V. Teil. Erklärungsversuch.

1. Der negative Grund der artikularen Täuschung.

    Im dritten Teile konnte das Unterschätzungsgesetz nur faktisch konstatiert werden; im vierten Teile dagegen ist es aus geglückt, verschiedene Bedingungen aufzufinden, von denen sich die Unterschätzung in hohem Grade abhängig zeigte; hierdurch erlangen wir ein reiches Material, welches uns endlich zu Erklärungsversuchen berechtigt und auffordert.

    Aus der Zahl der sich zunächst darbietenden möglichen Gründe der Täuschung scheinen nur Bewegung oder Spannung oder eine Kombination von beiden ernstlich in Betracht zu kommen. Sehr zugunsten einer Bewegungshypothese spricht die unmittelbare Beobachtung, daß bei Blicklokalisation die Täuschung jedesmal sofort bis auf einen kleinen Bruchteil herabsinkt, wenn man das betreffende Glied bewegt (S. 74—75); auch bei Tastlokalisation mußten wir zu dem Schlusse kommen, daß die Täuschung sehr viel mehr vom ruhigen gereizten als vom bewegten suchenden Arm herrühre (S. 52). Man könnte sich danach vielleicht denken, daß die größeren Exkursionen des Gliedes sich durch größere Intensität der Gelenkerregungen oder, was noch wahrscheinlicher ist, der Spannungsempfindungen kennzeichnen; in der Ruhe schwäche sich dann diese Intensität ab, und dadurch werde die Exkursion unterschätzt. Speziell für eine Spannungshypothese spricht die Beobachtung, daß die Täuschung verschwinden kann, sobald man Spannungsempfindungen künstlich durch Gewichte hervorbringt (S. 83—84); selbst die Wirkungen des Schmerzes (S. 80 bis 83) lassen sich ohne großen Zwang den damit verbundenen Spannungsempfindungen und Gefühlen zuschreiben,

    Aber all diesen Hypothesen wird durch zwei Momente entschieden widersprochen. Erstens sieht man, daß die Täuschung durch Bewegung zwar sehr vermindert, aber nie ganz aufgehoben wird; noch weniger schlägt sie jemals dadurch in die entgegengesetzte Richtung um. Zweitens sind noch manche andere ebenso einflußreiche Momente hervorgetreten, die weder durch Bewegung, noch durch Spannung, noch, wie ich finde, durch irgendeinen andern, allen gemeinsamen Bestandteil zu erklären sind. Wenn z. B. die Täuschung dadurch beinahe verschwindet, daß man die Aufmerksamkeit erschlaffen läßt (S. 84—87), so ist keine neue Bewegung hinzugetreten, während die Spannungen sogar beträchtlich abgenommen haben. Wenn wir also nicht schon jetzt auf jede einheitliche Erklärung verzichten wollen — wozu wir noch keineswegs gedrängt sind —, so bleibt zunächst der Ausweg, daß wir statt eines positiven einen negativen Grund der Täuschung suchen.

    Hier müssen wir ganz kurz das Wesen einer normalen Lokalisationstäuschung überhaupt kennzeichnen. Keineswegs sind wir imstande, wie sich der naive Mensch denkt, die Lage einer sensorischen Erregung durch unmittelbare absolute Erkenntnis wahrzunehmen; die Vorstellung des umgebenden Raumes auf der einen Seite und auf der andern das System der Tasterregungen, welches tatsächlich zur räumlichen Orientierung dient, sind weit davon entfernt, aus innerer Notwendigkeit miteinander verwoben zu sein; vielmehr weisen sie eigentlich grundverschiedene Charaktere auf; erst im Laufe eines vermutlich langen Entwicklungsprozesses haben diese Tastempfindungen sich der Raumvorstellung dadurch angepaßt, daß sie deren »schlechthiniger« Dreidimensionalität ihr künstlich zusammengeordnetes Polarkoordinatensystem entgegenbrachten. Wenn sich nun in diese allgemeine Anpassung irgendwelche Anomalien nicht ganz genau hineinfügen wollen, was muß geschehen? Solange die Diskrepanz unter selten vorkommenden und also praktisch unbedeutenden Bedingungen eintritt, wird sie wahrscheinlich fortbestehen, und eventuell als »Täuschung« zutage treten. Sobald aber die Diskrepanz das alltägliche Leben zu stören anfängt, wird ihr unausbleiblich durch einen zentralen kompensatorischen Vorstellungsfaktor abgeholfen werden.

    Sowenig sich nun in der Tat alle die verschiedenen die Täuschung vergrößernden Versuchsbedingungen durch irgendein positives Merkmal vereinigen lassen, so stimmen sie darin völlig miteinander überein, daß sie allemal die weniger gewöhnlichen und natürlichen waren. Alle Beobachter sagten einhellig aus, daß die Ruhe während der Lokalisation viel weniger natürlich als die Bewegung wäre; nur eine einzige Ausnahme ist uns aufgestoßen, welche darin bestand, daß bei Lokalisationen auf dem Oberarm die Beobachter es natürlicher fanden, nur den andern suchenden Arm zu bewegen; und gerade hier, das einzige Mal während der gesamten Versuche, hat die Bewegung die Täuschung nicht herabgesetzt; eher hat sie dieselbe sogar vergrößert (S. 76). Ebenso ist die subjektive Auffassungsweise der Wahrnehmung als psychischen Zustandes wenig natürlich im Gegensatze zur objektiven Auffassung des Gegebenen als eines objektiv Existierenden; und die Vorherrschaft der Tastelemente der Vorstellungen weniger natürlich als die der sehr verblaßten visuellen Elemente, oder dessen, was die Beobachter als »abstrakte Vorstellung« bezeichneten. Vor allem aber kommt in Betracht: die zu der experimentellen Lokalisation erforderte intensive Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit, — die noch erhöht wird, wenn auch gleichzeitig einer Ablenkung derselben durch Schmerz gewehrt werden muß. Nicht nur widersprach die Richtung der Aufmerksamkeit den gewöhnlichen Lebensbedingungen, sondern ihre intensive Konzentrierung besitzt die ganz spezifische Eigenschaft, alle nicht direkt aufgefaßten Bewußtseinsfaktoren zu verdrängen. Einen zentralen kompensatorischen Vorstellungsfaktor wird aber die Aufmerksamkeit schwerlich für sich auffassen können; sie wird daher (wenn nicht andere Bedingungen dem entgegenwirken) ihn zu verdrängen streben; dadurch wird aber die ursprüngliche Anomalie wieder entfesselt, und die artikulare Täuschung ins Leben gerufen.

2. Die Verdrängung durch die Aufmerksamkeit.

    Die positive Begründung einer täuschenden ursprünglichen Anomalie, wie sie hier verlangt wird, muß auf Abschnitt 3 verschoben werden, da es ratsamer scheint, jetzt gleich unsere Besprechung des Problems der Verdrängung durch die Aufmerksamkeit zu erledigen.

    Seit Menschengedenken wird man wohl gelegentlich bemerkt haben, daß das Hervorheben eines Bestandteils des Bewußtseins zum Zurückdrängen eines andern Bestandteiles führen kann. Und schon Mitte des 18. Jahrhunderts hat Charles de Bonnet1) sogar auf experimentellem Wege nachweisen wollen, daß die Aufmerksamkeit einen bestimmten meßbaren Umfang besitze. Die neuere streng wissenschaftliche Schule der experimentellen Psychologie hat die in Frage stehenden Erscheinungen mit wirksameren methodischen Hilfsmitteln bearbeitet2); und seitdem treten die Gesetzmäßigkeiten der Aufmerksamkeitsfunktion immer deutlicher in ihrer universalen Wichtigkeit hervor3). Darin nun, daß die Aufmerksamkeit alle die Bewußtseinsfaktoren verdrängt, die nicht direkt von ihr aufgefaßt werden, scheint mir nicht nur die negative Erklärung des Unterschätzungsgesetzes, sondern auch die positive Erklärung der erstaunlichen scheinbaren Verkleinerung der Körperglieder zu liegen (wie sie auf S. 63 beschrieben ist, vgl. Fig. 15 und Fig. 16); denn auch diese Erscheinung vermochte nur dann einzutreten, wenn man die Aufmerksamkeit stark auf die Reizempfindung konzentrierte. Und auch sonst sind die Phänomene hier und bei der Verdrängung des kompensatorischen artikularen Faktors, so verschieden sie auch äußerlich erscheinen mögen, doch innerlich vollkommen analog; denn die scheinbare Länge eines Gliedes ist (wie wir sahen, S. 16—17) weiter nichts als eine der Teilbestimmungen, welche in die Lokalisation konstituierend eingehen, während der obige kompensatorische Faktor nur eine andere Teilbestimmung ist, die nachträglich hinzukommt. Wenn die letztere sich überall mit der größten Leichtigkeit verdrängen läßt, so darf man sich nicht wundem, daß zuweilen bei besonders zwingendem Anlaß auch die erstere weichen muß.
 

    1) Essai de Psychologie, Kap. 38, S. 132.

    2) Vgl. Dietze, Phil. Stud., Bd. 2; Cattell, Phil. Stud., Bd. 3, und die sehr eingehende Erörterung von Wirth, Phil. Stud., Bd. 20, S. 487,

    3) Die speziell nachteilige Wirkung konzentrierter Aufmerksamkeit ist mehrfach besonders hervorgehoben worden; vgl. Jastrow, American J. Psych., 4, 1892, S. 219, Drew, ebenda, 1895, S. 533; Hamblin, ebenda, 8, 1896, S. 3; Angell und Harwood, ebenda, 11, 1899, S. 67; Lewy, Zeitschr. f. Psychologie, 8, 1895, S. 259; Raymond und Janet, Névroses et Idées fixes, 1895, l, S. 94—105; Krueger, Phil. Stud., 16, 1900, S. 596—97; Külpe, Bericht ü. d. I. Kongreß f. exp. Psych., S. 61.
 

    Wir müssen uns nun daran erinnern, daß diese Verkleinerung keineswegs etwas völlig Neues darbietet; schon längst ist eine sehr ähnliche Erscheinung als Folge chirurgischer Amputation bekannt; eine fehlende Hand z. B. vermag zuweilen immer noch durch eine taktile Vorstellung vorgetäuscht zu werden, aber dabei kann diese ganz nahe an der Schulter erscheinen4). Die herkömmliche, von Guéniot aufgestellte Erklärung basiert auf dem Mangel an Empfindungen zwischen der Hand und der Schulter; und diese Erklärung läßt sich scheinbar auch auf unseren experimentellen Fall übertragen, wo Arm und Hand vollkommen gesund sind, denn obwohl hier die Zwischenempfindungen nicht geschädigt sind, so könnte man doch denken, daß eben diese es sind, welche durch die Aufmerksamkeit auf die anderweitigen Reizempfindungen momentan verdrängt werden. Nach dieser Erklärung wären dann unsere segmentalen Teilbestimmungen nichts als die zwischen den Gelenken liegenden Hautempfindungen. Obwohl aber zwischen beiden ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang unzweifelhaft bestanden hat, so scheint doch deren gegenwärtige Identifizierung im Widerspruche mit den Tatsachen zu sein; denn wir haben schon früher gefunden, daß die Lokalzeichen der Hautempfindungen durch pathologische Vorgänge aufgehoben werden können, ohne daß darunter die Lokalisationsfähigkeit merklich leidet; ferner lehrte in unserm experimentellen Falle die Selbstbeobachtung, daß die Zwischenempfindungen tatsächlich nicht verdrängt wurden; und schließlich hat Volkmann5) längst nachgewiesen, daß der Ausfall der Empfindungen am blinden Fleck der Retina doch keine Verkleinerung der vorgestellten Ausdehnung hervorbringt6). Deshalb muß ich die auf S. 17 (und bei früheren Gelegenheiten) geäußerte Meinung noch festhalten, daß die Länge eines Gliedes und andere solche segmentale Teilbestimmungen der Lokalisation heutzutage nicht mehr auf unmittelbaren peripheren Erfahrungen, sondern vielmehr auf zentralen Einregistrierungen beruhen. Sowenig die Guéniotsche Hypothese unseren Beobachtungen entspricht, so wenig ist sie mit genaueren Beobachtungen selbst der Amputationserscheinungen zu vereinigen; denn während hier die Zwischenempfindungen dauernd ausgeschaltet bleiben, kann die scheinbare Entfernung der (wirklich verlorenen) Hand ab- und zunehmen und zuweilen einer ganz normalen Lokalisation Platz machen; und Pitres hat gezeigt, daß auch ein elektrischer Strom, der durch den Amputationsstumpf geht, die normale scheinbare Ausdehnung wiederherzustellen imstande ist. Mit unsern Auseinandersetzungen dagegen sind diese Amputationserscheinungen im besten Einklange; denn wir sahen, daß bei jeder Wiederholung der Blicklokalisation die Täuschungen weniger wirksam werden; und wenn in dieser Weise die Teilbestimmungen sich durch Übung befestigen lassen, so werden sie umgekehrt nach Amputation sich ebensosehr durch den gänzlichen Fortfall der Übung abzuschwächen geneigt sein; auch ist es wohl verständlich, daß sie unter dem starken elektrischen Reiz momentan wieder aufflackern können.
 
 

    4) Vgl. Guéniot, Journal d. Physiologie de l'Homme et des Animaux. Bd. 4, 1861, S. 416 ff.; Weir Mitschell, Injuries of  Nerves and their consequences, 1874; Pitres, Annales médicopsychologiques, 1897, S. 5 und 177.

    5) Physiolog. Untersuchungen, 1835, Sec. 3.

    6) Die entgegengesetzte Angabe von Wittich entbehrt aller Begründung; Arch. f. Ophthalmologie, 9 (3), S. 9.
 
 

    Beide Arten der Verdrängung durch die Aufmerksamkeit, sowohl die segmentale wie auch die artikulare, bieten das (wie ich glaube) neue und merkwürdige Phänomen, daß sie keine einfache Verdunkelung oder unregelmäßige Störung, sondern ganz bestimmte, positive und sehr lehrreiche Umgestaltungen hervorbringen. Die Vorstellung der Lage eines Tastreizes von mittlerer Intensität, wenn man die Lage an sich betrachtet und von allen begleitenden Erscheinungen abstrahiert, ist eins der homogensten und einfachsten Bewußtseinselemente, die man überhaupt besitzt. Unbegreiflich wäre es dann, daß in der Lagevorstellung speziell ein Stück der Entfernung vom Gelenke, bzw. von der häufigsten Gliedstellung, ausfallen sollte, wenn man nicht bedenkt, daß die Lagevorstellung sich gerade aus solchen Teilbestimmungen ursprünglich zusammengesetzt und integriert haben muß (vgl. S. 16—17).

3. Der positive Grund aller Lokalisationstäuschungen.

    Wir kommen jetzt auf das Unterschätzungsgesetz zurück. Die verschiedenen Momente, welche nach Teil V die Täuschung zu vergrößern vermögen, haben sich als geeignet gezeigt, keinesfalls eine Täuschung positiv zu schaffen, sondern nur den sonst unausbleiblichen kompensatorischen Faktor zu verdrängen und dadurch irgendeine schon latent vorhandene Täuschung ins Leben zu rufen. Diese als beeinflussend entdeckten Momente können uns daher nicht weiter helfen, aber auch nicht weiter binden; ohne jede Rücksicht auf sie können wir jetzt ganz frei auf eigenen Pfaden nach der positiv täuschenden Anomalie suchen.

    Vor allem kann man nunmehr das »zentripetale Gesetz« (S. 41) mit dem »Unterschätzungsgesetz« in Beziehung bringen, da ja alle beide die Tendenz aufweisen, neu auftretende Lagewahrnehmungen gegen die Mitte der vorangegangenen hin zu lokalisieren. Der Hauptunterschied liegt darin, daß das erste Gesetz segmentale, das zweite dagegen artikulare Teilbestimmungen betrifft; aber wir haben schon gesehen, daß diese zwei Grundfaktoren doch ursprünglich7) einander äquivalent gewesen sein müssen; nur um der Dreidimensionalität der Raumvorstellung zu entsprechen, haben sich die Tastempfindungen in der Haut, bzw. den Gelenken, zu den zwei Arten von Polarkoordinaten ausgebildet.

    7) d. h. ursprünglich in bezug auf die Entstehung der Lokalisationsfähigkeit in einem gegliederten Körper, keineswegs in bezug auf die Entstehung der Raumvorstellung überhaupt.

    Der zweite, aus dem ersten abgeleitete Unterschied liegt darin, daß die segmentalen Bestimmungen sich auf deutliche Hautempfindungen gründen, welche dann feste Unterlagen für die Kompensationsfaktoren liefern dürften, während die artikularen Bestimmungen dagegen nicht im Bewußtsein aufzufinden sind (S. 17) und also den Kompensationsfaktoren keine festen Anhaltspunkte darzubieten vermögen. Dementsprechend haben wir auch tatsächlich beobachtet, daß ohne besondere Veranlassung keine segmentalen Täuschungen auftreten; im allgemeinen haben sie sich schon längst gründlich korrigiert, und jetzt sind sie nur durch zahlreiche neue, speziell dazu geeignete Lokalisationsversuche zu erzeugen; während die artikularen Täuschungen immer noch von allen früheren Lebenserfahrungen her latent fortdauern und beim kleinsten Anlaß wieder zum Vorschein kommen. Dann aber dürfen wir auch umgekehrt erwarten, daß die greifbaren, sinnlicheren, segmentalen Bestimmungen, wenn sie schließlich einmal als täuschend hervorgetreten sind, sich ebenso schwer wieder korrigieren lassen; und auch dies haben wir tatsächlich konstatiert (S. 40). Im Grunde also sind das zentripetale Gesetz und das Unterschätzungsgesetz nur natürliche entwicklungsgeschichtliche Modifikationen eines und desselben Phänomens.

    Jetzt wollen wir versuchen, dieses Phänomen mit den auf S. 23 angeführten Ergebnissen der früheren Forscher in Beziehung zu bringen. Von diesen hat sich die von Henri beobachtete Tendenz, den Arm zu niedrig vorzustellen, schon sofort dem Unterschätzungsgesetz subsumiert (S. 73). Und demselben Gesetz subsumiert sich ebenso leicht die von Henri bei der Blicklokalisation beobachtete Tendenz, die Richtung nach dem Körper zu zu bevorzugen; denn seine Beobachter sollten die vermeintliche Reizstelle »vertikal fixieren«; dies ist aber nur mittels einer sehr starken Beugung des Kopfgelenkes möglich, und eine Unterschätzung dieser Beugung muß offenbar die scheinbare Reizstelle zu nahe an den Körper verlegen. Das dritte Ergebnis war die Beobachtung von Kramer und Moskiewicz, daß der eine Arm, wenn er zum andern symmetrisch gestellt werden sollte, immer zu einer bequemeren Stellung neigte. Aber man konstatiert die scheinbare Stellung eines Armes ebensowohl dadurch, daß man sie mit dem andern Arm nachahmt (wie K. und M. tun), als auch dadurch, daß man direkt auf den scheinbaren Ort hinzeigt (wie wir es getan haben); nur im ersten Falle müssen die Täuschungen der zwei Arme einander entgegenwirken, im zweiten Falle sich jedoch annähernd summieren; dieser Unterschied aber fällt wenig ins Gesicht, da wir gesehen haben, daß die Täuschung des suchenden Armes verhältnismäßig sehr gering ist (S. 52). Eigentlich also lautet das Ergebnis von Kramer und Moskiewicz dahin, daß die scheinbare Stellung von der wirklichen Stellung immer nach einer mittleren Lage zu abweicht; es ist genau wieder unsere Unterschätzungserscheinung. Endlich kommen wir zur Mitteilung von Pearce, daß die Lokalisation eines Reizes von einem gleichzeitigen Nebenreiz sozusagen angezogen wird. Aber diese Gleichzeitigkeit läßt sich sehr wohl als wiederholte rasche Aufeinanderfolge auffassen; dann unterscheidet sich die Pearcesche Attraktion von unserem Zentripetalismus nur durch eine kleinere zeitliche Präzedenz des beeinflussenden Reizes; dieses Zeitintervall dürfte überhaupt nur eine Nebensache sein, da es schon bei unsern Versuchen von einer Minute bis zu einer Stunde und in den artikularen Täuschungen bis zu noch weit größeren Zeiträumen variieren konnte, ohne die Täuschung aufzuheben; also ist das Ergebnis von Pearce dem unsrigen ganz analog.

    Auch von Sachs und Müller8) erfuhren wir neulich, daß, wenn der Kopf oder der Körper um die sagittale Achse geneigt wird, diese Neigung immer unterschätzt wird; solche Unterschätzung — von den Verfassern als »eine Anpassung an die abnorme Körperstellung« erklärt ist doch, wie wir gesehen haben, keineswegs auf Körperstellungen beschränkt, die sich als abnorm bezeichnen lassen. Ferner wurde uns vor einigen Wochen von Bárány 9) folgendes mitgeteilt: Auf der Stirne des Beobachters wurden, mittels eines um eine horizontale Achse drehbaren Apparates, Striche gezogen; der Beobachter hatte die Aufgabe, zu beurteilen, ob das untere Ende des Striches senkrecht, rechts, oder links zielte. Wenn der Experimentator z. B., mit links geneigten Strichen beginnend, die Striche sich strahlenförmig aneinanderreihen ließ, so daß sie an Linksneigung allmählich abnahmen, dann senkrecht und schließlich rechts geneigt wurden, so machte der Beobachter zunächst L.-Angaben, um dann an einer Stelle 1—2 V.-Angaben zu machen, an die sich dann R.-Angaben anschlossen; ging er nun denselben Weg zurück, so traten natürlich zuerst R.-Angaben auf, dann folgten wieder 1—2 V.Angaben und dann L.-Angaben; aber an der Stelle, wo auf dem ersten Hinwege V.-Angaben gemacht wurden, fanden sich nun fast immer R.-Angaben, und die V.-Angaben des Rückweges lagen über den L.-Angaben des ersten Hinweges. Vom Verfasser wird diese Erscheinung dadurch erklärt, daß die Aufmerksamkeit des Beobachters gewöhnlich »auf das an den aufeinander folgenden Empfindungen Gleichbleibende gerichtet ist«; bei den wenigen Ausnahmen dagegen soll die Aufmerksamkeit »auf das an den Empfindungen sich Ändernde gerichtet« worden sein. Da nun der Verfasser offen zugibt, daß weder er noch seine Beobachter die geringste Spur von solchen Änderungen der Aufmerksamkeitsrichtung subjektiv zu bemerken vermochten, und da die Erscheinung sich ohne weiteres unserer »segmentalen Täuschung« (S. 41) subsumiert, so durfte wohl die letztere Erklärung den Vorzug haben. Auf diese Weise stellt sich schließlich heraus, daß alle früheren Ergebnisse mit den unsrigen und ebenfalls, sowenig man es auch erkannt haben mag, miteinander identisch sind; sämtliche bisher beobachteten Lokalisationstäuschungen, äußerlich von bunter Verschiedenheit, bieten innerlich nur ein einziges Phänomen dar10).
 

8) Zeitschrift f. Psychologie, Bd. 31, 1893, S. 89—109.

9) Zeitschrift f. Psychologie, Bd. 38, 1895, S. 34— 50.

            10) Mit Ausnahme der auf S. 63 beschriebenen scheinbaren Verkleinerung des Armes.
 
 

    Es fragt sich nun, ob dieses Phänomen sich nicht auch in anders gearteten räumlichen Erscheinungen bemerkbar machen dürfte. In der Tat haben wir schon gesehen, daß es von Pearce auch bei visuellen und akustischen Orientierungen konstatiert werden konnte. Und schon im Jahre 1862 teilt Wundt11) nicht nur das Phänomen, sondern auch die einzige annehmbare Erklärung mit: »Als ein weiterer bemerkenswerter Umstand gehört hierher, daß ein unmittelbar vorangegangener Eindruck auf den ihm nachfolgenden von Einfluß ist. So z. B. wird immer, wenn man auf einen Eindruck mit weiterer Zirkelöffnung einen solchen mit engerer Zirkelöffnung folgen läßt, die letztere Entfernung größer geschätzt als unter gewöhnlichen Verhältnissen; und das Entgegengesetzte findet statt, wenn umgekehrt der engeren die weitere Zirkelöffnung nachfolgt; hier wird die größere Entfernung kleiner geschätzt als gewöhnlich. Jede vorangegangene Vorstellung strebt also die ihr unmittelbar nachfolgende in ihrem Sinne zu ändern.«

    11) Beitrage zur Theorie der Sinneswahrnehmungen S.43. Die Hervorhebungen im Druck sind von mir eingeführt.

    In einer wesensähnlichen Bedeutung hat später auch Müller-Lyer12) den Kontrasttäuschungen seine »Konnexionstäuschungen« entgegengesetzt und mit einem vortrefflichen Beispiel belegen können13). Derselbe Gedanke taucht auch in den von T. Lipps 14) behaupteten »Ausgleichungstendenzen« auf. Noch distinkter wird das Phänomen unter dem Ausdruck »assoziative Angleichung« von Wundt15) wieder dargestellt, und mit einem neuen überzeugenden Beispiel bekräftigt. Und nichts als diese »Angleichung« (wie wir es weiterhin nennen wollen) scheint den gemeinsamen mehr oder weniger deutlichen Kern für die mannigfachen Erklärungen der speziell als »Müller-Lyersche« gekannten Täuschung zu bilden; eigentlich bleibt nur noch zu entscheiden, ob sich nun die Angleichung auf Retina-, Augenmuskel- oder Gefühlsmotive bezieht. Von demselben Standpunkt aus lassen sich, meiner Meinung nach, auch noch viele andere selbst unter den bestrittensten Täuschungen am ungezwungensten erklären; darauf hoffe ich in einer späteren Arbeit zurückzukommen.
 

    12) Arch. f. Anatomie und Physologie, physiol. Abt. Suppl. 1889, S. 265.

    13) Er zeigte, daß eine Linie, die zwischen zwei «andern zu ihr parallelen liegt. größer oder kleiner erscheint, je nachdem die letzteren größer oder kleiner als die erstere sind.

    14) Zeitschr. f. Psych., Bd. 12, 1896, S. 51. Unter anderen schreibt er: »Tritt zu einer einmal gegebenen Richtung eine andere hinzu, so erscheint die erstere im Sinne der letzteren abgelenkt«.

    15) Abhandl. der sächs. Ges. d. Wiss., M.-P. Klasse Bd. 24, 1898, S. 138—141. Ein Segment erscheint größer oder kleiner, je nachdem es zwischen zwei größere oder zwei kleinere Segmente gestellt wird. Nur muß der Größenunterschied gering sein, sonst schlägt das Phänomen ins Gegenteil, den Kontrast, um.
 
 

    Aber auch mit dem ganzen Gebiet der Raumvorstellungen ist die Herrschaft der Angleichung keineswegs zu Ende: nicht minder scheint sie im Gebiet der Zeitvorstellungen zu dominieren. Schon Mach16) fand im Jahre 1865, daß zwei Zeitintervalle, auch wenn sie bei den ersten Versuchen deutlich verschieden waren, bei Wiederholungen sich doch allmählich annähern und schließlich ganz gleich erscheinen; diese Beobachtung ist später von Schumann17) bestätigt worden. Noch deutlicher tritt die Angleichung in einigen Versuchen von Nichols18) hervor; seine Beobachter sollten zuerst nach sechs Schlägen eines Zeitapparates und dann weiter ohne solche, aber in möglichst gleichen Intervallen, taktieren; es stellte sich heraus, daß diese Reproduktion des Taktmaßes auffallend beeinflußt wurde, wenn die Beobachter vor dem ganzen Versuch einige Schläge in einem andern Tempo gehört hatten; denn wenn diese früheren Schläge rascher oder langsamer als die im Versuche selbst gewesen waren, so zeigte die Reproduktion der letztern bald eine unwillkürliche Annäherung an das Tempo der ersteren.
 

16) Berichte d. kais. Akad. zu Wien. M.-N. Klasse, Ab. 2.

17) Zeitschrift f. Psychologie, Bd. 4; 1893, S. 4.

18) American J. Psych., Bd. 6, 1894, S.63—79.
 
 

    Aber nicht nur in extensiven, sondern auch in qualitativen Erscheinungen spielt die Angleichung eine bedeutende Rolle. Im Gebiete der Farben z. B. hat sich wohl gelegentlich jeder Psycholog über die sinnliche Lebhaftigkeit gewundert, mit der sich der blinde Fleck seiner Umgebung angleicht. In ähnlicher Weise nimmt man eine große gleichgefärbte Fläche derart wahr, als ob der ganze physiologische Eindruck dem in der fovea centralis gleich wäre, was bekanntlich bei weitem nicht der Fall ist.

    Analoge Fälle sind auch auf akustischem Gebiete nachgewiesen worden. Gelegentlich seiner Beobachtungen an Zweiklängen fand Krueger z. B. folgendes: Ungewöhnlich hohe Teiltöne werden gern zu tief, ungewöhnlich tiefe zu hoch geschätzt. Ferner werden ungewöhnliche Intervalle mit sinnlicher Lebhaftigkeit bekannten musikalischen Tongestalten angeähnelt; und zwar sind musikalisch geübte Beobachter hierzu mehr geneigt als unmusikalische, wie sie in ihrer ganzen akustischen Auffassung mehr als diese von erfahrungsmäßig erworbenen Einheiten und Formen beherrscht werden. In akustischen Komplexen endlich werden die Schwebungen, Rauhigkeit und ähnliche Merkmale, die tatsächlich an einem oder wenigen Teilen des simultanen Ganzen haften, in der Regel, und gerade von den geübteren Beobachtern, auch auf andere Teile des Komplexes oder des Klangganges übertragen. Diese Erscheinungen werden auch von Krueger als »Angleichungen« bezeichnet19).

    19) Phil. Stud. 16 (1900) S. 340, 604 ff., 17 (1901) S. 241; auch Arch. f. a. ges. Psychol. 1 u. 2,
 
 

    Wenn wir jetzt davon absehen müssen, dasselbe Phänomen auch in den höheren Gebieten, sowohl auf der intellektuellen wie auch auf der gemütlichen Seite des Seelenlebens, weiter zu verfolgen, so geschieht dies nicht aus Mangel an Material, sondern wegen allzu großen Überflusses an solchem. Denn die Angleichung scheint mir ein ebenso allgemeiner und dabei vielleicht einheitlicher Vorgang wie ihr vielgenanntes Gegenstück, der Kontrast, zu sein. Bereits von Beneke20) ist, wenn auch in einer jetzt etwas befremdenden Terminologie, der Sachverhalt treffend genug geahnt worden: »Alle Entwicklungen unseres Seins sind in jedem Augenblicke unseres Lebens bestrebt, die in ihnen beweglich gegebenen Elemente gegeneinander auszugleichen «.

    20) Lehrbuch d. Psychologie als Naturwissenschaft, 1845, S. 25.

    Heutzutage ist man viel tiefer in die Gesetze der »Assimilation» eingedrungen21); durch dieses Wort drückt man bekanntlich aus, daß nicht ganze früher erlebte Vorstellungen, sondern nur deren Elemente in spätere (mit den früheren assoziierte) Vorstellungen verlegt werden.

    21) Wundt, Physiologische Psychologie 5, 1903, Bd. 3, S. 528 ff.

    Den unter Assimilationen speziellen Fall der Angleichung möchte ich nun dahin präzisieren, daß hier die früheren reproduzierten und die späteren reproduzierenden Vorstellungselemente gleichartig (z. B. bei Lagenvorstellungen) sind; dann kann kein eigentlicher Zuwachs, sondern nur Anähnlichung stattfinden; die neue Vorstellung nähert sich der früheren an.

    Physiologisch ist das Assimilationsphänomen so zu denken, daß jeder elementare Vorgang in den Nervenzentren eine erhöhte Disposition zur Wiederholung dieses Vorganges zurückläßt, und daß dabei diese Wiederholung die Tendenz hat, auch auf die andern damals begleitenden elementaren Vorgänge hinüberzugreifen. In einer Angleichung nun sind die reproduzierten und die neuen Elementarvorgänge derart miteinander verwandt, daß sie in ein einheitliches Resultat ausmünden; dann können die reproduzierten Vorgänge nicht mehr selbständig zur Geltung kommen, sondern nur eine Erleichterung des neuen Gesamtvorgangs nebst Verschiebung seines Schwerpunktes nach dem früheren Vorgange hin bewirken; in dieser Weise entsteht physiologisch — zwischen Übung und »Mitübung« mitteninne, stehend — eine Ablenkung (die sich dann psychologisch als »Angleichung« darstellt)22).
 

    22) Im gegenwärtigen Aufsatz haben wir ausschließlich die Einheitlichkeit des Angleichungsphänomens betonen können. Seine Verschiedenheiten, z. B. die mögliche Trennung der psychologischen von den rein physiologischen Erscheinungen, mußten der weiteren Untersuchung überlassen werden.