiter oben (S. 14) bei den Hauterregungen beobachtet haben44).

    44) Es könnte jetzt die alte Frage auftauchen, welche von den drei Fähigkeitsklassen angeboren und welche erworben sind. Aber diese Fragestellung scheint mir den modernen genetischen Anschauungen nicht mehr angepaßt zu sein. Der Mensch, in diesem Fall eine Ausnahme von den Tieren bildend, kann unmittelbar nach der Geburt keine physische Funktion vollkommen ausüben; aber eine mehr oder weniger ausgebildete Anlage hat er zu j e d e r allgemeinen Tätigkeit. Deshalb sollte man nicht fragen, ob, sondern inwieweit eine Fähigkeit erst erworben werden muß. Im gegenwärtigen Fall nun erreicht nach meinen Beobachtungen selbst die dritte Stufe schon in den ersten Lebenswochen eine überraschend fortgeschrittene Entwicklung, obwohl sie sich erst viel später vervollkommnet.
 
 

    In bezug auf die bisherigen Ansichten über diese drei Klassen, Raum-, Orts- und Lagewahrnehmung, findet man, daß gerade diejenigen Forscher, welche gestrebt haben, die zweite von der ersten abzutrennen, sie um so mehr mit der dritten vermengt haben. Die einzige ausdrückliche Klassifikation ist die von Henri gewesen45). Danach macht zwar der »Raumsinn«, ebenso wie nach unserer Auseinandersetzung, eine Klasse für sich aus. Aber alles andere wird als »Lokalisation « zusammengestellt und folgendermaßen weiter eingeteilt: »Lokalisation mit Berührung und Bewegung«, >visuelle Lokalisation« und »Lokalisation mit Beschreibung«. Offenbar hat diese Einteilung einen sehr äußerlichen Charakter; in der ersten Gruppe werden so grundverschiedene Vorgänge zusammengeworfen, wie das Herumtasten nach der Reizstelle und das bloße Hinzeigen darauf, während die dritte Abteilung »mit Beschreibung« nichts Wesentliches darbietet, was nicht schon in der »visuellen Lokalisation« vorhanden war, denn ob ich sage, daß ich in der Mitte der zweiten Phalanx des Ringfingers berührt worden bin, oder ob ich auf die entsprechende Stelle der Photographie hindeute, ist ziemlich dasselbe.
 
 

    45) »Die Raumwahrnehmungen des Tastsinnes«, S. IX u. X.
 

    Was folgt aus der vorstehenden Analyse der Lagewahrnehmung für die Deutung der Beobachtung? Da die Lagewahrnehmung auf einer fortlaufenden Kette von Teilbestimmungen von der gereizten bis zur suchenden Hautstelle beruht, so ist irgendeine von diesen Teilbestimmungen imstande, die Lokalisation irrezuführen. Nicht nur am bewegten Arm der Versuchsperson kann die Fehlerquelle liegen, wie alle Forscher vorausgesetzt haben, sondern ebensogut am andern in Ruhe bleibenden Arm. Ferner, statt eines solchen artikularen kann der Fehler ebensogut einen segmentalen Charakter haben; statt die Flexionsstellung eines Gelenkes kann man die Länge irgendeines Gliedabschnittes falsch beurteilt haben. In diesem Aufsatze also werde ich versuchen, spekulative Vorurteile fernzuhalten und alle die erwähnten Fehlerquellen unbefangen zu berücksichtigen; dann wird es sich bald von selbst ergeben, inwieweit die Bewegung für die Lagenwahrnehmung maßgebend ist.
 
 

4. Kritik der bisherigen Methodik.

a) In bezug auf die Lokalisationsfeinheit.

    Nicht nur die Deutung, sondern auch die Methodik der bisherigen Lokalisationsversuche läßt sich kaum allen kritischen Einwänden entziehen. Auf alle Mängel, die bei individuellen Forschungen zutage getreten sein mögen, brauchen wir hier nicht einzugehen, wohl aber auf solche, von denen man zu glauben berechtigt ist, daß sie die gesamten bisherigen Forschungen schädlich beeinflußt haben.

    Das Hauptziel aller bisherigen Untersuchungen ist natürlich die Messung der Lokalisationsfeinheit an verschiedenen Hautstellen und unter verschiedenen Bedingungen gewesen; und dazu hat man immer die zunächst liegende Methode des »mittleren Fehlers« angewandt. Nun ist aber die auffällige Tatsache hervorzuheben, daß bisher — trotz aller Hinweise Fechners— kein einziges Mal das variable Element des beobachteten Fehlers vom konstanten Element getrennt worden ist. Und gerade in der Lokalisation ist das bloße rohe Gesamtergebnis der zwei Elemente besonders bedeutungslos, da letztere von grundverschiedenen Momenten abhängen. Ohne diese Trennung vorgenommen zu haben, wissen wir nur, daß der variable Fehler jedenfalls kleiner als das angegebene rohe Ergebnis sein muß.

    Nehmen wir konkrete Beispiele: Von den vielen Versuchen, die Lokalisationsfeinheit mit dem Raumsinn zu vergleichen, ist der weitaus sorgfältigste und wertvollste der von Kottenkamp und Ullrich gewesen. An gewissen Hautstellen fanden sie eine Übereinstimmung mit dem Raumsinn und an andern eine Diskrepanz. Aber wie soll man wissen, ob nicht an einigen Hautstellen sich konstante Tendenzen oder »Täuschungen» festgesetzt haben, welche mit der Lokalisationsfeinheit nichts zu tun haben? Eine sehr geringe Täuschungstendenz würde schon genügen, alle Vergleiche mit dem Raumsinn umzustürzen. Ganz Analoges läßt sich zu dem vermeintlichen Einfluß der Reizstärke, des Gesichtsbildes, des Gedächtnisses, der Ablenkung der Aufmerksamkeit usw. sagen. Und in der Tat sind, wie wir bald sehen werden, alle die erwähnten Momente imstande, auf die konstanten Tendenzen eine starke Wirkung auszuüben.

    Allerdings ist die mathematische Reinigung des rohen Ergebnisses vom konstanten Element so lange unmöglich, als man bloß die Größe und die allgemeine Richtung der Fehler zu registrieren vermag. Um die verlangte Ausscheidung bewerkstelligen zu können, muß erst das ganze Verfahren entsprechend weiter ausgebildet werden.

    So gefährlich und versteckt habe ich die Beeinflussung des variabeln durch den konstanten Fehler gefunden, daß ich es vorgezogen habe, die eingehende Untersuchung des ersteren zu unterlassen, bis ich erst den letzteren gründlich untersacht hatte46). Daher wird im folgenden Aufsatze die beobachtete Lokalisationsfeinheit (i. a. W. der variable Fehler) mit möglichst wenig Diskussion konstatiert werden; unsere Aufmerksamkeit wird sich auf das andere Hauptziel, die konstanten Fehler oder »Täuschungen« konzentrieren.
 
 

    46) Ich kann hier schon sagen, daß ich Versuche angestellt habe, um die variabeln Fehler für alle Körperteile zu ermitteln, und ferner, um sie in die aller Teilbestimmungen quantitativ aufzulösen. Bis jetzt scheint es, daß die Präzision jeder segmentalen Teilbestimmung annähernd gleich dem Raumsinn an derselben Hautstelle ist; jede artikulare Teilbestimmung dagegen zeigt sich allemal beinahe proportional der von Goldscheider gefundenen Bewegungsempfindungsschwelle im betreffenden Gelenke. Auf diese Weise scheint es möglich, zu den Elementen vorzudringen, wovon die drei Fähigkeiten, Raum-, Lage- und Bewegungswahrnehmungen, in letzter Instanz abhängen; sind dann in einem gegebenen Falle die Schwellen für zwei dieser Fähigkeiten empirisch bestimmt worden, so läßt sich die dritte deduzieren; die Wahrheit der Deduktion, und damit die Gültigkeit des ganzen Räsonnements ist sofort empirisch kontrollierbar.
 
 

b) Kritik in bezug auf die Täuschungen.
    Die bisherigen Angaben hierüber sind keineswegs so unbedingt zu verwerfen wie diejenigen über die Lokalisationsfeinheit; denn der mittlere konstante Fehler läßt sich ganz wohl ermitteln ohne vorausgehende Ausscheidung der variabeln Fehler (während das Umgekehrte nicht der Fall ist).

    Aber eine mathematische Behandlung ist immer noch unentbehrlich, sobald man wissen will, ob irgendein Ergebnis nicht dem bloßen Zufalle zuzuschreiben ist; denn hierzu muß man die »wahrscheinliche Abweichung» heranziehen47). Davon hat man jedoch niemals die geringste Erwähnung getan, und (mit einer untenstehenden Ausnahme) hat man nicht einmal die notwendigen Daten angegeben, mit deren Hilfe wir die wahrscheinliche Abweichung selbst ausrechnen könnten. Man wird wohl gemeint haben, ein genügendes Kriterium in seinem eigenen unmittelbaren Urteile oder »Sicherheitsgefühle« zu besitzen; aber diese subjektiven Kriterien haben sich in langer, sorgfältiger von mir angestellter Prüfung als überraschend trügerisch herausgestellt, während die Vermittelung durch die objektive wahrscheinliche Abweichung, richtig und innerhalb der erlaubten Grenzen gebraucht, eine ebenso überraschende Zuverlässigkeit an den Tag gelegt hat. Durch Ignorieren der wahrscheinlichen Abweichung kommt man nicht nur zu falschen Schätzungen der Beweiskraft seiner Ergebnisse, sondern man hat auch keine Norm — außer dem jeweiligen Belieben —, wie zahlreich die Versuche anzustellen sind.
 
 

    47) Auf den viel gebräuchlicheren synonymen Ausdruck »wahrscheinlicher Fehler« mußte hier verzichtet werden, da diese mathematische Bedeutung des Wortes Fehler, zusammen mit dem ganz verschiedenen Begriff des Fehlers der Lokalisation, sehr verwirrend wirkt.
 
 

    Hier muß ich indessen konstatieren, daß in einer der gediegensten Arbeiten, der von Lewy, ein prinzipieller Einwand gegen die Anwendung der Mathematik erhoben worden ist. Weit davon, wie alle andern Forscher, die Rechnungen einfach zu unterlassen, hat er die mittlere Abweichung der einzelnen Fehler nach dem genauesten und mühevollsten Verfahren berechnet; statt aber den kleinen noch erforderlichen Schritt zu machen, und die wahrscheinliche Abweichung der allein in Betracht kommenden Mittelwerte zu deduzieren, wendet er sich vielmehr vom ganzen Thema mißtrauisch ab mit der Bemerkung, daß von «diesen aus der physikalischen Betrachtung herübergenommenen Fehlerberechnungen« nicht viel für die Psychologie zu gewinnen sei. Hiemach allerdings wäre die Abneigung aller Forscher gegen die rechnerische Bearbeitung ihres Versuchsmaterials einigermaßen gerechtfertigt, und für die gegenwärtige Arbeit hätte man sich viel Mühe ersparen können. Aber glücklicherweise gibt uns Lewy den Grund seines Mißtrauens an; es hatte sich nämlich bei seinen Ergebnissen herausgestellt, daß unter variierten Versuchsbedingungen das Verhältnis des mittleren Lokalisationsfehlers zur mittleren Abweichung von demselben nicht konstant blieb, was doch nach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen zu erwarten wäre. Aber nun bezieht sich natürlich diese zu erwartende Konstanz nur auf den reinen variabeln Fehler; auch die Physiker dürften sie kaum erhoffen, wenn sie, wie Lewy, noch rohe, mit überwiegenden konstanten Komponenten behaftete Fehler vor sich hätten.

    Die nächste Rüge muß sich gegen die unvollkommene Registrierung der Lokalisationen richten; gewöhnlich werden, außer der Entfernung, nur gewisse Hauptrichtungen (distal, proximal, ulnar und radial) notiert. Eine Ausnahme findet in dem sehr kleinen Teile der Henrischen Versuche statt, wo die Lokalisationen auf Photographien der Hand und des Gelenkes aufgezeichnet werden; aber auch in diesen Versuchen — es wird über die Stellung des Armes nichts mitgeteilt48) — erfahren wir bloß die Richtung der Fehler in bezug auf die Hand selbst und gar nicht in bezug auf die andern Körperteile, was doch ebenso wichtig ist.
 
 

    48) Henri sagt nur: »Die Versuchsperson hält ihren Vorderarm und ihre Hand auf einen Tisch« (Die Raumwahrnehmung des Tastsinnes, S. 118).
 
 

    Dann ist, soviel man aus den nicht sehr klaren Versuchsbeschreibungen entnehmen kann, keine gebührende Rücksicht auf die reine Unwissentlichkeit des Verfahrens genommen worden; wenn ein Beobachter Gelegenheit bekommt, seine Fehler zu bemerken, so treten allerlei unwillkürliche und nicht ohne weiteres berechenbare Verbesserungstendenzen ein. Dieser Einwand betrifft am entschiedensten alle Versuche, die zu unserer dritten Klasse gehören; sonst müßte man sicherlich längst zu einigen der auffallenden Erscheinungen gekommen sein, die sich in den folgenden Versuchen manifestiert haben.

    Endlich muß ich auf eine nicht geradezu als Fehlerhaftigkeit zu bezeichnende, aber immerhin bedenkliche Unterlassung hinweisen. Es sind nämlich die Stellungen der gereizten Glieder nie systematisch und vergleichsweise variiert worden; ja, wie wir soeben sahen, ist die Stellung meistens nicht einmal eindeutig notiert worden. Aber doch hätten die erstaunlichen Angaben von Bloch schon im Jahre 1884 auf diesen Punkt aufmerksam machen sollen.

    Infolge solcher methodologischer Unvollkommenheiten stehen die bisher gewonnenen Ergebnisse, selbst über Täuschungen, in keinem Verhältnis zu dem dafür aufgewendeten Fleiße und Scharfsinn. Die Zahl der Ergebnisse überhaupt ist sehr karg, und die der leidlich begründeten ist noch kleiner. Einige Forscher haben stark betont, daß die Lokalisationen eine distale Tendenz haben; aber andere, wie wir gesehen haben, finden im Gegenteil, daß die Tendenz proximal ist; und schon der allererste, Volkmann, bemerkte, daß trotz gleicher Versuchsbedingungen die verschiedenen Personen verschiedene Tendenzen hätten. Sodann ist von einem Forscher (Henri) behauptet worden, daß die Lokalisationen sich den »Grenzlinien» annähern; aber diese von vornherein schwach unterstützte Angabe wird sofort nachher negiert (Washburn, Pillsbury).

    Die glaubwürdigeren Entdeckungen scheinen also auf folgende vier Punkte zusammenzuschrumpfen: die von Henri beobachtete Tendenz, die Lage des gereizten Arms zu tief vorzustellen; die ebenfalls von ihm beobachtete Tendenz, bei der Blicklokalisation die Richtung nach dem Körper zu zu bevorzugen; die Angabe von Kramer und Moskiewicz, daß der eine Arm, wenn er zum andern symmetrisch gestellt werden soll, zu einer bequemeren Stellung neigt; und die Beobachtung von Pearce, daß die Lokalisation eines Reizes nach einem simultanen Nebenreize zu abgelenkt wird.
 
 

5. Die gegenwärtigen Versuche und der Gebrauch der »wahrscheinlichen Abweichung«.
    Der weitaus überwiegende Teil der folgenden Versuche ist in den Jahren 1903—1905 im psychologischen Institut zu Leipzig ausgeführt worden, dessen Direktor, Herr Geheimrat Prof. Wundt, mir fortwährend die freundlichste Unterstützung jeder Art gewährt hat, wofür ich ihm meinen herzlichsten Dank ausspreche. Als Beobachter haben gedient außer mir selbst: die Herren Heyde, Bode, Wabeke, Keller, Grünbaum, Kafka, Ziembinski, Wollert, Woellert, die Fräulein Baldauf, Kaminke, Seiler, die Herren Drs. Moore, Lipsius, Fischer, Fröles, Knopf, Herr Dr. Graf Salvadori, Herr Professor de Ugarte und die Herren Assistenten Drs. Krueger und Wirth; davon haben sich einige Herren (besonders Herr Heyde) die ganze Zeit hindurch beteiligt und die langwierigen und zuweilen schmerzhaften Versuche mit unerschrockenerem Eifer ausgehalten. Herrn Dr. Krueger, der die Freundlichkeit hatte, das Manuskript durchzulesen, verdanke ich manche wertvolle Verbesserungen. Die Figuren sind durch die gütige Unterstützung von Frau Dr. Gräfin Salvadori zustande gekommen. Wenn im folgenden etwas für die Wissenschaft gewonnen wird, so haben alle diese liebenswürdigen Mitarbeiter sehr großen Anteil daran.

    Die Zahl der einzelnen Lokalisationen hat sich auf ungefähr 6000 gehäuft; sie war keineswegs willkürlich, sondern durch zwei Momente bestimmt. Das erste Moment bezog sich auf die Zahl der Versuchsanordnungen, und mußte sich nach der Komplexität der Aufgabe und der erstrebten Vollständigkeit der Lösung richten, Das zweite Moment dagegen bezog sich auf die Zahl der einzelnen Versuche innerhalb jeder Versuchsanordnung, und diese Zahl ist nur durch die Wahrscheinlichkeitsgesetze bestimmt worden; die Versuche wurden allemal so lange fortgesetzt, bis die wahrscheinlichen Abweichungen auf genügend kleine Bruchteile der hauptsächlich in Betracht kommenden Erscheinungen herabgesetzt waren. Die wahrscheinliche Abweichung des variabeln Fehlers habe ich nach bekannter Formel gleich  angenommen, wo v dem mittleren variabeln Fehler und n der Zahl der in v berechneten Fälle gleich ist. In ähnlicher Weise ist die wahrscheinliche Abweichung des konstanten Fehlers gleich  gesetzt, wo v und n dieselben Bedeutungen haben. Wenn zwei Beobachtungsserien unter gleichen Bedingungen vorgenommen worden sind, dann ist der »wahrscheinliche Unterschied« zwischen den beiden Mittelwerten gleich gesetzt worden, wo p1 und p2 die wahrscheinlichen Abweichungen der betreffenden Serien sind.

    Natürlich gelten diese Formeln genau nur für Fehler, die sich in die normale Wahrscheinlichkeitskurve einordnen, was strenggenommen nicht oft zutreffen dürfte. Aber annähernd wenigstens scheint diese Kurve eine sehr allgemeine Gültigkeit zu besitzen; und mehr wie annähernde Gültigkeit ist bei vernünftigem Gebrauche der wahrscheinlichen Abweichung durchaus nicht erforderlich. Nach meinen Erfahrungen über Lokalisationsfehler würden obige Formeln etwas zu große Werte liefern; eine kleine Diskrepanz in dieser Richtung kann aber nicht schaden49).

    49) Theoretisch dürfte diese Diskrepanz darauf hindeuten, daß die Verteilungskurve der Fehler nach oben sich etwas verflacht, was eigentlich bei allen sensorischen Unterscheidungen geschehen müßte, wenn dem Begriffe der »Schwelle« irgendeine objektive Bedeutung zukommen sollte; denn sonst würde die Unterscheidungsfähigkeit nicht in einem speziellen Gebiet, sondern nur ganz allmählich verschwinden.
 
 

    Im praktischen Gebrauch der Formeln sind folgende vier Regeln am wichtigsten. Die erste ruft in Erinnerung, daß die empirisch bestimmte wahrscheinliche Abweichung nur einen Annäherungswert für die wahre wahrscheinliche Abweichung (d. h. die Abweichung, welche wirklich die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, übertroffen wie nicht erreicht zu werden) darstellt; daher, wenn n kleiner ist, so wird die empirisch bestimmte wahrscheinliche Abweichung nicht nur größer, sondern auch an sich weniger zuverlässig; doch bleibt sie, wie ich meine, selbst bei fünf oder sechs Fällen lehrreich genug, und deshalb gebe ich sie jedesmal an.

    Die zweite Regel besagt, daß eine Abweichung vom Mittelwert erst dann eine besondere Berücksichtigung verdient, wenn sie mindestens dreimal größer als die wahrscheinliche Abweichung ist; ganz ebenso muß der Unterschied zwischen zwei Mittelwerten mindestens dreimal größer als ihr wahrscheinlicher Unterschied ausfallen, bevor er einer Erklärung bedürftig wird; um Zufall ganz auszuschließen, muß der beobachtete Wert den wahrscheinlichen um das Fünffache übertreffen, und dabei muß auch n groß sein50).

    50) Es scheint mir also die Größe der wahrscheinlichen Abweichung von nur geringer Wichtigkeit zu sein, wenn man nicht ihr Verhältnis zur wahrscheinlichen Häufigkeit der Abweichungen anderer Größen im Auge behält. Folgende Tafel (Auszug aus meinem Aufsatz im American Journal of Psycbology, 1904, S. 76) stellt dieses Verhältnis für die normale Wahrscheinlichkeitsstreuung dar. Theoretisch sind zwar etwas verschiedene Wertsysteme noch möglich, die auch als »wahrscheinlich« zu bezeichnen sind; ein solches haben wir z. B., wenn zwei normale Wahrscheinlichkeitsstreuungen aufeinander superponiert sind, von denen die eine sehr steil und die andere sehr flach verläuft (schon bei vier bis fünf Komponenten wird der Gesamtverlauf wieder annähernd normal); aber solche Fragen haben hier wenig praktisches Interesse, weil es uns, wie schon gesagt, nur auf rohe Annäherungswerte ankommt.

    Wenn die beobachtete dividiert durch die =     1         2         3         4         5         6
    wahrscheinliche Abweichung

    dann ist ihre wahrscheinliche Häufigkeit =                             
    ungefähr
 
 

    Die dritte Regel beruht darauf, daß der Begriff des »zufälligen Fehlers« einen elastischen Umfang hat, welcher niemals in der Folgerung größer sein darf als in der Begründung. Nehmen wir den Fall an, daß dieselbe Hautstelle bei derselben Gliederstellung mehrmals hintereinander geprüft wird. Trotz der Gleichheit der Bedingungen wird jede Lokalisation etwas verschieden von der andern ausfallen; und aus dieser Verschiedenheit berechnet man einen variabeln Fehler und eine wahrscheinliche Abweichung, welche beide als »erster Ordnung« bezeichnet werden können, und welche für viele Zwecke vollkommen genügen; z. B. wenn man die Diskrepanz der Ergebnisse zweier alternierender Versuchsbedingungen überlegen will. Aber zuweilen, besonders in neuen Versuchsstunden, bemerkt man eine Verschiebung der Gesamttendenz der Lokalisationen; um auch über solche Schwankungen zweiter und seltenerer Ordnung Rechenschaft zu geben, muß man die Versuche der Zahl nach sehr weit ausdehnen, und n nicht aus Einzelfällen, sondern aus angemessenen Gruppen hernehmen; demgemäß werden sowohl der mittlere variable Fehler, als auch die wahrscheinliche Abweichung größer sein; diese Schwankungen seltenerer Ordnung werde ich zukünftig als »systematisch variable« Fehler bezeichnen. Noch umfangreicher wird der Begriff der zufälligen Abweichung, wenn man auch noch die individuellen Verschiedenheiten darunter bringen will; diese dritte Ordnung ist ebenso leicht berechenbar, und lieferte zuweilen den zweckmäßigsten Wert. Also, die wahrscheinliche Abweichung ist nicht in starrer, mechanischer Weise, sondern mit eingehender Berücksichtigung aller Verhältnisse des je vorliegenden Falles anzuwenden; kurz, die Zahlen sind als eine Waffe der Vernunft, mitnichten als eine Dispensation davon zu gebrauchen.

    Die vierte Regel erinnert daran, daß es weitere und noch schlimmere Gefahren gibt, diejenigen, welche von der Individualität des Forschers, von den herkömmlichen wissenschaftlichen Vorurteilen, von der notwendigen Beschränktheit und Unnatürlichkeit des Experiments überhaupt herrühren; alle solche Störungen lassen sich nicht variieren und dadurch eliminieren. Deshalb darf die Wahrscheinlichkeitsrechnung — obwohl ein logisches Glied in der Verwertung psycho-mathematischer Werte, dessen Vernachlässigung überall irreführende Ergebnisse großzieht— sich doch nie anmaßen, die ganze logische Kette zu sein.