6. Über die Methoden zur Untersuchung der Gedankentätigkeit.

    Ich halte es nicht für billig, eine Methode zu tadeln oder gar als verfehlt nachzuweisen, ohne daß der Kritiker, der dies tut, zugleich, soweit er es vermag, die Mittel und Wege andeutet, die er für die richtigeren und aussichtsreicheren hält. Wenn ich dies im folgenden versuche, so gedenke ich dabei nichts wesentlich Neues mitzuteilen, was nicht in verschiedenen meiner psychologischen Arbeiten schon enthalten wäre. Gleichwohl scheint es mir nützlich, speziell im Hinblick auf die oben erwähnten "Gedankenexperimente", kurz das Verhältnis zu erörtern, in welchem die bis dahin befolgten einseitigen Methoden der philologischen (linguistischen, mythologischen usw.) Untersuchung auf der einen und der reinen Selbstbeobachtung auf der anderen Seite zu der nach meiner Meinung auf diesen Gebieten ganz unerläßlichen Verbindung individual- und völkerpsychologischer Betrachtung stehen. Gerade die Psychologie der logischen Funktionen bietet, wie ich glaube, für die Aufzeigung dieses Verhältnisses ein besonders günstiges Beispiel, weil man hier mehr als anderwärts versucht hat, ausschließlich mit einer jener einseitigen Methoden den Problemen näher zu treten. Das liegt hier offenbar in dem Gegenstand selbst begründet. Einerseits erscheint die Sprache als ein so unmittelbarer Ausdruck des Denkens, daß leicht die Meinung entstehen kann, es ließen sich ohne weiteres aus den sprachlichen Formen auch die psychologischen Gesetze des Denkens erschließen; anderseits begegnet uns das logische Denken überall als eine Tätigkeit des individuellen Bewußtseins, so daß es hier wiederum nahe liegt, es in dieser seiner unmittelbaren Gegenwart in der Selbstbeobachtung belauschen zu wollen. Daß trotzdem keine dieser Methoden zureicht, daß vielmehr jede von ihnen in ihrer isolierten Anwendung geeignet ist in die Irre zu führen, das zeigt die unbefangene Prüfung der hier wie dort gewonnenen Ergebnisse. Die philologische Methode scheitert, weil sie mit unzweifelhaften psychologischen Tatsachen in Widerspruch gerät. Die Methode der reinen Selbstbeobachtung scheitert, weil sie völlig unzulängliche Ergebnisse liefert, aus denen sich weder eine Psychologie der Sprache noch eine solche des Denkens gewinnen läßt.

    Zwei Ansichten sind es hauptsächlich, die, in der Psychologie der Sprachforscher verbreitet, durch den Widerspruch, in den sie mit den einfachsten psychologischen Erfahrungen treten, die Unmöglichkeit beweisen, aus der Sprache allein eine Psychologie der Sprache zu gewinnen. Nach der einen dieser Ansichten sind Sprechen und Denken eins: es gibt kein Denken, das nicht ein inneres Sprechen wäre, eine Behauptung, die Geiger und Noiré zu der Hypothese gesteigert haben, das Denken sei erst durch die Sprache entstanden, mindestens habe diese erst aus den ursprünglichen halbartikulierten Lauten das zusammenhängende Denken gestaltet. Nach der anderen Ansicht besteht das Denken in einer Sukzession von Vorstellungen oder Begriffen, die in der Aufeinanderfolge der Wörter im Satze ihr Vorbild habe. Beide Meinungen sind falsch, wie jede unbefangene Selbstbeobachtung lehren kann. Die erste widerspricht, abgesehen von ihrer sonstigen inneren Unwahrscheinlichkeit, schon der bekannten Tatsache, daß wir nicht selten einen Gedanken bilden, für den wir die Worte nicht oder nur unvollständig zu finden wissen. Eine dahin gehörende Erscheinung ist auch das fragmentarische Sprechen des Kindes, das manchen Menschen zeitlebens eigen bleibt, und das in den lückenhaften grammatischen Formen primitiver Sprachen sein Analogon findet. In allen solchen Fällen können möglicherweise die entsprechenden Gedankenelemente nur dunkler bewußt, aber sie müssen jedenfalls soweit vorhanden sein, als der Zusammenhang der übrigen Bestandteile dies fordert. Solche kleinere Lücken der Satzverbindungen leiten nun durch alle möglichen Zwischenstufen zu den größeren hinüber, die uns die innere Wahrnehmung fortwährend in dem sprachlichen Ausdruck unserer stillen Gedanken darbietet. Hier kann sich schließlich das Verhältnis völlig umkehren, so daß nur vereinzelte Worttrümmer zum deutlichen Bewußtsein kommen, während wir gleichwohl ganze Gedankenreihen aneinander fügen. Wie dabei diese Reihen selbst im Bewußtsein repräsentiert sind, das ist eine weitere, nur im Zusammenhang mit anderen psychologischen Beobachtungen zu beantwortende Frage, auf die wir unten zurückkommen werden. Hier genügt es, daß ein sprachloses Denken sowohl in der Form des mangelnden sprachlichen Ausdruckes für einzelne wesentliche Bestandteile eines Gedankens wie für einen ganzen Gedankenzusammenhang vorkommen kann. Die Hypothese, daß Sprechen und Denken zusammenfallen, ist damit zureichend als eine Fiktion dargetan, die durch die psychologische Selbstbeobachtung widerlegt wird.

    Nicht anders verhält es sich mit der fast ausnahmslos in der Psychologie der Sprachforscher verbreiteten, noch von einem um manche psychologische Seiten der sprachlichen Erscheinungen so verdienten Gelehrten wie Herm. Paul festgehaltenen Ansicht, alles Denken bestehe in einer sukzessiven Verbindung von Vorstellungen und Begriffen, ähnlich wie sein Ausdruck in der Sprache eine Sukzession von Worten ist. Danach soll die Einheit des Gedankens nicht seinem Aussprechen vorangehen, sondern nachfolgen. Daß diese Hypothese mit der vorigen eng zusammenhängt, wenn auch nicht alle ihre Vertreter eine Identität von Sprechen und Denken behaupten, ist einleuchtend. Auch bei ihr wird ja angenommen, der Satz, wie ihn die Sprache gestaltet, sei ein treues Ebenbild des Gedankens, wenn man auch zugesteht, dieser könne möglicherweise in Vorstellungen verlaufen, die nicht Wortvorstellungen sind. Dennoch sollte in diesem Fall eigentlich schon die psychologische Betrachtung der sprachlichen Gebilde von der Unhaltbarkeit dieser Hypothese überzeugen. Hängt doch selbst logisch der Anfang eines regulär gebildeten Satzes derart mit seinem Ende zusammen, daß es ganz unmöglich wäre, jenen Anfang zu bilden, wenn dieses Ende nicht schon stillschweigend mitgedacht würde. Das bestätigt denn auch die Selbstbeobachtung, die bei dem Aussprechen den deutlichen Eindruck erweckt, daß der Gedanke als Ganzes in unserem Bewußtsein steht, ehe wir ihn in seine Teile gliedern; und diese Selbstbeobachtung wird dann noch durch die weitere vervollständigt, die mit der Existenz des sprachlosen Denkens zusammenhängt, daß wir in einer größeren Gedankenkette über zahlreiche solche Gesamtvorstellungen hinweg-gleiten können, ohne uns irgendwie deren Teile im einzelnen zu vergegenwärtigen. Dies findet sich vor allem beim stillen, wortlosen Denken; aber es kommt auch beim sprachlichen Denken vor, wo solche bloß als Gesamtvorstellungen wirksame Zwischenglieder für den Denkenden selbst einer Gedankenreihe ihren vollgültigen logischen Zusammenhang verleihen, während der letztere für den, an den sich die Rede wendet, unverständlich werden kann.

    Ist die Betrachtung der Sprache, ohne Rücksicht auf das, was uns die innere Wahrnehmung lehrt, für sich allein unvermögend, eine Psychologie des Denkens oder auch nur eine Psychologie der Sprache zustande zu bringen, so verhält es sich nun aber nicht anders, wenn man im Gegensatze dazu die Selbstbeobachtung zur einzigen Quelle für die psychologische Erkenntnis dieser verwickeltsten seelischen Vorgänge machen will. Das zeigen in überzeugender Weise auch die Resultate der Ausfrageexperimente. Freilich muß hinzugefügt werden, daß nach ihnen selbst alles, was die individuelle psychologische Bewußtseinsanalyse für die Lösung des Gedankenproblems leisten kann, nur sehr unvollkommen gewürdigt werden kann. Sind doch die Ausfrageexperimente, wie wir oben sahen, keineswegs musterhafte Selbstbeobachtungen, sondern Selbstbeobachtungen unter erschwerenden Umständen und unter Bedingungen, die die Selbsttäuschung mehr als die Selbstbeobachtung begünstigen. Überdies sind aber die methodischen Fehler durchaus nicht die einzigen, die diesen Versuchen anhaften. Ein anderer, ebenso schwer wiegender, der an sich nicht an die Methode des Ausfragens geknüpft ist, aber von ihren Vertretern, soweit sie sich mit dem Problem der Denkfunktionen beschäftigt haben, so viel ich sehen kann, ausnahmslos gemacht worden ist, besteht darin, daß diese Forscher sofort das Problem für sich allein, ohne Rücksicht auf alles, was über die allgemeinen und relativ einfacheren Verhältnisse des Bewußtseins, der Aufmerksamkeit, des Verlaufs der psychischen Vorgänge usw. ermittelt ist, zu lösen suchen. Um alle diese Dinge, über die wir doch schon mannigfache Untersuchungen besitzen, deren Ergebnisse für die Beurteilung etwaiger Selbstbeobachtungen bei dem Gedankenprozeß natürlich von großer Bedeutung sind, kümmern sie sich überhaupt nicht. Nun könnte es ja sein, daß sie den bisherigen Arbeiten über diese Fragen mißtrauen und ihre Ergebnisse bezweifeln. Aber da es sich hier offenbar um Vorfragen handelt, deren Beantwortung unerläßlich ist, wenn man sich auf das Gebiet der komplexen Bewußtseinsvorgänge begeben will, so war es in solchem Fall jedenfalls ihre Pflicht, irgendwie zu den hier überall hereinspielenden Fragen nach dem Umfang des Bewußtseins, dem Verhältnis der dunkler bewußten zu den klarer bewußten seelischen Vorgängen, der Gefühle zu den Vorstellungsinhalten, der Vertretung dieser durch jene usw. irgendwie Stellung zu nehmen. Davon ist jedoch nirgends die Rede. Die Urheber dieser Gedankenexperimente sehen nicht rechts noch links: sie behandeln die Frage nach dem psychologischen Wesen des Denkens so, als wenn diese mit allen jenen anderen, elementareren Fragen nicht im allergeringsten Zusammenhang stünde, und als wenn sie selbst eine Aufgabe der einfachsten Art wäre, die sich mit den einfachsten Mitteln, durch eine direkte Frage an die Natur, in diesem Fall also durch eine solche an den, der einen Gedanken gehabt hat, endgültig beantworten ließe.

    Und was ist nun diese Antwort, was das letzte Resultat der Ausfrageexperimente? Wenn man von den nachträglichen ausschließlich logischen Reflexionen der Beobachter und der Versuchsleiter absieht, die an sich mit den psychologischen Ergebnissen der einzelnen Versuche überhaupt nichts zu tun haben, und die ein reiner Logiker, auch ohne Experimente und ohne Selbstbeobachtungen anstellen könnte, so lautet das Resultat: die Beobachter haben überhaupt nichts beobachtet. Nicht als ob sich nicht in den der Ausfrage unterworfenen Versuchspersonen irgend etwas ereignet hätte. Der Gedanke als Ganzes stand schließlich deutlich vor ihrem Bewußtsein. Aber dieser Gedanke war körperlos. Er entbehrte jedes Substrats von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen oder sonstigen irgendwie faßbaren Bewußtseinsinhalten. Diese huschten wohl gelegentlich durch das Bewußtsein, aber so zufällig, so augenscheinlich zumeist außer Zusammenhang mit dem Gedanken selbst, daß sie mit Fug und Recht als zufällige Begleiterscheinungen betrachtet werden konnten. Was ist also schließlich der Gedanke selbst? Er ist – so lautet das Schlußergebnis – ein Bewußtseinsinhalt sui generis, verschieden von allem, was wir sonst zu den Bewußtseinserlebnissen rechnen, insbesondere verschieden von dessen sinnlichen Bestandteilen. Damit sind wir glücklich wieder bei dem "Actus purus" der Scholastiker angelangt. Diese hatten ihn freilich nicht durch Ausfrageexperimente gewonnen, sondern er galt ihnen als eine notwendige Konsequenz aus dem noûzpoihtizdes Aristoteles. Der tätige, stofflose Geist könne, so meinten sie, selbst nur Stoffloses hervorbringen. Die neuere Psychologie hat in dem Maße als in ihr die empirischen über solche metaphysische Motive obsiegten, diesem dualistischen Spiritualismus entsagt. Geht ihr auch der geistige Gehalt keineswegs in seiner sinnlichen Hülle auf, so meint sie doch im ganzen, daß er dieser nirgends entbehren könne. Da erwächst nun, so scheint es, unvermutet dem alten "Actus purus" der Scholastik eine Hilfe mitten heraus aus der experimentellen Psychologie. Doch sollten nicht etwa schon hinter jenem Actus purus der Scholastik und weiter zurück hinter dem stofflosen Nus des Aristoteles neben anderen Motiven auch empirische verborgen gewesen sein? In der Tat darf man sich darüber wohl nicht täuschen: die geistigen Vorgänge erscheinen noch heute dem von psychologischer Analyse nicht angekränkelten naiven Beobachter stofflos. Sie bewegen sich ja weder als sinnlich wahrnehmbare Körper außerhalb unseres Bewußtseins, noch sind sie meist auch nur als flüchtige Erinnerungsbilder zu erhaschen. Die Vertreter des Ausfrageexperimentes kehren also in dieser Beziehung nur zu der allverbreiteten Anschauung von der Natur der geistigen Vorgänge zurück, die erst die empirischen Philosophen von der Schule Lockes mit etwas plumper Hand zu zerstören meinten, indem sie kurzweg das, was sie in der objektiven sinnlichen Wahrnehmung beobachteten, in diese subjektivsten Erlebnisse hineintrugen. Nur meinten sie, die lebendige Wirklichkeit werde durch das Denken in eine Schattenwelt verwandelt, deren einzelne Objekte, die Begriffe, von zahlreichen Gegenständen der Wahrnehmung ihr Gepräge empfangen sollten. Das war nun freilich eine nicht nur unzulängliche, sondern mehr noch eine durch philosophische Vorurteile gefälschte Auffassung der Dinge, wie sie, in einem relativ naiven Stadium empirisch-psychologischer Analyse begreiflich, heute kaum mehr verzeihlich ist. Das haben auch die Vertreter des Ausfrageexperimentes richtig erkannt. So kehren sie denn zum Standpunkt des wirklich naiven, noch von keinerlei empiristischen oder sonstigen philosophischen Lehren infizierten Bewußtseins zurück: die Gedanken sind überhaupt nichts, was sich irgendwie mit unseren sonstigen Bewußtseinsinhalten vergleichen ließe; sie sind ein spezifischer Inhalt, – der Gedanke ist nur durch sich selbst definierbar. Wie sich aber etwa ein Gedanke von einem anderen unterscheidet, und wie sich vollends dieser als ein Ding an sich existierende Gedanke gelegentlich in Vorstellungen oder Worte umsetzen könne, das bleibt dahingestellt.

    Um dieses negative Resultat zu begreifen, ist es, wie ich glaube, nicht genug, daß man die mangelhafte Methode der Ausfrageexperimente berücksichtigt, die allerdings kaum etwas anderes erwarten ließ, sondern man muß sich auch die psychologischen Voraussetzungen der Beobachter selbst vergegenwärtigen. Diese gehen, wie bemerkt, direkt auf ihr Ziel los: sie behandeln die Gedankenexperimente wie ein Reich für sich, bei dem man alles, was etwa die Psychologie über Bewußtseinsvorgänge überhaupt ermittelt hat, nicht weiter zu berücksichtigen brauche. So fließen bei diesen Autoren insbesondere Bewußtsein und Aufmerksamkeit offenbar in Eines zusammen. Was sie deutlich wahrnehmen, das ist im Bewußtsein. Ob in diesem nicht noch manches andere enthalten sein könne, was man im Augenblick nicht eben deutlich wahrnimmt, diese Frage kümmert die Beobachter wenig. Demnach ist ihre Erwartung bei den Ausfrageexperimenten von vornherein auf folgende Alternative eingestellt: entweder bewegen sich die Vorstellungen und Worte sukzessiv, so wie wir sie in einem Satze etwa aussprechen, bei der Bildung eines Gedankens durch unser Bewußtsein, oder sie tun es nicht, so daß wir die einzelnen den Gedanken etwa konstituierenden sinnlichen Bestandteile überhaupt nicht wahrnehmen können. Ist das erstere der Fall, so hat die "sensualistische" Gedankentheorie recht, wie sie von Locke an bis in die neueren Zeiten sich fortpflanzte. Ist das letztere der Fall, so hat sie unrecht, und der Gedanke besteht überhaupt nicht aus einzelnen Vorstellungen, sondern er ist ein psychisches Gebilde spezifischer Art. Nun zeigen die Ausfrageexperimente, wie zu erwarten war, daß die erste dieser Voraussetzungen nicht zutrifft, – also muß die zweite wahr sein: der Gedanke ist wirklich ein "Actus purus". Daß er nicht ausdrücklich so genannt wird, tut nichts zur Sache: das Wesen der auf die Experimente gegründeten Auffassung wird durch diesen Begriff gedeckt.

    Nun ist es immer ein bedenklicher Schritt, auf negative Ergebnisse positive Schlüsse zu gründen. Es erweckt den Verdacht, möglicherweise könnten Bedingungen übersehen oder Voraussetzungen gemacht worden sein, deren Beachtung nötigen würde, bei dem negativen Resultat stehen zu bleiben, daß die Versuche überhaupt kein Resultat gehabt haben. In der Tat ist das meine Meinung. Auch glaube ich, daß man nur deshalb dazu gelangen konnte, an die Stelle dieses Nichts ein scheinbares Etwas in Gestalt jenes Actus purus zu setzen, weil stillschweigend bei der Beurteilung der Versuche eine fundamentale Voraussetzung gemacht wurde, deren Beseitigung das ganze Ergebnis in Frage stellt: nämlich die Voraussetzung, daß alles, was man überhaupt im Bewußtsein habe, auch in der Selbstbeobachtung unmittelbar gegeben sein müsse, d. h. die Annahme einer Identität von Bewußtsein und Aufmerksamkeit. Diese Annahme ist falsch, wie schon zahlreiche gewöhnliche Selbstbeobachtungen wahrscheinlich machen, und wie die tachistoskopischen Versuche, die Ermittelungen über den Umfang rhythmischer Zeitvorstellungen und andere wohlbekannte Ergebnisse der experimentellen Psychologie zur Evidenz beweisen. Darum ist der Actus purus der Gedankenexperimente keine Tatsache der Beobachtung, für die er sich ausgibt, sondern eine Folgerung aus mangelhaften Beobachtungen und falschen Voraussetzungen 1).

1) Da diese falschen Voraassetzungen hier, wie in so manchen anderen Fällen, denen, die sie machen, offenbar als selbstverständlich gelten, so darf man sich übrigens nicht wundern, wenn sie von ihnen auch andern unterstellt werden, die sie nicht teilen. So bekämpft K. Bühler meine Bemerkung, "jeder Denkakt müsse in der Form bestimmter Einzelvorstellungen gegeben sein", indem er augenscheinlich annimmt, auch mir gelte jede im Bewußtsein enthaltene Vorstellung als eine solche, die an und für sich auch unserer Selbstbeobachtung gegeben sei. Indem er dann weiterhin einzelne Sätze, die er dem einleitenden Abschnitt meiner Logik entnimmt, herausgreift und andere unbeachtet läßt, gelingt es ihm nahezu, mich als den Vertreter der alten, von mir nachdrücklich zurückgewiesenen Lehre darzustellen, nach der die Begriffe als abgeblaßte Erinnerungsbilder hintereinander aufmarschieren sollen, um einen Denkakt zu bilden. An einer anderen Stelle erklärt dieser Autor, meine Lehre von der Gesamtvorstellung und ihrer Gliederung enthalte "zweifellos etwas Richtiges". Aber ich soll meine Beobachtungen "zu schnell generalisiert" haben, indem ich "die Zerlegung einer Gesamtvorstellung zum Schema cai exochn der psychologischen Vorgänge mache, welche die Satzbildung begleiten" (S. 49 f.). Wenn der Verf. einige Seiten weiter gelesen hätte, so würde er bemerkt haben, daß er sich irrt, und wenn er den dort (Logik 3 I, S. 62) gegebenen Hinweisen auf meine Sprachpsychologie nur ein wenig gefolgt wäre, so würde ihm nicht entgangen sein, daß ich im geraden Gegensatze zu der mir zugeschriebenen Meinung die dem Prinzip der dualen Gliederung folgenden Gedankenbildungen in ihren Wirkungen auf den Satzbau als das späte Produkt einer assoziativen, jener dualen Gliederung nicht unterworfenen Gedankenform darzutun versucht habe, die nicht nur in zahlreichen Resten in die prädikative Form unserer Aussagesätze hineinragt, sondern sich in gewissen anderen attributiven Satzformen noch völlig erhalten hat. Man muß nicht jeden Autor, der über einen Gegenstand geschrieben hat, lesen; aber wenn man ihn kritisiert, so sollte man ihn immerhin auch gelesen haben.
 
 
    Nun glaube ich in der Tat, daß man schon auf Grund der bloße Selbstbeobachtung, wenn man sich von falschen Voraussetzungen frei hält und die sonstigen Ergebnisse der Psychologie zu Rate zieht, zu minder negativen Ergebnissen gelangen kann, als es der Ausfra-gemethode begegnet ist. Aber ich glaube auch, wie ich schon oben bemerkte, daß die reine Selbstbeobachtung dazu ebenso unzulänglich ist wie die reine Linguistik, daß wir vielmehr beide miteinander und mit der allgemeinen Psychologie der Bewußtseinsvorgänge kombinieren müssen, um bei diesen schwierigen Problemen zu irgend einem brauchbaren Ergebnisse zu gelangen. Wenn ich zum Schlusse anzudeuten versuche, wie dies geschehen kann, so fasse ich damit nur zusammen, was ich in meinen Arbeiten über diesen Gegenstand eingehender schon erörtert habe. Vielleicht ist es aber gerade wegen der weit verzweigten Beziehungen der Probleme nützlich, hier die Hauptergebnisse eines solchen kombinierenden Verfahrens auch vom methodologischen Gesichtspunkte aus kurz zu beleuchten.

    Meine Studien über die Psychologie der Sprache sind, wie ich hier wohl bekennen darf, zunächst nicht von der Sprache selbst, sondern von der subjektiven Beobachtung ausgegan-gen. Nicht als ob ich eines schönen Tages begonnen hätte, planmäßige Selbstbeobachtungen über die Frage, wie man denkt und spricht, auszuführen. Vielmehr suchte ich mir gelegentlich im Moment spontaner Gedankenproduktion und ihrer sprachlichen Äußerung über die im Bewußtsein ablaufenden Vorgänge Rechenschaft zu geben, ohne die Erscheinungen willkürlich hervorzubringen, noch überhaupt während ihres Ablaufs die Aufmerksamkeit auf sie zu richten, sondern nach der altbewährten Regel, das spontan Erlebte nach seinem Ablauf so gut wie möglich ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich bin jetzt noch der Meinung, daß dieses Verfahren der Beobachtung des Denkens während seiner Produktion dem einer Reproduktion von außen dargebotener Gedanken ebenso vorzuziehen ist, wie der ungezwungene Zustand des spontanen Denkens dem erzwungenen einer Examenspresse. Bei solchen Selbstbeobachtungen wurde mir nun vollkommen klar, daß man einen Gedanken nicht erst bildet, während man den Satz ausspricht, sondern daß er, bevor wir nur zum ersten Worte ansetzen, als Ganzes schon in unserem Bewußtsein steht. Dabei findet sich allerdings zunächst keine einzige der Wort- oder sonstigen Vorstellungen, die sich bei dem Durchlaufen und dem sprachlichen Ausdrucke des Gedankens bilden, in dem Blickpunkte des Bewußtseins, sondern erst in dem Moment, wo wir den Gedanken entwickeln, werden nun seine einzelnen Teile sukzessiv zu deutlichem Bewußtsein erhoben.

    Wer sich bei diesem nächsten Ergebnis der Selbstbeobachtung beruhigen wollte, der könnte nun möglicherweise zu einer Auffassung gelangen, die von dem Actus purus der Ausfrageexperimente nicht allzuweit abliegt. Er würde vielleicht sagen: der Gedanke ist im Bewußtsein, aber ich denke ihn doch in allen den Teilen, aus denen er besteht, nicht mit Bewußtsein, also ist er ein mittels der mir sonst bekannten Bewußtseinselemente nicht definierbares, d. h. ein spezifisches Gebilde, wie ja nach vielen Philosophen und Psychologen auch der Wille ein solches spezifisches Gebilde ist. Da jedoch der Beobachter, den ich voraussetze, keiner Examenspresse unterworfen ist und niemand mit der Uhr neben ihm steht, um zu notieren, wie schnell er mit seinem Gedanken fertig wird, sondern da er seine spontane Gedankenproduktion unbefangen, nachdem sie geschehen ist, in der Erinnerung erneuert, so würde ihm wahrscheinlich nicht entgehen, was den Gedankenexperimentatoren in Anbetracht der ungünstigen Bedingungen ihrer Beobachtung offenbar entgangen ist. Er würde bemerken, daß in jenem Augenblick, wo die Gesamtvorstellung im Bewußtsein steht, sie freilich nicht als eine in allen ihren Teilen klare Vorstellung apperzipiert wird, daß sie aber zunächst in ihrer Totalität eine Gefühlswirkung ausübt, die in ihrer Beschaffenheit dem Charakter des Gedankens adäquat ist, wie wir dies nachträglich, wenn er sich in seine Teile entwickelt hat, bestätigen können. Am deutlichsten tritt das bei solchen Gedankeninhalten hervor, denen selbst eine besonders lebhafte Gefühlsfärbung zukommt. Einem poetischen Gedanken z. B. geht, ehe wir ihn uns irgend klar vergegenwärtigen, ein ästhetisches Gefühl voraus, das seine Wirkung auf unser Gemüt in ihrer vollen Qualität und Stärke vorausnehmen kann. Wenn ein ethischer Gedanke sich in uns formt, so ist die vorausgehende Gemütsbewegung nicht selten ebenso stark wie diejenige, die der klaren Formung des Gedankens nachfolgt, namentlich aber entspricht sie diesem so vollkommen in ihrer eigentümlichen Färbung, daß wir eben daraus zugleich die praktische, unmittelbar und ohne deutliche Vergegenwärtigung der Vorstellungsinhalte zum Handeln treibende Macht solcher Gefühle begreifen. Eine zweite Erscheinung, die wir bei der spontanen Gedankenproduktion leicht wahrnehmen können, und die unter dem Zwang der Ausfrage offenbar verschwindet, besteht ferner darin, daß, wo etwa die natürliche Gedankenproduktion eine Hemmung erfährt, sei es infolge von Schwierigkeiten der Gedankenbildung selbst oder der Wortfindung, einzelne Vorstellungs- und Wortbestandteile sich plötzlich unserer Aufmerksamkeit aufdrängen und wieder schnell, wie sie gekommen sind, aus ihr verschwinden, ein Vorgang, der die größte Ähnlichkeit mit der wechselnden Apperzeption der Teile eines sehr zusammengesetzten Eindruckes der sinnlichen Wahrnehmung hat, in welch letzterem Falle schon der fortdauernde Eindruck auf das Sinnesorgan es mindestens im höchsten Grade wahrscheinlich macht, daß solche nicht apperzipierte Elemente keineswegs aus dem Bewußtsein verschwunden sind. Machen wir daraus die Anwendung auf den Gedankenprozeß, so sind wir wohl schon zu vermuten berechtigt, daß es sich bei ihm nicht anders verhalten werde, und daß sich eben in jenen deutlich sich aufdrängenden Gefühlsreaktionen die dunkler im Bewußtsein stehenden Bestandteile des Gedankens verraten.

    So weit würde, wie ich meine, schon ein aufmerksamer, in psychologischem Denken nicht ganz ungeübter Beobachter ohne alle Kenntnis der wissenschaftlichen Psychologie kommen können, wenn er sich nur seine eigene spontane Gedankenproduktion vergegenwärtigen wollte. Ein Psychologe, der mit der erforderlichen Vorsicht und Methode verfährt, wird aber durch solche immerhin nur fragmentarische und andeutende Ergebnisse der Selbstbeobachtung vor allem veranlaßt werden, sich nach den sonstigen Tatsachen umzusehen, die ihm durch die Beobachtung der einfacheren Bewußtseinsvorgänge entgegengebracht werden, und auf die jene Selbstbeobachtungen auf das dringendste hinweisen. Da bieten sich nun zunächst die Beziehungen zu den bei den Assoziationsexperimenten gemachten Erfahrungen, wie sie Scripture und Cordes beschrieben haben, und wie sie in manchen Selbstbeobachtungen von M. Giessler ihre Parallele finden 2). In diesen Versuchen und Beobachtungen verrät sich deutlich die ungeheure Bedeutung, die bei allen Vorgängen der Assoziation, Reproduktion und der durch beide vermittelten Verbindungen der Vorstellungen die an diese gebundenen Gefühle besitzen. Für die Wirksamkeit der dunkler bewußten Inhalte sind dabei besonders die zeitlichen Verhältnisse von Vorstellung und Gefühl bezeichnend. Sie führen zu dem Schlusse, daß vielfach ganz dunkel bewußte Vorstellungen durch außerordentlich intensive und deutliche Gefühle sich uns ankündigen können, eine Beziehung, aus der sich zahlreiche Erscheinungen der gewöhnlichen Selbstbeobachtung erklären. Nun würde man freilich diese Tatsachen der Gefühlspsychologie, wenn sie für sich allein dastünden, vielleicht auch dahin deuten können, daß man, wie dies ja manche Psychologen getan haben, die Vorstellungssubstrate ins "Unbewußte" verlegte, wonach eventuell auch die "Gesamtvorstellungen" bei der Gedankenbildung als etwas unbewußtes angesprochen werden könnten. Das würde eine Hypothese sein, die immer noch besser wäre, als der Actus purus der Ausfragepsychologen, weil sie wenigstens auf den spezifischen, undefinierbaren Charakter der "Gedanken" verzichtete. Doch dieser Anschauung vom Denken als einer unbewußten Funktion des Geistes treten zunächs die Resultate der tachistoskopischen und dann vor allem die der rhythmischen Versuche entgegen, die nicht für das Bewußtsein überhaupt, immerhin aber für das, worauf es bei den Beobachtungen der Gedankenverbindungen vor allem ankommt, für den Umfang einer Gesamtvorstellung ein gewisses Maß zu gewinnen möglich machen. Die tachistoskopischen Versuche zeigen uns deutlich, wie sehr Bewußtsein und Aufmerksamkeit nicht bloß in der Art der Auffassung des unserer inneren Wahrnehmung gegebenen, sondern auch in dem Umfang der Gebiete, die beide beherrschen, voneinander verschieden sind. Auf alles das, was uns diese Versuche in ihren neueren Fortbildungen namentlich über die Abstufung der Klarheitsgrade und deren Bedingungen, sowie über den Umfang und die Motive des Wanderns der Aufmerksamkeit gelehrt haben, will ich nur kurz hinweisen. Hier kommt bloß das eine wesentliche Resultat in Betracht, daß sich die bei den älteren Vertretern der Selbstbeobachtung zuweilen bestehende und augenscheinlich bei den Ausfrageexperimenten immer noch festgehaltene Meinung, Aufmerksamkeit und Bewußtsein seien identisch, als völlig unhaltbar erweist. Es ist selbstverständlich, daß diese falsche Meinung es von vornherein unmöglich macht, Problemen, bei denen die Wechselbeziehungen zwischen der Aufmerksamkeit und den dunkleren Bewußtseinsinhalten eine Rolle spielen, irgendwie beizukommen. Direkter noch berührt sich aber das Problem der Gedankenexperimente mit der Frage des Bewußtseinsumfanges oder, näher formuliert, mit der Frage, wie umfassend der Gesamtumfang einer mit der Mehrzahl ihrer Bestandteile dunkler bewußten, nur in einzelnen Elementen in die Region der direkten Apperzeption hereinreichenden Vorstellung sein kann. Diese Versuche sind unter verschiedenen Bedingungen, jedoch stets mit demselben allgemeinen Ergebnis ausgeführt worden, von den älteren, noch in ihren Hilfsmitteln beschränkten Experimenten G. Dietzes an bis auf die neueren, exakter ausgeführten und sie nach verschiedenen Richtungen erweiternden von J. Quandt 3). Das Kriterium für den Gesamtumfang einer im Bewußtsein zusammengehaltenen Gesamtvorstellung ist hierbei die Verbindung ihrer Teile zu einem rhythmischen Ganzen, das Kriterium für das Überschreiten dieser Grenze das plötzliche Abbrechen des Zusammenhanges. Diese Plötzlichkeit des Versagens ist zugleich ein sprechendes Zeugnis für eine bestimmte, hier relativ fest gezogene Grenze. Daß eine solche Grenze etwa innerhalb der im Unbewußten schlummernden Reste einer rhythmischen Reihe existieren könnte, widerstreitet ebenso dem vollkommen stetigen Übergange der Takte aus den klar bewußten in die dunkleren Regionen des Bewußtseins, wie der sehr viel längeren Dauer und der viel größeren Gleichmäßigkeit, mit der anderseits die wirklich aus dem Bewußtsein verschwundenen Vorstellungen als bloße Dispositionen oder "Reproduktionstendenzen" bereit sind, wieder in das Bewußtsein zu treten. Wer jemals bei rhythmischen Versuchen dieses plötzliche Versagen der Zusammenfassung einer rhythmischen Reihe erlebt hat und ebenso aus den Wiedererkennungs- und Erinnerungsversuchen mit den ganz anderen, lange dauernden Wirkungen der eigentlichen Reproduktion vertraut ist, der kann sich der Überzeugung unmöglich verschließen, daß es sich hier um zwei total verschiedene Erscheinungen handelt, von denen die erste auf einem unmittelbaren, in sich zusammenhängenden Bewußtseinsvorgange beruht, während die andere zwei völlig voneinander geschiedene Akte enthält. Zwischen zwei solche Erinnerungsakte können darum auch beliebige, völlig disparate Eindrücke sich einschieben, während der Zusammenhang einer Gesamtvorstellung durch eine derartige Unterbrechung unrettbar verloren geht. So widerlegen denn diese Beobachtungen ebenso die aus der Verwechselung zwischen Bewußtsein und Aufmerksamkeit hervorgegangene und, wie es scheint, noch immer nicht ganz überwundene Meinung, daß das Bewußtsein in jedem Moment auf ganz wenige, eventuell auf eine einzige Vorstellung beschränkt sei, wie die umgekehrte, dereinst von Leibniz auf Grund metaphysischer Spekulationen gemachte Annahme, daß das Bewußtsein überhaupt keine Grenze habe, sondern das dunkel Bewußte immer nur in ein noch dunkler Bewußtes übergehen könne. Vielmehr gibt es eine sehr bestimmte Grenze zwischen Bewußt und Unbewußt. Sie ist empirisch nachweisbar; und sie ist weit genug, um das "Unbewußte" von allen den psychischen Funktionen zu entlasten, die ihm z. B. Th. Lipps zuweist. Dieses scheinbar unbewußte wird aber damit zugleich aus der Region bloßer Spekulationen in das Gebiet des durch den Versuch Erreichbaren und der experimentellen Beeinflussung direkt Zugänglichen erhoben.

             2) Vgl. meine Physiol. Psychologie 5 III, S. 110 ff.
             3) G. Dietze, Philos. Studien II, S. 362 ff. J. Quandt, Psychologische Studien I, S. 137 ff. Vgl. auch Physiol. Psychol. 5 III, S. 351 ff.

 
 
    Ich hebe aus den Ergebnissen der rhythmischen Versuche folgende rhythmische Reihe hervor, die gerade noch von einem geübten Beobachter zusammengefaßt und als identisch mit einer vorangehenden gleichen oder als verschieden von einer auch nur um ein einziges Taktglied oder Taktelement abweichenden Reihe erkannt wird, die aber die Grenze des Bewußtseins erreicht oder ihr mindestens sehr nahekommt:

    Die Rhythmisierung ist durch die Zahl der Punkte über den gehobenen Taktelementen angedeutet, indem drei Punkte die stärkste, zwei eine mittlere und einer die schwächste Hebung bedeuten. Fünf Viervierteltakte kann man demnach bei einer passenden Geschwindigkeit der Taktschläge leicht zusammenhalten und eine folgende gleiche Reihe als rhythmisch identisch unmittelbar auffassen. Das sind vierzig Einzeleindrücke, zwanzig kleinere und fünf größere rhythmische Glieder, also ein nicht unbeträchtlicher Umfang, der, wie man sieht, auf irgendwelche, ebenfalls in sich zusammenhängende Gedankenoperationen übertragen, manches umfassen kann, was unserer Selbstbeobachtung, falls diese nur den direkt apperzipierten Inhalten zugewandt ist, entgehen muß. Die Hauptfrage, die uns hier interessiert, ist nun aber: wie erkennen wir denn eine solche zweite Reihe unmittelbar als dieselbige wieder, wenn sie, durch einen Klingelschlag getrennt, im unmittelbaren Anschlusse an die erste Reihe wiederholt wird? Müssen etwa die zwei Reihen wie zwei Palisadenreihen in unserem Bewußtsein nebeneinanderstehen, so daß sich dadurch die Zahl der zusammengefaßten Elemente gar auf 80 vergrößern würde? Die Versuche geben darauf eine unzweideutige Antwort. Wenn wir eine kürzere rhythmische Reihe, z. B. bloß einen einzigen 4/4 Takt, nach längerer Zeit, in der er unzweifelhaft aus dem von ganz anderen Dingen in Anspruch genommenen Bewußtsein verschwunden war, wiederholen, so erkennen wir ihn auch unter diesen Umständen deutlich wieder. Aber wir erkennen ihn offenbar nicht deshalb wieder, weil er selbst noch vorhanden wäre, sondern weil jede Taktform ein eigenartiges rhythmisches Gefühl erzeugt, das von dem einer beliebigen anderen Taktform charakteristisch verschieden ist. Dieses Gefühl reproduziert sich nun, sobald die gleiche Taktform wieder auf uns einwirkt. Diese bei einfacheren Reihen leicht zu beobachtende Erinnerungserscheinung, bei der das eigentlich erinnerte Objekt nicht die zusammengesetzte Vorstellung, sondern das dieser anhaftende Gefühl ist, ereignet sich nun genau in derselben Weise auch bei jener Wiederholung einer vielgliedrigen Reihe, nur daß hier die Zeit, die zwischen dem ersten Eindrucke und der Wiederholung verfließt, entsprechend der Komplikation eine wesentlich kürzere sein muß. Jene aus fünf Viervierteltakten aufgebaute Reihe hinterläßt nicht minder wie der einzelne Viervierteltakt ein rhythmisches Gefühl, nur ist dieses hier ein anderes als dort: es ist ein Totalgefühl 4), das auf einer Reihe rhythmischer Partialgefühle von verschiedener Ordnung sich aufbaut. Neben den Harmoniegefühlen sind es besonders die rhythmischen Gefühle, bei denen sich diese für das gesamte Gefühlsleben, von dem Gemeingefühl an bis zu den höheren ästhetischen, intellektuellen und sonstigen zusammengesetzten Gefühlswirkungen überaus wichtige Konstitution der Gefühle nachweisen läßt. Auch darf man in diesem Falle, gerade bei den rhythmischen Gefühlen, wohl erwarten, daß niemand ihre Existenz leugnen wird. Selbst der rücksichtsloseste Intellektualist muß ja zugeben, daß beim Anhören eines Rhythmus, bestehe er auch nur aus den gleichgültigen Taktschlägen des Metronoms, noch etwas anderes in unserem Bewußtsein ist, als eine Aufeinanderfolge von Schallempfindungen. Selbst die in solchen Fällen manchmal beliebte scholastische Verkleidung dieses Gefühlseindruckes in ein "Urteil" gibt schließlich der Sache nur einen anderen Namen, indem sie die möglicherweise bei dem reflektierenden Beobachter dem unmittelbaren Gefühl nachfolgende Beurteilung der objektiven Bedingungen desselben dem Gefühl selbst substituiert.

            4) Über Totalgefühle vgl. Physiol. Psychologie 5 II, S. 341 ff.

    Diese experimentellen Ergebnisse über den Umfang einer im Bewußtsein zusammengehaltenen rhythmischen Gesamtvorstellung und über das Totalgefühl, das als ihr Effekt zurückbleibt, rücken nun erst, wie ich glaube, jene Erscheinungen, die sich der Selbstbeobachtung bei der spontanen Gedankenbildung darbieten, in eine hellere Beleuchtung. Auch hier ist ja der Gedanke unbedingt als eine Gesamtvorstellung gegeben, und auch hier prägt sich der Inhalt dieser Gesamtvorstellung in der Form eines Totalgefühls aus, nur daß das letztere in diesem Falle, wie dies die veränderten Bedingungen mit sich bringen, nicht dem Eindrucke des Ganzen nachfolgt, sondern ihm vorausgeht. An die Stelle jenes rhythmischen Zusammenhanges der Glieder des Ganzen tritt aber hier ein logischer, von dem wir wohl voraussetzen dürfen, daß er nicht minder umfassend sein könne als jener. In Anbetracht der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des psychischen Lebens dürfen wir jedenfalls annehmen, daß die Ermittelungen über den Umfang des Bewußtseins für rhythmische Vorstellungen, möglicherweise mit Abweichungen, die durch den besonderen Charakter der psychischen Inhalte bedingt sind, aber in ihrem allgemeinen Resultate auch hier Anwendung finden. Nur kehrt sich, den veränderten Bedingungen entsprechend, das dort beobachtete Erlebnis bei der dem Gedanken vorausgehenden Gesamtvorstellung gewissermaßen um. Unter dem Zusammenwirken äußerer Eindrücke und latenter Dispositionen tritt die logische Gesamtvorstellung als Ganzes in das Bewußtsem. Als solches besteht sie aus dem gleichen Zusammenhange einzelner Vorstellungen, in die sie nachher das diskursive Denken in sukzessiver Apperzeption des Einzelnen gliedert. Aber sie ist mit allen diesen Teilen dunkel bewußt, und nur weil sie das ist, kann sie überhaupt als ein simultanes Ganzes gegeben sein, das durch das ihm eigene Totalgefühl, nicht selten aber auch, namentlich wenn der Prozeß der Gedankengliederung gehemmt wird, in einzelnen seiner Vorstellungselemente in den Blickpunkt des Bewußtseins eintritt. Die eigentliche Entwicklung oder, wie wir sie hier wohl bezeichnender nennen könnten, die Auswickelung des Gedankens, besteht nun in dem sukzessiven Erfassen der einzelnen Bestandteile der im Hintergrunde des Bewußtseins stehenden Gesamtvorstellung. Dabei kann dann dieser Prozeß namentlich bei zusammengesetzteren Gedankenbildungen durch aufstehende Assoziationen unterbrochen werden, die, als Elemente, die in jener dunkel bewußten Gesamtvorstellung noch nicht enthalten waren, durch die bei der lebendigeren Vergegenwärtigung der Einzelvorstellungen erwachenden reproduktiven Wirkungen hinzutreten. Solche sekundäre Assoziationen lassen sich sehr wohl schon in der Selbstbeobachtung von den bereits im Bewußtsein anwesenden, nur dunkler bewußten Gedankenelementen unterscheiden. Sie treten uns nicht, wie die ursprünglichen Gedankeninhalte, gewissermaßen als etwas Selbstverständliches, sondern als etwas Neues, nicht selten mit einem deutlichen Gefühle der Überraschung entgegen.

    Soweit reicht schon die durch die experimentelle Methode geschulte Selbstbeobachtung, wenn sie die anderweitig festgestellten experimentellen Resultate beachtet. Aber weiter reicht sie nicht. Um den Gesetzen auf die Spur zu kommen, nach denen sich der Gedanke gliedert, um die Beziehungen zu ermitteln, in denen seine Produktion zu den mitten in seine Gliederung hineintretenden und mit ihm sich verwebenden reproduktiven Elementen steht, dazu muß man den Gedankenausdruck in der Sprache zu Hilfe nehmen. Freilich hat man dabei nicht in der Weise der einseitig linguistischen Psychologie Sprechen und Denken identisch zu setzen, sondern dessen eingedenk zu sein, daß das Gesprochene lediglich eine äußere Wirkung des Gedachten ist, eine Wirkung, aus der wir erst unter Zuhilfenahme der Selbstbeobachtung auf ihre psychischen Ursachen zurückschließen dürfen. Daß letzteres nicht nur erlaubt, sondern geradezu notwendig ist, wenn wir den tiefer liegenden Problemen der Gedankenbildung näher treten wollen, ist einleuchtend. Finden sich doch alle jene Besonderheiten der Gedankenbildung, die sich der Selbstbeobachtung notwendig entziehen, oder die höchstens in unsicheren Fragmenten zu erhaschen sind, erst in dem Gedankenausdruck der Sprache als festere, gewissermaßen objektiv gewordene und dadurch unserer psychologischen Analyse ganz anders Stand haltende Formen. Doch ich kann es hier unterlassen, auf diesen dem gegenwärtigen Thema ferner liegenden und anderwärts von mir behandelten Gegenstand näher einzugehen.

    Die Frage, welches der beiden, auf verschiedenen Wegen der Selbstbeobachtung gewonnenen Ergebnisse das annehmbarere sei, das der Ausfrageexperimente, nach dem der Gedanke ein außer aller Beziehung zu den übrigen uns bekannten psychischen Inhalten stehendes Wesen ist, das sich aber schließlich dennoch, man weiß nicht wie, in das sinnliche Gewand von Vorstellungen und Worten kleiden kann, oder das andere, aus der ganz gewöhnlichen Selbstbeobachtung, aber unter Zuratehaltung der sonstigen Tatsachen der experimentellen Psychologie sich ergebende, wonach er von Anfang an das ist, als was er bei seiner Entwicklung durch unsere apperzeptive Tätigkeit erscheint, nur dunkel bewußt und zum Teil noch der später hinzutretenden reproduktiven Ergänzungen bar, dabei jedoch von Anfang an durch das an die Verbindung seiner Elemente gebundene Totalgefühl sich verratend, – welches dieser Ergebnisse das psychologisch wahrscheinlichere, um nicht zu sagen das psychologisch mögliche sei, diese Frage mag der Leser entscheiden. Die andere, ob die Ausfragemethode überhaupt geeignet sei, irgend welche brauchbaren Ergebnisse zu liefern, glaube ich oben hinreichend beantwortet zu haben. Ich fasse die Hauptpunkte noch einmal in wenigen Sätzen zusammen:

1) Die Ausfrageexperimente sind keine wirklichen Experimente, sondern Selbstbeobachtungen mit Hindernissen. Keine einzige der für psychologische Experimente aufzustellenden Forderungen trifft für sie zu, vielmehr verwirklichen sie das Gegenteil jeder dieser Forderungen.

2) Unter den alten Formen der Selbstbeobachtung repräsentieren sie die unvollkommenste: sie beschäftigen die Aufmerksamkeit des Beobachters mit einem unerwarteten, mehr oder minder schwierigen intellektuellen Problem und verlangen von ihm, daß er außerdem das Verhalten seines eigenen Bewußtseins beobachte.

3) Die Ausfragemethode ist in den beiden Formen ihrer Anwendung verwerflich: als Frage vor dem Versuch stellt sie die Selbstbeobachtung unter den für sie ungünstigsten Einfluß der Examenspresse; als Frage nach dem Versuch öffnet sie dem störenden Einfluß der Suggestion Tür und Tor; in beiden Formen beeinträchtigt sie die Selbstbeobachtung auf das empfindlichste dadurch, daß sie die Versuchsperson, die sich selbst beobachten soll, gleichzeitig der Beaufsichtigung anderer Personen unterwirft.

4) Die Vertreter der Ausfragemethode setzen sich über die altbewährte Regel hinweg, daß man, um zusammengesetzte Probleme zu lösen, zunächst mit den einfacheren vertraut sein muß, die jene voraussetzen. Infolgedessen verwechseln sie die Aufmerksamkeit mit dem Bewußtsein und verfallen dem populären Irrtum zu glauben, alles was im Bewußtsein vor sich gehe, könne man auch ohne weiteres in der Selbstbeobachtung verfolgen. Aus diesem letzteren Irrtum allein würde sich die Ergebnislosigkeit der Ausfrageexperimente schon zureichend erklären.

    Nur ungern habe ich mich zu diesen kritischen Erörterungen entschlossen. Die experimentelle Psychologie steckt begreiflicherweise noch in ihren Kinderschuhen, und ich fühle meinerseits nicht den Beruf in mir, allen Jugendsünden, deren sie sich dabei schuldig macht, nachzuspüren. Aber die Ausfragemethode hat eine Verbreitung gewonnen, die angesichts ihrer offenliegenden Schäden immerhin zum Nachdenken und zu ernster Prüfung herausfordert. Ich glaube, daß es hauptsächlich zwei Motive sind, die diese Verbreitung psychologisch verständlich machen. Das eine besteht in dem unbedingten Selbstvertrauen, das die Vertreter der Methode erfüllt. "Wenn man sich etwa auf die Bewußtseinsanalyse beruft", so lesen wir bei einem dieser Experimentatoren, "so erklären wir mit der größten Gemütsruhe: unsere Methoden sind besser als jene, also werden auch unsere Bewußtseinsanalysen die richtigeren sein" 5). Selbstvertrauen erweckt bekanntlich auch das Vertrauen anderer. Man kann sich also kaum wundern, wenn jemand, der über die Bedingungen der Zuverlässigkeit experimenteller Methoden nicht näher nachgedacht hat, diese Examensexperimente wirklich für vortreffliche Experimente hält. Wirksamer ist aber vielleicht noch das zweite Motiv. Diese Methode ist so ungeheuer einfach. Man braucht nur zu fragen und jemanden zu haben, der sich fragen läßt, so kann man über die tiefsten und höchsten Probleme des menschlichen Bewußtseins Aufschluß gewinnen, ohne sich mit komplizierten Instrumenten zu behelligen und ohne sich um seitabliegende Kontrollmittel zu bemühen. Angesichts dieser verlockenden Einfachheit, die sich gleichwohl mit dem stolzen Namen einer experimentellen, also exakten – denn experimentell und exakt gelten ja mitunter für identisch – Methode schmückt, halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß das Ausfrageexperiment noch weitere Kreise zieht, und daß im Gewand dieser Scheinexperimente die bedenklichste und seit lange glücklich für obsolet gehaltene Form der Selbstbeobachtung wieder ihren Einzug hält. Sind auch die eigentlichen Ausfrageexperimente gegenwärtig immerhin noch vereinzelte Erscheinungen, so gibt es doch andere, ihnen verwandte Verfahrungsweisen, wie z. B. die besonders von einigen französischen und amerikanischen Psychologen gelegentlich benutzte Sammlung von Selbstbeobachtungen mittels der Versendung von Fragebogen, die dieser Weiterführung der Ausfragemethode offenbar begünstigend entgegenkommen. Welche Triumphe wird aber erst diese Methode feiern, wenn sich die Pädagogik ihrer bemächtigt, wenn die Schulbank zugleich zur Experimentierbank wird, und der Lehrer, falls er sich beim Schulexamen erkundigt, was sich der Schüler bei seiner Antwort etwa noch nebenbei gedacht habe, in dem stolzen Bewußtsein leben kann, er habe ein psychologisches Experiment gemacht!

            5) Bühler. a. a. O. S. 27.