"der
experimentellen Psychologie, die sich ihrer ursprünglichen Absicht
wie der ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmittel gemäß auf
die Tatsachen des individuellen Seelenlebens zu beschränken hatte,
eine Art Oberbau beizufügen, der sich, von diesen Tatsachen als unentbehrlichen
Grundlagen ausgehend, die Erscheinungen des menschlichen Zusammenlebens,
namentlich in ihren Anfängen, zur Aufgabe setzen müsse" (1920,
201).
Wir
wissen heute, dass WUNDT selbst diese beiden Psychologien zwar nacheinander
und dann nebeneinander entwickelte, aber weder ihm noch seinen Nachfolgern
gelang die Einheit bzw. Integration der beiden Psychologien, die ihm ursprünglich
in Heidelberg einmal vorgeschwebt hatte. Um dieser verfehlten Einheit nachzuspüren,
lenke ich Ihre Aufmerksamkeit auf die frühen sechziger Jahre, als
WUNDT in Heidelberg, dreißigjährig, seinen ersten Entwurf einer
wissenschaftlichen Psychologie in Vorlesungen und Veröffentlichungen
vorstellte. Ich erbitte Ihre Aufmerksamkeit für die beiden ersten
psychologischen Monographien WUNDT's, nämlich die "Beiträge zur
Theorie der Sinneswahrnehmung" von 1862 und die zweibändige "Vorlesung
über die Menschen- und Thierseele" von 1863. Diese beiden Werke, zusammen
fast 1500 Druckseiten stark, stellen WUNDT's ersten Entwurf einer wissenschaftlichen
Psychologie dar. Ihre Funktion war eine doppelte, einmal die der Abgrenzung
gegen das, was bisher "Psychologie" hieß, nämlich die metaphysisch-spekulative
Psychologie vor allem der Herbartianer, auch wenn diese sich bereits "naturwissenschaftlich"
nannte. Zum anderen waren diese frühen Publikationen und Vorlesungen
ein Programm für die Zukunft, ein Programm jedoch, das sich in dieser
Form nicht mehr im Koffer nach Zürich und Leipzig befand. WUNDT selbst
hat später von Leipzig aus dieses frühe Heidelberger Konzept,
leider sehr wortkarg, als "Jugendsünde" charakterisiert und in seinen
wesentlichen Positionen revoziert.
Um
diesen ersten Heidelberger Entwurf einer wissenschaftlichen Psychologie
aber würdigen zu können, schlage ich vor, WUNDT's späteren
Widerruf vorübergehend in Klammem zu setzen. Stellen wir uns außerdem
die Frage: Was wäre aus der Psychologie geworden, wenn nicht das spätere
in Leipzig realisierte, sondern dieses frühere Heidelberger Programm
realisiert worden wäre? Bevor wir uns das Programm genauer anschauen,
ein paar Daten, um ein Setting für 1862 zu gewinnen. Otto von BISMARCK
wird preußischer Ministerpräsident mit allen Folgen für
die Politik in Deutschland, an der WUNDT zeitlebens sehr engagierten Anteil
nahm. In den Naturwissenschaften stand die wissenschaftliche Diskussion
Anfang der sechziger Jahre unter dem Ereignis der Veröffentlichung
von Charles DARWIN's "Ursprung der Arten" (1859). Im gleichen Jahr hatten
in Heidelberg KIRCHHOFF und BUNSEN die Spektralanalyse entdeckt; 1860 hatte
Hermann von HELMHOLTZ, seit 1858 in Heidelberg, den zweiten Band des Handbuchs
der physiologischen Optik veröffentlicht; im gleichen Jahr FECHNER
die "Elemente der Psychophysik"; 1859 brachten LAZARUS und STEINTHAL die
"Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" heraus.
Wenn wir nun auf WUNDT und seine frühe Heidelberger Aktivität
schauen, so finden wir, dass seine Lehrtätigkeit, die ab SS 1857 einsetzte,
zwei Klassen von Lehrveranstaltungen anbot, nämlich einmal naturwissenschaftlich-medizinische
mit Titeln wie "Experimentelle Physiologie", "Medizinische Physik", "Mikroskopische
Anatomie" und zweitens anthropologische mit Titeln wie "Anthropologie",
"Ethnographie" oder "Naturgeschichte der Rassen und Völker" (erst
ab Zürich "Völkerpsychologie" genannt). Zwischen diesen beiden
Kategorien von Lehrveranstaltungen siedelte sich ab SS 62 die Psychologie
an und zwar zuerst als ein Kolleg "Psychologie vom naturwissenschaftlichen
Standpunkt". Das Kolleg hieß dann ab 1867/68 "Physiologische Psychologie",
später schlicht "Psychologie". Dieser erste Titel "Psychologie vom
naturwissenschaftlichen Standpunkt" kann an sich schon als ein Programm
angesehen werden, dessen erste Realisation sicher die beiden Bücher
von 1862 und 1963 waren. Welche Vorstellungen aber verband WUNDT mit der
Absicht, Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt und das hieß,
Psychologie endlich als Wissenschaft zu betreiben? Die Antwort, die er
selbst gibt, ist eindeutig: Er sagt, Psychologie gibt es seit ARISTOTELES,
und seit ARISTOTELES stagniert sie. Was fehlt, um aus der Psychologie eine
neuzeitliche Wissenschaft zu machen, ist ihre methodologische Erneuerung.
Die "Beiträge" von 1862 - und damit WUNDT's psychologisches Riesenoeuvre
- eröffnet ein Kapitel "Über die Methoden in der Psychologie".
Der Beginn dieses Kapitels lautet:
"Es
ist eine Lehre, die auf jeder Seite die Geschichte der Naturwissenschaften
uns einprägt, dass die Fortschritte jeder Wissenschaft innig an den
Fortschritt der Untersuchungsmethoden gebunden sind. Die ganze neuere Naturwissenschaft
hat aus einer Umwälzung der Methodik ihren Ursprung genommen ..."
(1862, XI).
An
dieser Umwälzung, an dieser Entwicklung überhaupt hatte die Psychologie
bisher keinen Anteil gehabt, weil sowohl ihre Themen wie vor allem ihre
Verfahrensweisen letztlich die der Metaphysik geblieben waren. Da Psychologie
schon als philosophische Disziplin mehr als andere eine Erfahrungswissenschaft
sein sollte, muss sie auf Tatsachen gegründet werden, und das sind
für die Psychologie primär die Tatsachen des Bewusstseins. Doch
davon, kritisierte WUNDT, sei bisher nur das bekannt, was die alleroberflächlichste
Betrachtung des Bewusstseins (Selbstbeobachtung) lieferte - über Jahrhunderte
kein Fortschritt.
An
dieser Stelle bringt WUNDT nun ein mir äußerst wichtig erscheinendes
Argument. Er sagt: Das Bewusstsein, das ich beobachten kann, und alles,
was in diesem Bewusstsein vorgeht, das sind bereits "verwickelte Phänomene"
(a.a.O., XIV). Wie überall in der Natur sind das, was sich unmittelbar
der Beobachtung bietet, komplizierte Erscheinungen, während das Einfache
uns zunächst verborgen bleibt (J. St. MILL 1843). Entscheidend aber
ist, wie WUNDT dieses Einfache kompliziert: "Dieses Einfache, auf das wir
erst durch die Zergliederung der zusammengesetzten Erscheinung kommen können,
das seinerseits aber uns die Prinzipien zur Erforschung dieser zusammengesetzten
Erscheinungen an die Hand gibt, sind in der Psychologie die Anfänge
des Seelenlebens, - und zwar die Anfänge im einzelnen beseelten Wesen,
sowohl wie in der ganzen Stufenleiter beseelter Geschöpfe ..." (1862,
XIV).
Um
diese Aufgabe der zergliedernden Analyse bewältigen zu können,
müssen, so schlägt WUNDT vor, der Psychologie zwei Wissenschaften
zur Hilfe kommen; die "Entwicklungsgeschichte der Seele und die
Vergleichende Psychologie. Jene hat die allmälige Ausbildung
beim Menschen zu verfolgen. Diese hat die Verschiedenheiten desselben darzustellen
in der Tierreiche und in den Völkerracen des Menschengeschlechts"
(ebda.).
Ich
finde nun, diese Argumentation impliziert eine dreifache theoretische und
methodologische Aussage. Einmal wird gesagt: das Bewusstsein, so wie wir
es beobachten, ist aus einfacheren Bestandteilen (Elementen) zusammengesetzt.
Zweitens: Wissenschaftliche Forschung ist die analytische Zergliederung
des Komplexen in seine einfacheren Bestandteile, und drittens: Dieses Einfache
ist zugleich das genetische Frühere. Die neue Psychologie, die es
zu begründen gilt, müsste also primär eine analytische,vergleichendeEntwicklungspsychologiesein.
Noch aber fehlen die genaueren methodischen Anweisungen, wie die so programmierte
Psychologie zu verfahren habe. Deshalb macht WUNDT zwei Vorschläge
zur methodologischen Erneuerung schon in der Einleitung zu seinen "Beiträgen"
von 1862: (1) Die bisherigen Beobachtungsmethoden zu erweitern, (2) das
Experiment als "Untersuchungshilfsmittel" beizuziehen. Diese Vorschläge
laufen faktisch hinaus auf die Entwicklung dreier methodischer Ansätze
zur Analyse komplexer psychologischer Phänomene:
A.
die experimentelle Methode,
B.
die statistische Methode,
C.
die (entwicklungs)geschichtliche Methode.
A.
Experiment
Auch
wenn unsere heutige Konzeption des Experiments in der Psychologie direkt
auf die WUNDT'sche zurückgeht - die Funktion. die Wilhelm WUNDT
damals dem Experiment zuwies, war mit Sicherheit eine andere. Unproblematisch
erscheint mir die auf Francis BACON (Novum Organum 1620) zurückgehende
Grundbedeutung; einmal in WUNDT's eigenen Worten: "Durch das Experiment
erzeugen wir die Erscheinung künstlich aus den Bedingungen heraus,
die wir in der Hand halten. Wir verändern diese Bedingungen und verändern
dadurch in messbarer Weise auch die Erscheinung" (1863 I, Vf.). Neben Willkür
(Planung) und Variation finden wir hier 1863 - explizit - Messung.
Dieses 3. Kriterium findet man nicht mehr in den späteren Definitionen,
in denen das Experiment - und Generationen von Psychologie-Studenten haben
diese Definitionen auswendig gelernt - definiert wird als die Beobachtung,
die sich mit der willkürlichen Einwirkung des Beobachters auf die
Entstehung und den Verlauf der zu beobachtenden Erscheinungen verbindet
(1918, 25). Für den Heidelberger WUNDT ist das Kriterium der Messbarkeit
wichtig. Sie finden in den frühen Schriften immer wieder Sätze
wie "Mit dem Experiment geht die Messung Hand in Hand ... Die Messung erst
findet die Konstanten der Natur, jene festen Zahlen, die alles Geschehen
beherrschen ... Die Zahlen ... sind das unentbehrliche Mittel zum letzten
Zweck der Untersuchung, denn erst die Zahlen können eine Einsicht
in die Gesetze des Geschehens eröffnen" (1863, VI).
Die
experimentellen Beispiele, die WUNDT für diese innige Verbindung von
Experiment und Messung beibringt, sind selbstverständlich WEBER's
Versuche über den Tastsinn (1846), FECHNER's "Elemente" (1860) und
HELMHOLTZ' ens Untersuchungen über den Gesichts- und Gehörssinn
und seine eigenen "Beiträge". Die Naturgesetze, um die es geht, sind
nur im Experiment zugänglich, "weil wir nur im Experiment gleichzeitig
die Ursachen und die Erfolge zu überschauen vermögen" (ebda.).
Man mag heute über die wissenschaftstheoretische Naivität der
Annahme lächeln, wenn einer nur lege artis experimentiere und Ursache-Wirkungszusammenhänge
herstelle und überprüfe, dann entdecke er Naturgesetze
quasi per inductionem. Aber wenn man sich die zu Beginn des 19. Jahrhunderts
herrschende spekulativ-deduktive, meist auch noch mathematische Psychologie
HERBART's und der Herbartianer vorstellt, gegen die WUNDT ausdrücklich
antrat, dann versteht man sein engagiertes Plädoyer für eine
induktiv-naturwissenschaftliche Psychologie. Methodologisch stimmen wir
heute sicher am ehesten mit WUNDT's erster Definition des Experimentes
überein. Weniger werden die meisten von uns aber geneigt sein, WUNDT's
ursprüngliche Zweckbestimmung des Experimentes zu übernehmen;
denn das Experiment soll Rückschlüsse ermöglichen auf die
Natur der unbewußten Seelenvorgänge. Der Heidelberger
WUNDT war nämlich nicht wie der spätere Leipziger Begründer
und Protagonist einer reinen Bewusstseinstheorie des Seelischen, in der
Psychisches und Bewusstsein zusammenfiel. Vielmehr vertrat WUNDT in seinen
Heidelberger Vorlesungen ab 1862 (S. FREUD war damals gerade 6 Jahre alt)
eine "Theorie der unbewussten Seelenprozesse". So lautet der offizielle
Titel, und auf diese Theorie sei hier kurz eingegangen. Zwei Momente sind
bereits schon erwähnt: (1) Was uns bewusst wird, das ist immer schon
etwas Komplexes, etwas Zusammengesetztes, und (2) das Einfache und das
Naturgesetz finden, heißt immer an den Anfang einer Entwicklung
zurückgehen. Auch für das Bewusstsein gilt das Gesetz der
Entwicklung: Aus Empfindungen werden Vorstellungen, aus Vorstellungen
entwickeln sich Begriffe, aber nun WUNDT selbst: "Was ins Bewusstsein kommt,
ist nur die fertige Arbeit ... Die eingehende Zergliederung der psychischen
Prozesse wird uns den Nachweis liefern, wie der Schauplatz der wichtigsten
Seelenvorgänge in der unbewussten Seele liegt. Überall weist
das Bewusstsein selbst auf die unbewusste Seele als die Voraussetzung alles
dessen, was im Bewusstsein geschieht ... Ich werde zeigen, dass das Experiment
in der Psychologie das Haupthilfsmittel ist, welches uns von den Tatsachen
des Bewusstseins auf jene Vorgänge hinleitet, die im dunklen Hintergrund
der Seele das bewusste Leben vorbereiten ..." (a. a. O., 5).
Bewusstsein
heißt also für den jungen WUNDT wesentlich, bewusst werden.
Den Prozess des Bewusstwerdens denkt sich WUNDT wie alle psychische Aktualität
von der Art des logischen Schlusses. Von unbewußten Schlüssen
in der Wahrnehmung hatte WUNDT schon relativ früh gesprochen, 1858,
kurz bevor HELMHOLTZ nach Heidelberg kam. Man mag BORING Recht geben, dass
die Lehre vom unbewussten Schluss in der Wahrnehmung schon deswegen eher
zu von HELMHOLTZ gehört als zu WUNDT, weil von HELMHOLTZ sie beibehielt,
während WUNDT sie später wieder aufgab (BORING 1950, 308 ff.)
- WUNDT hat immerhin in seiner Theorie von 1862/63 das unbewusste Schließen
zu einem Bildungsprinzip des Bewusstseins überhaupt gedacht und sich
damit in die Lage versetzt, eine einheitliche Theorie vorzulegen. Allen
psychischen Vorgängen kommt die logische Form des Schlusses zu (1863
I, 313). Damit aber, dass alle Vorgänge unbewußt sind
und alle Resultate bewußt sind, müssen wir auf unbewusste
Schlussformen selber schlussfolgern. Bis in die Theorie des Handelns und
des sittlichen Prozesses gilt, dass die Vorgänge alle in der Regel
unbewusst sind, während bewusst werdende und das heißt beobachtbare
Inhalte immer schon Ergebnisse dieser Prozesse sind. Hauptaufgabe der psychologischen
Untersuchung wird es deshalb, "die Erscheinungen des Bewusstseins aus jenen
unbewussten Prozessen, deren Resultate sie sind, herzuleiten". Damit verfährt
die Psychologie genau wie jede andere Naturwissenschaft: "sie schreitet
von den Tatsachen der unmittelbaren Beobachtung zu den Gesetzen vor,
welche die Tatsachen erklären" (1863 II, 310). Im Unterschied zur
späteren Theorie S. FREUD's werden allerdings unbewusst Seelisches
und Bewusstsein, und zwar in Aufnahme von LEIBNIZ'ens Gedanken, als kontinuierlich
und als ein und demselben Gesetz gehorchend aufgefasst. Das methodische
Haupthilfsmittel, das diese Theorie der unbewussten Seelenvorgänge
und des daraus resultierenden Bewusstseins erstellen helfen soll, ist,
wie gesagt, das Experiment.
B.
Statistik
Nun
ist das Experiment, weil es Gesetze entdeckt, als Haupthilfsmittel
notwendig, aber nicht zureichend. Die zweite methodische Erneuerung
der Psychologie besteht in der Erweiterung der Beobachtungsmethode. Was
versteht WUNDT hierunter? In dem besagten Kapitel "Über die Methoden
in der Psychologie" von 1862 wird als Paradigma für die erweiterte
Beobachtung die Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft genannt.
Das ist nicht Geschichte, sondern Gesellschaftslehre. sofern diese
- wie die Nationalökonomie - sich auf ein neues Fundament stellt.
Und dieses "Fundament besteht in der Feststellung einer großen Zahl
von Tatsachen durch die Statistik" (1862, XXIV). Als er dies in
Heidelberg lehrte und schrieb, stand WUNDT unter dem Eindruck, den der
belgische Astronom und Statistiker ADOLPHE QUETELET auf ihn gemacht hatte.
QUETELET hatte ja, vor allem in seinem Werk "Soziale Physik oder Abhandlung
über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen" (1835, dt.
1914) das LAPLACE-GAUSS'sche Gesetz der Normalverteilung von Fehlern auf
menschliche, (d. h. individuelle und soziale) Daten angewandt und mit "l'
homme moyen" den kontroversen statistischen Durchschnittsmenschen formuliert.
Psychologie-historisch bekannt und tradiert ist, wie 1869 durch Francis
GALTON's Geniestudien QUETELET's Statistik in die Differentielle Psychologie
und die Psychologische Methodenlehre überhaupt Eingang fand. WUNDT
hatte jedoch schon 1862 den Nutzen und die Funktion dieser "neuen Statistik"
erkannt, wenn er Sätze schrieb wie: "Es hat ... die neue Statistik,
so klein das was sie geleistet hat, ihrer ganzen Aufgabe gegenüber
erscheint, doch für den Psychologen schon ein äußerst reichhaltiges
Material geschaffen, das nur noch so gut wie unbenutzt geblieben ist. Es
kann aber auf diesem Wege für die Psychologie nicht nur Neues gewonnen
werden, sondern es hat diese Methode auch den unendlichen Vorteil, dass
sie an die Stelle vager Vermutungen eine unerschütterliche Gewissheit
setzt, dass sie nicht unbestimmte Folgerungen, sondern Schlüsse mit
mathematischer Sicherheit zu ziehen erlaubt" (1862, XXIV f.). Ja, die Begeisterung
für diese neuartige Technik statistischer Erhebungen reißt WUNDT
zu dem Ausruf hin: "Man kann ohne Übertreibung sagen, dass aus den
statistischen Ermittlungen sich mehr Psychologie lernen lässt als
aus allen Philosophen, den ARISTOTELES ausgenommen" (a.a.O., XXV).
Wie beim Experiment ist für uns heute von Interesse, welche Funktion
der 30jährige WUNDT der Statistik im Rahmen seiner Entwicklungstheorie
dem Psychischen zuweist. Statistik ist nämlich das methodologische
Instrument der naturgeschichtlichen Vorgehensweise, sofern diese über
das Individuum hinausgeht. Völker führen ein naturgeschichtliches
Dasein, das "in allen seinen Erscheinungen von dem Zustand der gesamten
Gesellschaft abhängig ist" (a.a.O., XXVI). Diese Gesetzlichkeit zu
finden, bedürfen wir der Statistik. Denn ebenso wie das Experiment
dazu dient, die Erscheinungen des individuellen Bewusstseins und damit
die Selbstbeobachtung aller Zufälligkeiten zu entkleiden, leistet
dies die Statistik für die Beobachtung.
Überall,
wo das Material der Beobachtungen ausreicht, da macht hier das Gesetz der
großen Zahl sich geltend, d. h., einzelne Abweichungen, die wir dem
Zufall oder der individuellen Willkür zuschieben, heben sich auf,
und das naturgeschichtliche Gesetz findet seinen vollkommen klaren Ausdruck.
Der Statistiker, indem er eine möglichst große Zahl von Fällen
zusammensucht, verfährt genauso wie der naturwissenschaftliche
Beobachter, der durch Häufung seiner Beobachtungen oder Versuche den
Ergebnissen erst die genügende Sicherheit gibt, und hierin ist die
statistische Methode nahe verwandt dem zweiten Hilfsmittel, das wir in
den psychologischen Untersuchungen für notwendig halten" (1862, XXVI
f.). Das zweite Hilfsmittel ist das Experiment.
Es
wäre jetzt sehr reizvoll und zur Korrektur des in den Geschichtsbüchern
tradierten WUNDT-Bildes auch notwendig, im einzelnen zu zeigen, wo und
wie WUNDT die Statistik als Ergänzung und als Ersatz des Experiments
einzusetzen vorsah. Ich muss mich mit einem Hinweis begnügen: Grundsätzlich
soll die Statistik überall da einsetzen, wo die Beschränkung
auf das "Einzelbewusstsein" unzureichend ist, bei Denken, Fühlen,
Wollen, sprachlichem und sittlichem Handeln. Und einen Rekurs auf statistische
Daten finden wir deshalb in den Vorlesungen von 1863, angefangen von der
Wortstatistik (zur Bestimmung der Menge "disponibler Vorstellungen";
wir würden heute vom aktiven Wortschatz sprechen) bis hin zur Eheschließungs-
und Kriminalstatistik (etwa zur Bestimmung des "sozialen Zustands eines
Volks"), den WUNDT als ein Moment bezeichnete, "das auf die Handlungen
des Willens von wesentlichem Einfluss ist" (1863, II, 410). Schließlich
gilt für den frühen WUNDT'schen Ansatz zu einer Handlungstheorie
(II,
398 ff.): "Handlungen jeder Art folgen einem bestimmten Zahlengesetz, das
durch keine Willkür der Einzelnen sich abändern lässt" (a.a.O.,
411). D. h., Ursachen des Handelns sind, wie uns die Statistik nachweist,
im "gesellschaftlichen Zustand eines Volkes" begründet. Wiederum treten
für das Handeln des Einzelnen innere Ursachen hinzu, über die
uns allerdings die Statistik keinerlei Aussagen machen kann. Wir sehen,
Statistik und Experiment werden in dieser Psychologie als konvergierende
Operationen aufgefasst.
C.
Entwicklungsgeschichte
Beide
Verfahren stehen, wie uns die Frühschriften immer wieder bekräftigen,
im Dienste der Entwicklungsgeschichte der Seele. Obwohl sich das
Konzept der psychischen Entwicklung und ihrer Gesetze durch das ganze Werk
bis zu seinem Lebensende durchgehalten hat, ohne dass WUNDT darüber
zum Entwicklungspsychologen geworden wäre, machen die Heidelberger
"Beiträge" und "Vorlesungen" in sehr ursprünglicher Form deutlich,
worum es WUNDT mit seinem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz geht.
Ich möchte abschließend versuchen, auch diese methodologische
und theoretische Perspektive kurz zu verdeutlichen; denn Entwicklung und
Geschichte gehen für den späteren und den heutigen Psychologen
nicht notwendig eine Ehe ein.
Erinnern
wir uns, dass alle wissenschaftliche Erklärung von der Beobachtung
des Komplexen zergliedernd zurückgeht auf das Ursprüngliche,
anfängliche Einfache. Der Aufweis des Einfachen als Ursache oder Element
des Zusammengesetzten ist zugleich der Nachweis eines Naturgesetzes. Die
Arbeiten von 1862/63 machen nun, ohne dass "Entwicklungsgeschichte" explizit
definiert wird, deutlich, welche Art Analysen gemeint ist. Entwicklung
findet sich auf drei analytischen Ebenen; um es in heutigen Begriffen zu
sagen: als Aktualgenese, Ontogenese und Phylogenese. Aktualgenetisch kommt
es, wie schon gesagt, darauf an, die einzelnen Bewusstseinsinhalte als
Resultate unbewusster Prozesse zu verstehen, ontogenetisch und phylogenetisch
geht es darum, das Gesetz der Entwicklung der psychischen Funktionen auseinander
zu prüfen, wie etwa Begriffe sich aus Vorstellungen, Vorstellungen
aus Empfindungen entwickeln. Unter dem Eindruck der DARWIN'schen Evolutionstheorie,
und noch vor der entscheidenden Publikation von H. SPENCER (1870/72), postuliert
WUNDT schon Anfang der 60er Jahre für die Entwicklung des Psychischen
ein Kontinuitätsprinzip, wonach die Gesetze der geistigen Entwicklung
für alle "mit Empfindung begabten lebenden Wesen" die gleichen
sind. Die "Gleichartigkeit des geistigen Lebens", die vom Schmetterling
bis zum Wissenschaftler reiche (WUNDT 1863, I, 458), gestatte nur, eine
gradweise Abstufung der Intelligenz festzustellen. Notwendig wird dadurch
die Tierpsychologie zu einem Teilgebiet der Allgemeinen Psychologie.
Ohne die These von der Kontinuität aller Entwicklung wäre es
allerdings auch nicht zulässig, "aus Beobachtungen am entwickelten
Menschen" Rückschlüsse auf Entwicklungsgesetze bzw. ursprüngliche
Formen zu machen. Erst Heinz WERNER (1926) hat in diesem Jahrhundert wieder
Aktual-, Onto- und Phylogenese in seinem Entwicklungskonzept so konsequent
zusammengefasst und erst F. KRUEGER (1915) hat einen für biologische,
soziale und kulturelle Prozesse verbindlichen Entwicklungsbegriff wieder
eingeführt. WUNDT aber ging noch einen Schritt weiter, zur Entwicklungsgeschichte.
An den höheren psychischen Funktionen macht er immer wieder deutlich,
wie das Einzelbewusstsein auch durch Tradition, d. h. historisch geworden
ist. Am Beispiel der Psychologie des Gewissens wird deutlich, was WUNDT
meinte, wenn er sagte, wo das Experiment versagt, hat die Geschichte für
uns experimentiert: "Es ist eine uns allen geläufige Erfahrung, dass
der Einzelne eine Menge fertiger sittlicher Ideen durch Erziehung und Unterricht
überliefert erhält. Sie nimmt er zur Grundlage, auf welcher sich
sein selbständiges sittliches Leben weiter entwickelt. Die unmittelbare
Beobachtung weist uns also schon hinaus auf die Gesamtheit, auf den sittlichen
Prozess im geschichtlichen Leben der Völker. Nur wenn wir auf dieses
die psychologische Untersuchung ausdehnen, wird es uns möglich werden,
in alle jene Momente, welche die Tatsachen der Sittlichkeit konstituieren,
einen Einblick zu gewinnen, und danach auch den Prozess, aus dem das sittliche
Gefühl entspringt, im Bewusstsein zu rekonstruieren" (1863, II, 119).
Und tatsächlich geht in den "Vorlesungen" von 1863 der Beschreibung
des sittlichen Gefühls voraus eine Darstellung der verschiedenen Formen
des sittlichen Lebens vom Kannibalismus bis zum Christentum, der Sittlichkeit
in Familie und Staat.
All
dies wird nicht als ein Beitrag zu einer Sozialpsychologie oder "Völkerpsychologie"
gedacht, sondern ausdrücklich
als eine methodische Vorgehensweise
der individuellen bzw. Allgemeinen Psychologie (1863, II,
452); denn es geht um die "allgemeinen Gesetze des psychischen Geschehens"!
Halten wir zusammenfassend fest: Die allgemeine Psychologie, die Wilhelm
WUNDT als junger Heidelberger Dozent der Öffentlichkeit vorstellte,
enthält Charakteristika, theoretische wie methodologische, die WUNDT's
spätere und alleine einflussreiche Psychologie nicht mehr aufwies.
Und es ist unverkennbar, wenn auch nur programmatisch, dass diese Heidelberger
Psychologie WUNDT's, von der er sich später als einer Jugendsünde
distanzierte, wäre sie je entwickelt bzw. ausgearbeitet worden, zu
einer sehr viel reichhaltigeren und einheitlicheren Psychologie geführt
hätte, als es die nach-WUNDT'sche geworden ist und blieb. Entstanden
wäre aus dem "Heidelberger Modell" eine evolutionär und historisch
orientierte Sozio-Psychologie des bewußten und unbewußten Seelenlebens
und Handelns, d. h. eine Wissenschaft, wie sie von manchem Kritiker
der heutigen Psychologie angestrebt bzw. gefordert wird.
Das
Bedauerlichste für die tatsächliche Geschichte der Psychologie:
Alle diese vom jungen WUNDT für wichtig erachteten Aspekte psychologischer
Forschung sind entwickelt und ausgearbeitet worden, nur zum großen
Teil außerhalb der Psychologie und, nicht selten, in Absetzung von
und Ablehnung der Psychologie:
-
Die nachfolgende Verselbständigung des Evolutionskonzeptes hat
zu einer Ethologie geführt, die sich ironischerweise auch Verhaltensforschung
nennt.
-
Die nachfolgende Vernachlässigung der historischen Dimension ist in
weiten Bereichen der Psychologie unbewältigt; nach dem Scheitern der
"Verstehenden Psychologie" sind gegenwärtig die historisch-materialistische
Psychologie, die kritische Psychologie HOLZKAMP's, GERGEN's
Alternative, Sozialpsychologie historisch (statt naturwissenschaftlich)
zu betreiben, entsprechende Bemühungen, die dominante Weiterentwicklung
der "Physiologischen Psychologie" in einer umfassenderen Konzeption aufzuheben.
Die naturgeschichtlich arbeitende "Völkerpsychologie" hat eher
auf Ethnologie, Kulturanthropologie, Ethnographie gewirkt als auf die Psychologie,
incl. Sozialpsychologie.
-
Die nachfolgende Vernachlässigung statistischer Erhebungstechniken
zu demographischen Zwecken bzw. zur Bestimmung des "sozialen Zustandes"
eines Volkes hat der sich ja erst später entwickelnden Soziologie
ein Hauptinstrument und einen zentralen und stattlichen Forschungsbereich
eingebracht.
-
WUNDT's Verzicht schließlich, sich spätestens ab Erscheinen
seiner noch in Heidelberg abgeschlossenen "Grundzüge der physiologischen
Psychologie", also ab 1873/74, um das unbewusste Seelenleben zu kümmern
und es nur noch als das Dispositionalpsychische zu berücksichtigen,
führte mit zu der Sezession einer eigenständigen Psychologie
des Unbewussten, die allerdings dann in Form der Psychoanalyse das
Bewusstsein unseres Jahrhunderts auf ihre Weise stärker verändert
hat als die sich verengende Bewusstseinspsychologie.
Die
Folge dieser Sezessionen: Wer heute als Psychologe ein nur halbwegs komplexes
Problem anpackt, findet sich schon sehr bald genötigt, mit einer dieser
Nachbarwissenschaften Kontakt aufzunehmen, womit sich ihm das leidige Problem
der Interdisziplinarität stellt, das zu
vermeiden alleine die Realisation
des Heidelberger Programms wert gewesen wäre.
Wir
können heute, auf WUNDT's Leben und auf über einhundert Jahre
wissenschaftliche Psychologie zurückblickend, verstehen, woran WUNDT's
Heidelberger Programm einer Psychologie gescheitert ist, nämlich an
dem logischen Prinzip des (unbewussten) Schlusses, das zwar WUNDT's erster
Psychologie die theoretische Einheit gab, sich aber wohl nicht als tragfähig
genug erwies. Das methodologische Programm aber, nämlich: Beobachtung,
Experiment, Statistik und Geschichte zu Hilfsmitteln der psychologischen
Untersuchung zu machen, und zwar schon für die Allgemeine Psychologie,
wäre tragfähiger gewesen als die nachfolgende Einengung. Nach
120 Jahren sind wir, glaube ich, wieder so weit, dass wir bereit sind,
nicht nur, wie wir das heute nennen, zwischen "Labor" und "Feld" hin und
her zu gehen, um so Beobachtung, Experiment und Erhebung zu konvergierenden
Operationen zu machen, auch die evolutionäre und historische Gewordenheit
psychologischer und sozialer Phänomene sollte ein internes Problem
psychologischer Untersuchung sein können. Schaffen wir das, dann wäre
schließlich WUNDT's Heidelberger Programm einer Psychologie trotz
seines Widerrufs doch noch realisiert.
WUNDT
selber war, wie ich schon sagte, bis in seine Biographie hinein recht wortkarg
über seine Heidelberger "Jugendsünde". Ich möchte deshalb
schließen mit einem fast prognostischen Satz des 30jährigen
WUNDT (aus den "Vorlesungen"). Er lautet: "Der fertige Mann, der von den
mancherlei Wegen, nach denen das gährende Gemüt des Jünglings
bewusst und unbewusst verlangte, viele bei Seite hat liegen lassen und
nur einige sicher in's Auge fasst, hat sein Inneres hermetisch abgeschlossen,
nicht weil er die Begierden unterdrückt hat ..., sondern weil er den
Begierden erreichbare Ziele gesetzt hat ..." (II, 330).
WUNDT
hat mit seinem in Leipzig ausgearbeiteten System einer Allgemeinen Psychologie
auf experimenteller Grundlage ein Ziel erreicht, was ihm mit Recht einen
wichtigen und bleibenden Platz in der Geschichte der wissenschaftlichen
Psychologie gesichert hat. Der Exkurs in die Heidelberger Vergangenheit
und Jugend Wilhelm WUNDT's sollte lediglich daran erinnern, welche anderen
Zielsetzungen und Möglichkeiten die damals sich bildende Psychologie
gehabt hat, die erst später, zum Teil sogar gegen (den älteren)
WUNDT, wiederentdeckt und realisiert werden mussten.
Literaturverzeichnis
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