VI. Teil. Hauptergebnisse.



    1. Die räumlichen Orientierungen gliedern sich in drei Fundamentalklassen, die vielleicht am bequemsten als »Raum«-, »Orts« - und »Lagewahrnehmung« zu bezeichnen sind und die sukzessive Entwicklungsstufen darstellen. Die herkömmlichen Lokalisationsversuche, aus den ursprünglichen Arbeiten von Volkmann und Weber herübergenommen, beruhen auf komplexen Kombinationen dieser drei Klassen; deshalb sind sie mehrdeutig und unzweckmäßig. (Die folgenden Hauptergebnisse 2 bis 6 beziehen sich auf die reine Lagewahrnehmung.)

    2. Jede Lagewahrnehmung gründet sich auf eine ganze Kette von Teilbestimmungen; einige davon dienen zur Orientierung innerhalb der zwischen den Gelenken liegenden Körpergebiete (sie sind von mir als »segmental« bezeichnet worden), die andern sind eine Funktion der Gelenkwinkel (und sind »artikular« genannt worden); sie alle wirken im Sinne eines Polarkoordinatensystems zusammen.

    3. Die segmentalen Teilbestimmungen bewirken die Täuschung, daß mehrere auf verschiedenen Stellen eines Gliedes nacheinander vollzogene Lokalisationen die Tendenz haben, das gemeinsame Zentrum zu bevorzugen. (Der Kürze halber ist dieses regelmäßig auftretende Phänomen als das zentripetale Gesetz bezeichnet worden.)

    4. Auch jede artikulare Teilbestimmung erzeugt eine Täuschung, und zwar derart, daß die Abweichung vom häufigsten Gelenkwinkel unterschätzt wird. Meistens ist diese allgemeine Täuschung durch einen zentralen kompensatorischen Vorstellungsfaktor mehr oder weniger vollständig ausgeglichen; letzterer aber wird durch Konzentration der Aufmerksamkeit verdrängt, und dann kann die Täuschung eine Größe von mehr als 15 cm (Mittelwert für eine Person) erlangen. (Dieses, wie es scheint, ausnahmlos vorkommende Phänomen ist als »Unterschätzungsgesetz« bezeichnet worden.)

    5. Durch Konzentration der Aufmerksamkeit können nicht nur dieser kompensatorische Faktor, sondern auch einige der ursprünglich konstituierenden segmentalen Teilbestimmungen (vgl. Hauptergebnis 2) gehemmt werden; auf solche Weise kann das Glied eine scheinbare Verkürzung bis um 40 cm (Mittelwert für eine Person) erleiden, welche der bekannten nach Amputation entstehenden Verkleinerung vollkommen analog ist. Konzentration der Aufmerksamkeit hat die besonders leicht irreführende Wirkung, daß sie solche Vorstellungsfaktoren verdrängt, die nicht für sich auffaßbar sind.

    6. Die Bewegung des Gliedes kann die Unterschätzungstäuschung sehr herabsetzen, sonst aber die Lokalisationsfeinheit nicht erhöhen.

    7. Die zentripetale und die unterschätzende, sowie auch sämtliche andern bisher entdeckten Lokalisationstäuschungen sind im Grunde ein und derselbe Vorgang. Dieser stellt eine sehr wichtige und eigenartige Assoziationserscheinung dar, die man treffend als »Angleichung« bezeichnet hat; sie beherrscht nicht nur die Lokalisationsvorgänge, sondern auch das ganze Gebiet der Raum- sowie der Zeitvorstellungen; außer in die extensiven Erscheinungen greift sie auch in die qualitativen ein; selbst in den höchsten geistigen Tätigkeiten scheint sie nicht minder bedeutungsvoll als ihr, vielgenanntes Gegenstück, der Kontrast, zu sein.