Untersuchungen zum Bewußtsein

Text: Maximilian Wontorra


Unter Bewußtsein versteht Wundt den gesamten Inhalt unserer unmittelbaren Erfahrung. Deshalb führen nach seiner Meinung alle Versuche, dieses Konzept psychologisch näher zu definieren, entweder zu Tautologien oder zur Bestimmung gewisser im Bewußtsein wahrgenommener Vorgänge, die selbst schon das Definiendum voraussetzen, mithin zirkulär werden.

Unter den psychischen Vorgängen, die nach Wundt ganz offenbar ein Bewußtsein voraussetzen, tritt für ihn zum einen die Bildung von Vorstellungen aus Sinneseindrücken, zum anderen das Kommen und Gehen der Vorstellungen und Gefühle besonders hervor. Zudem seien alle Vorstellungen zeitlich geordnet, d.h., alle Vorstellungen und Empfindungen stünden für uns in einer Vorher-nachher-Relation. Außerdem sei die Bildung von Assoziationen für das Bewußtsein charakteristisch.

Ein weiteres wichtiges Wundtsches Konzept, das mit dem Bewußtsein in Verbindung steht, ist die Aufmerksamkeit, die vom Subjekt mehr oder minder stark als eine Tätigkeit wahrgenommen wird, die mit Gefühlen assoziiert ist, die den Gefühlen gleicht, die wir im Zusammenhang mit Willensvorgängen empfinden. Die aktuellen Bewußtseinsinhalte sind in ihrer Gesamtheit nicht alle gleich präsent, sondern differieren in ihrem Grad der Bewußtheit. Die Veränderung der Bewußtseinsinhalte und die ständige Verschiebung des Bewußtseinsfokus sind nach Wundt als inneres Sehen der visuellen Wahrnehmung in vielem ähnlich. Die zu einem gegebenen Zeitpunkt im Bewußtsein gegenwärtigen Inhalte befänden sich nach dieser Analogie im Blickfeld des Bewußtseins, der oder die Inhalt(e), auf den/die die momentane Aufmerksamkeit gerichtet ist, stünden im inneren Blickpunkt. Der Eintritt einer Vorstellung in das innere Blickfeld sei als Perzeption, der Eintritt in den Blickpunkt als Apperzeption bezeichnet.

Um der Frage nachzugehen, wie viele disparate Elemente der apperzeptive Fokus simultan halte könne, produzierten Wundt und seine Mitarbeiter eine experimentell variierte Anzahl von Eindrücken und stellten fest, wie viele die Probanden nach der Exposition noch replizieren konnten. Dabei ergab sich eine relative kleine Zahl von vier bis sechs Elementen. Interessant ist hierbei, daß Wundt und Kollegen mit diesen Ergebnissen gut ein halbes Jahrhundert George A. Millers (1956) viel beachtete Untersuchung The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on Our Capacity for Processing Information vorweggenommen haben.

Methodisch wurden diese Untersuchungen für die visuelle Sinnesmodalität u.a. mit Hilfe eines sog. Falltachistoskops realisiert. Mit diesem Gerät wurde den Probanden für die Zeitdauer von 10-2 sec eine Gruppe von Stimuli in einem Sichtfenster dargeboten, und die Probanden mußten anschließend erklären, welche Stimuli sie gesehen hatten. Dabei ergab sich die oben genannte Replikationsquote, wobei die vier Elemente eher für die ungeübten, die sechs eher für die geübten Probanden standen. Die Probanden wurden in solcher Entfernung vor das Falltachistoskop gesetzt, daß die Stimulusgruppe im Sichtfenster in etwa nur den Ort des schärfsten Sehens, also die Fovea centralis, abdeckte. Die Expositionszeit wurde derart kurz gewählt, daß die von Wundt beobachteten sog. Aufmerksamkeitswellen - gleichsam automatisch ablaufende ständige Verschiebungen des Aufmerksamkeitsfokus - innerhalb dieses Zeitintervalls die Ergebnisse nicht drastisch verfälschen konnten.

Das Falltachistoskop (vgl. Abb. 1) bestand aus zwei vertikalen Messingsäulen von 1 m Länge und einem Abstand von 12 cm. In den einander zugekehrten Seiten der Säulen befand sich eine Nut, in der der sog. Fallschirm S aus geschwärztem Eisenblech lief. Dieser Fallschirm hatte ein Sichtfenster, dessen Höhe von 0 bis 50 cm variiert werden konnte. Vor Sitzungsbeginn war das Objekt O durch eine ebenfalls aus geschwärztem Eisenblech bestehende Blende B so verdeckt, daß deren weißer zentrischer Punkt sich mittig über dem Objekt befand und als Fixationspunkt diente. Bei Versuchsbeginn wurde der vorher mittels der höhenverstellbaren Elektromagnete E gehaltene Fallschirm losgelassen. Die Fallgeschwindigkeit des Schirms wurde über (a) die Fallhöhe, (b) das über eine Umlenkrolle R der Gewichtskraft entgegenwirkende Gewicht p sowie (c) über das in der Fallbewegung vom Tisch t aufgenommene Zusatzgewicht q reguliert. Die Expositionszeit konnte über die Fallgeschwindigkeit und die Fensteröffnung des Fallschirms variiert werden. Die Fallbewegung des Schirms wurde durch die Fangfedern C aufgefangen und gedämpft. Das schräg nach vorne geneigte Fangschild F hatte die durch den Fallschirm wegkatapultierte Blende aufzufangen. Nach einem Vorsignal wurde der Haltestrom der Elektromagneten unterbrochen, und der Fallschirm bewegte sich nach entsprechender Parameterjustierung mit der Geschwindigkeit nach unten, die die beabsichtigte Expositionsdauer von ca. 0,01 sec bei Normalsichtigkeit, ca. 0,02 sec bei verminderter Sehschärfe realisierte. Beim Auftreffen des Fallschirms auf die Blende wurde diese weggeschleudert, das Stimuli-Arrangement des Objekts wurde für die Zeit des Vorbeiziehens des Fallschirmfensters sichtbar und dann durch den oberen Teil des Fallschirms wieder verdeckt.

Falltachistoskop

Abb. 1:  Falltachistoskop

Bei Versuchen, in denen nicht nur ein Eindruck, sondern wenigstens zwei simultan oder zeitlich versetzt auf das Bewußtsein einwirken sollten, kam das in Abb. 2 gezeigte Spiegeltachistoskop nach Wirth zum Einsatz. Hierbei wurde dem Probanden ein Objekt O1 über einen auf einer rotierenden Scheibe sitzenden Spiegel eingespiegelt, und nach Versuchsplan wurde elektromechanisch ein sektorförmiger Spalt in der Rotationsscheibe geöffnet, so daß deckungsgleich an der Stelle des virtuellen Bildes des Objekts O1 das Objekt O2 sichtbar wurde. Damit konnte man bspw. systematische Variationen an einem Objekt vornehmen, indem man als O2 eine nur in einem Aspekt variierte und ansonsten gleiche Kopie des Objekts O1 verwandte.

Spiegeltachistoskop nach Wirth

Abb. 2:  Spiegeltachistoskop nach Wirth

Ein weiterer wichtiger Untersuchungsgegenstand war für Wundt der Verlauf von Vorstellungen im Bewußtsein. Um der Frage nachzugehen, wie weit ehemalige Bewußtseinsinhalte über die Zeit an Schärfe verlieren, wurde mit sog. reproduzierten Vorstellungen experimentiert, d.h., auf einen Sinneskanal wurden zwei durch ein Zeitintervall getrennte Reize appliziert, die entsprechende Vorstellungen anstießen. Aufgabe des Probanden war hierbei, den ersten, von Wundt sog. Normalreiz mit dem zweiten oder Vergleichsreiz hinsichtlich eines bestimmten Kriteriums zu vergleichen. Der Vergleichsreiz wurde systematisch variiert, und aus der Güte der Passungsschätzung wurde auf die Schärfe der Reproduktion des Normalreizes geschlossen.

Neben der Schätzung von räumlichen Relationen oder Klängen wurde hier auch der sog. Zeitsinn, nach Wundt ein eher unglücklich gewählter Begriff, alias: das Zeitgedächtnis untersucht. Hierzu wurden mit Hilfe des Zeitgedächtnisapparats zwei durch ein weiteres Intervall getrennte Zeitintervalle meist durch akustische Signale gesetzt. Der Proband hatte dann diese beiden Intervalle hinsichtlich ihrer Länge zu vergleichen. Zum jeweils ersten Intervall, der Normalzeit, wurde das zweite Intervall, die Vergleichszeit, variiert. Der Proband mußte Normalzeit und Vergleichszeit auf Gleichheit beurteilen.

Zeitgedächtnisapparat

Abb. 3:  Zeitgedächtnisapparat

In Abb.3 ist der Zeitgedächtnisapparat zu sehen, der im Wesentlichen aus einer von einem Uhrwerk angetriebenen, mit exakter Winkelgeschwindigkeit rotierenden und mit einer präzisen Winkeleinteilung versehenen Scheibe bestand (vgl. Abb. 4). Auf der Scheibe war ein Stift montiert, der an einer beliebigen Anzahl, in diesem Fall drei, auf einem statischen isolierten Ring angebrachten Auslösemechanismen vorbeizog und entsprechende Signale auslöste.

Zeitgedächtnisapparat in Draufsicht

Abb. 4:  Zeitgedächtnisapparat in Draufsicht

In Abb. 5 ist einer dieser Schalter aus Abb. 4 in einer Variante vergrößert dargestellt. Streifte der auf der rotierenden Scheibe montierte Stift den Fortsatz f, dann wurde der Stromfluß von + über K1, c, die Rückstellfeder t, K2, nach - unterbrochen. Sobald der Stift diesen Auslösemechanismus passiert hatte, sprang der Schalter aus seiner ausgelenkten Position f', c' wieder in seine ursprüngliche Position f, c zurück und der Stromfluß war wieder hergestellt. Man konnte das komplette System aber auch so schalten, daß der Stromfluß zunächst unterbrochen war und nur für die Zeit des Kontakts zwischen Stift und Fortsatz f geschlossen wurde, indem man den Pluspol der Spannungsquelle wie gehabt an K1 anschloß, den Minuspol aber über den Kontakt k2 in Abb. 3 ausführte. Somit wurde der Kreis +, K1, c, f, Stift, rotierende Scheibe, Scheibenachse, Scheibenhalterung, k2 und schließlich - geschlossen. Diesen kurzzeitigen Stromschluß konnte man dann bspw. einem sog. Schallhammer (vgl. Abb. 6) aufprägen und ein entsprechendes akustisches Signal als Start bzw. Ende des fraglichen Intervalls auslösen.

Schalter am Zeitgedächtnisapparat

Abb. 5:  Schalter am Zeitgedächtnisapparat

Im Normalfall wurde der Auslösestrom dem Schallhammer über die Kontakte 1 und 2 aufgeprägt. Wurde der Strom solchermaßen geschlossen, dann zog der Elektromagnet E den Hammerstiel an und der Hammer H prallte auf den Amboß A, was ein akustisches Signal bewirkte. Über die Regulierung der Spannung der Rückstellfeder f und über die Anpassung des Hammerwegs konnte die Signalstärke variiert werden.

Schallhammer

Abb. 6:  Schallhammer

Ein typischer Versuch wurde mit vier Schaltern am Zeitgedächtnisapparat ausgeführt. Das durch den ersten Schalter ausgelöste Hammersignal war der Start des Normalzeitintervalls, der zweite Hammerschlag war als Ende dieses Normalzeitintervalls zu sehen, der dritte Schlag war der Start des Vergleichszeitintervalls, der letzte dessen Ende. Das Normalzeitintervall blieb während einer Serie konstant, das Vergleichzeitintervall wurde hinsichtlich der Länge variiert.

Ein quantitatives Ergebnis einer solchen Versuchsbatterie mit einer genügend großen Variation auch der Normalzeitintervalle zeigt Abb. 7. Auf der Abszisse ist die Länge des Normalzeitintervalls aufgetragen, die Ordinate, deren Skalierung leider nicht gegeben ist, zeigt den sog. konstanten Fehler. Der Funktionsgraph besagt, daß kurze Normalzeitintervalle über-, längere unterschätzt werden. D.h.: Soll zu einem kurzen Normalzeitintervall ein subjektiv gleich langes Vergleichszeitintervall geschätzt werden, dann ist dieses systematisch länger als ersteres. Soll hingegen zu einem längeren Normalzeitintervall das subjektiv gleich lange Vergleichszeitintervall geschätzt werden, dann ist dieses systematisch kürzer als das Normalzeitintervall. An dem Punkt, an dem der Graph die Abszisse schneidet, also bei ca. 2 sec., deckt sich die Vergleichszeitschätzung mit der Normalzeit. Zudem ist dem (linear) fallenden Trend dieser Funktion noch eine Oszillation überlagert, die Wundt den oben angesprochenen periodischen Aufmerksamkeitsschwankungen zuschrieb.

Konstanter Fehler als Funktion der Länge des Normalzeitintervalls

Abb. 7:  Konstanter Fehler als Funktion der Länge des Normalzeitintervalls



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