CARL F. GRAUMANN, Heidelberg

WUNDT vor Leipzig - Entwürfe einer Psychologie

Als Wilhelm WUNDT im Jahre 1875 in Leipzig eintraf, brachte er als Frucht seiner siebzehnjährigen Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Heidelberg eine Konzeption der Psychologie mit, die für seine Leipziger Tätigkeit bis zum Jahre 1920 verbindlich bleiben sollte. Sie bestand einmal in den noch in Heidelberg abgeschlossenen und bereits veröffentlichten "Grundzügen der physiologischen Psychologie" von 1873/74, zum anderen in dem auf die frühen sechziger Jahre zurückgehenden Plan

"der experimentellen Psychologie, die sich ihrer ursprünglichen Absicht wie der ihr zur Verfügung stehenden Hilfsmittel gemäß auf die Tatsachen des individuellen Seelenlebens zu beschränken hatte, eine Art Oberbau beizufügen, der sich, von diesen Tatsachen als unentbehrlichen Grundlagen ausgehend, die Erscheinungen des menschlichen Zusammenlebens, namentlich in ihren Anfängen, zur Aufgabe setzen müsse" (1920, 201).

Wir wissen heute, dass WUNDT selbst diese beiden Psycholo­gien zwar nacheinander und dann nebeneinander entwickelte, aber weder ihm noch seinen Nachfolgern gelang die Einheit bzw. Integration der beiden Psychologien, die ihm ursprünglich in Heidelberg einmal vorgeschwebt hatte. Um dieser verfehlten Einheit nachzuspüren, lenke ich Ihre Aufmerksamkeit auf die frühen sechziger Jahre, als WUNDT in Heidelberg, dreißigjährig, seinen ersten Entwurf einer wissenschaft­lichen Psychologie in Vorlesungen und Veröffentlichungen vorstellte. Ich erbitte Ihre Aufmerksamkeit für die beiden ersten psychologischen Monographien WUNDT's, nämlich die "Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung" von 1862 und die zweibändige "Vorlesung über die Menschen- und Thierseele" von 1863. Diese beiden Werke, zusammen fast 1500 Druckseiten stark, stellen WUNDT's ersten Entwurf einer wissenschaftlichen Psychologie dar. Ihre Funktion war eine doppelte, einmal die der Abgrenzung gegen das, was bisher "Psychologie" hieß, nämlich die metaphysisch-spekulative Psychologie vor allem der Herbartianer, auch wenn diese sich bereits "naturwissenschaftlich" nannte. Zum anderen waren diese frühen Publikationen und Vorlesungen ein Programm für die Zukunft, ein Programm jedoch, das sich in dieser Form nicht mehr im Koffer nach Zürich und Leipzig befand. WUNDT selbst hat später von Leipzig aus dieses frühe Heidelberger Konzept, leider sehr wortkarg, als "Jugendsünde" charakterisiert und in seinen wesentlichen Positionen revoziert.

Um diesen ersten Heidelberger Entwurf einer wissenschaft­lichen Psychologie aber würdigen zu können, schlage ich vor, WUNDT's späteren Widerruf vorübergehend in Klammem zu setzen. Stellen wir uns außerdem die Frage: Was wäre aus der Psychologie geworden, wenn nicht das spätere in Leipzig realisierte, sondern dieses frühere Heidelberger Programm realisiert worden wäre? Bevor wir uns das Programm genauer anschauen, ein paar Daten, um ein Setting für 1862 zu gewinnen. Otto von BISMARCK wird preußischer Ministerpräsident mit allen Folgen für die Politik in Deutschland, an der WUNDT zeitlebens sehr engagierten Anteil nahm. In den Naturwissenschaften stand die wissenschaftliche Diskussion Anfang der sechziger Jahre unter dem Ereignis der Veröffentlichung von Charles DARWIN's "Ursprung der Arten" (1859). Im gleichen Jahr hatten in Heidelberg KIRCHHOFF und BUNSEN die Spektralanalyse entdeckt; 1860 hatte Hermann von HELMHOLTZ, seit 1858 in Heidelberg, den zweiten Band des Handbuchs der physiologischen Optik veröffentlicht; im gleichen Jahr FECHNER die "Elemente der Psychophysik"; 1859 brachten LAZARUS und STEINTHAL die "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" heraus. Wenn wir nun auf WUNDT und seine frühe Heidelberger Aktivität schauen, so finden wir, dass seine Lehrtätigkeit, die ab SS 1857 einsetzte, zwei Klassen von Lehrveranstaltungen anbot, nämlich einmal naturwissenschaftlich-medizinische mit Titeln wie "Experimentelle Physiologie", "Medizinische Physik", "Mikroskopische Anatomie" und zweitens anthropologische mit Titeln wie "Anthropologie", "Ethnographie" oder "Naturgeschichte der Rassen und Völker" (erst ab Zürich "Völkerpsychologie" genannt). Zwischen diesen beiden Kategorien von Lehrveranstaltungen siedelte sich ab SS 62 die Psychologie an und zwar zuerst als ein Kolleg "Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt". Das Kolleg hieß dann ab 1867/68 "Physiologische Psychologie", später schlicht "Psychologie". Dieser erste Titel "Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt" kann an sich schon als ein Programm angesehen werden, dessen erste Realisation sicher die beiden Bücher von 1862 und 1963 waren. Welche Vorstellungen aber verband WUNDT mit der Absicht, Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt und das hieß, Psychologie endlich als Wissenschaft zu betreiben? Die Antwort, die er selbst gibt, ist eindeutig: Er sagt, Psychologie gibt es seit ARISTOTELES, und seit ARISTOTELES stagniert sie. Was fehlt, um aus der Psychologie eine neuzeitliche Wissenschaft zu machen, ist ihre methodologische Erneuerung. Die "Beiträge" von 1862 - und damit WUNDT's psychologisches Riesenoeuvre - eröffnet ein Kapitel "Über die Methoden in der Psychologie". Der Beginn dieses Kapitels lautet:

"Es ist eine Lehre, die auf jeder Seite die Geschichte der Naturwissenschaften uns einprägt, dass die Fortschritte jeder Wissenschaft innig an den Fortschritt der Untersuchungsmethoden gebunden sind. Die ganze neuere Naturwissenschaft hat aus einer Umwälzung der Methodik ihren Ursprung genommen ..." (1862, XI).

An dieser Umwälzung, an dieser Entwicklung überhaupt hatte die Psychologie bisher keinen Anteil gehabt, weil sowohl ihre Themen wie vor allem ihre Verfahrensweisen letztlich die der Metaphysik geblieben waren. Da Psychologie schon als philosophische Disziplin mehr als andere eine Erfahrungswissenschaft sein sollte, muss sie auf Tatsachen gegründet werden, und das sind für die Psychologie primär die Tatsachen des Bewusstseins. Doch davon, kritisierte WUNDT, sei bisher nur das bekannt, was die alleroberflächlichste Betrachtung des Bewusstseins (Selbstbeobachtung) lieferte - über Jahrhunderte kein Fortschritt.

An dieser Stelle bringt WUNDT nun ein mir äußerst wichtig erscheinendes Argument. Er sagt: Das Bewusstsein, das ich beobachten kann, und alles, was in diesem Bewusstsein vorgeht, das sind bereits "verwickelte Phänomene" (a.a.O., XIV). Wie überall in der Natur sind das, was sich unmittelbar der Beobachtung bietet, komplizierte Erscheinungen, während das Einfache uns zunächst verborgen bleibt (J. St. MILL 1843). Entscheidend aber ist, wie WUNDT dieses Einfache kompliziert: "Dieses Einfache, auf das wir erst durch die Zergliederung der zusammengesetzten Erscheinung kommen können, das seinerseits aber uns die Prinzipien zur Erforschung dieser zusammengesetzten Erscheinungen an die Hand gibt, sind in der Psychologie die Anfänge des Seelenlebens, - und zwar die Anfänge im einzelnen beseelten Wesen, sowohl wie in der ganzen Stufenleiter beseelter Geschöpfe ..." (1862, XIV). 

Um diese Aufgabe der zergliedernden Analyse bewältigen zu können, müssen, so schlägt WUNDT vor, der Psychologie zwei Wissenschaften zur Hilfe kommen; die "Entwicklungsgeschichte der Seele und die Vergleichende Psychologie. Jene hat die allmälige Ausbildung beim Menschen zu verfolgen. Diese hat die Verschiedenheiten desselben darzustellen in der Tierreiche und in den Völkerracen des Menschengeschlechts" (ebda.). 

Ich finde nun, diese Argumentation impliziert eine dreifache theoretische und methodologische Aussage. Einmal wird gesagt: das Bewusstsein, so wie wir es beobachten, ist aus einfacheren Bestandteilen (Elementen) zusammengesetzt. Zweitens: Wissenschaftliche Forschung ist die analytische Zergliederung des Komplexen in seine einfacheren Bestandteile, und drittens: Dieses Einfache ist zugleich das genetische Frühere. Die neue Psychologie, die es zu begründen gilt, müsste also primär eine analytische,vergleichendeEntwicklungspsychologiesein. Noch aber fehlen die genaueren methodischen Anweisungen, wie die so programmierte Psychologie zu verfahren habe. Deshalb macht WUNDT zwei Vorschläge zur methodologischen Erneuerung schon in der Einleitung zu seinen "Beiträgen" von 1862: (1) Die bisherigen Beobachtungsmethoden zu erweitern, (2) das Experiment als "Untersuchungshilfsmittel" beizuziehen. Diese Vorschläge laufen faktisch hinaus auf die Entwicklung dreier methodischer Ansätze zur Analyse komplexer psychologischer Phänomene:

A. die experimentelle Methode,

B. die statistische Methode,

C. die (entwicklungs)geschichtliche Methode.

A. Experiment

Auch wenn unsere heutige Konzeption des Experiments in der Psychologie direkt auf die WUNDT'sche zurückgeht - die Funktion. die Wilhelm WUNDT damals dem Experiment zuwies, war mit Sicherheit eine andere. Unproblematisch erscheint mir die auf Francis BACON (Novum Organum 1620) zurückgehende Grundbedeutung; einmal in WUNDT's eigenen Worten: "Durch das Experiment erzeugen wir die Erscheinung künstlich aus den Bedingungen heraus, die wir in der Hand halten. Wir verändern diese Bedingungen und verändern dadurch in messbarer Weise auch die Erscheinung" (1863 I, Vf.). Neben Willkür (Planung) und Variation finden wir hier 1863 - explizit - Messung. Dieses 3. Kriterium findet man nicht mehr in den späteren Definitionen, in denen das Experiment - und Generationen von Psychologie-Studenten haben diese Definitionen auswendig gelernt - definiert wird als die Beobachtung, die sich mit der willkürlichen Einwirkung des Beobachters auf die Entstehung und den Verlauf der zu beobachtenden Erscheinungen verbindet (1918, 25). Für den Heidelberger WUNDT ist das Kriterium der Messbarkeit wichtig. Sie finden in den frühen Schriften immer wieder Sätze wie "Mit dem Experiment geht die Messung Hand in Hand ... Die Messung erst findet die Konstanten der Natur, jene festen Zahlen, die alles Geschehen beherrschen ... Die Zahlen ... sind das unentbehrliche Mittel zum letzten Zweck der Untersuchung, denn erst die Zahlen können eine Einsicht in die Gesetze des Geschehens eröffnen" (1863, VI).

Die experimentellen Beispiele, die WUNDT für diese innige Verbindung von Experiment und Messung beibringt, sind selbstverständlich WEBER's Versuche über den Tastsinn (1846), FECHNER's "Elemente" (1860) und HELMHOLTZ' ens Untersuchungen über den Gesichts- und Gehörssinn und seine eigenen "Beiträge". Die Naturgesetze, um die es geht, sind nur im Experiment zugänglich, "weil wir nur im Experiment gleichzeitig die Ursachen und die Erfolge zu überschauen vermögen" (ebda.). Man mag heute über die wissenschaftstheoretische Naivität der Annahme lächeln, wenn einer nur lege artis experimentiere und Ursache-Wirkungszusammenhänge herstelle und überprüfe, dann entdecke er Naturgesetze quasi per inductionem. Aber wenn man sich die zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschende spekulativ-deduktive, meist auch noch mathematische Psychologie HERBART's und der Herbartianer vorstellt, gegen die WUNDT aus­drücklich antrat, dann versteht man sein engagiertes Plädoyer für eine induktiv-naturwissenschaftliche Psychologie. Methodologisch stimmen wir heute sicher am ehesten mit WUNDT's erster Definition des Experimentes überein. Weniger werden die meisten von uns aber geneigt sein, WUNDT's ursprüngliche Zweckbestimmung des Experimentes zu übernehmen; denn das Experiment soll Rückschlüsse ermöglichen auf die Natur der unbewußten Seelenvorgänge. Der Heidelberger WUNDT war nämlich nicht wie der spätere Leipziger Begründer und Protagonist einer reinen Bewusstseinstheorie des Seelischen, in der Psychisches und Bewusstsein zusammenfiel. Vielmehr vertrat WUNDT in seinen Heidelberger Vorlesungen ab 1862 (S. FREUD war damals gerade 6 Jahre alt) eine "Theorie der unbewussten Seelenprozesse". So lautet der offizielle Titel, und auf diese Theorie sei hier kurz eingegangen. Zwei Momente sind bereits schon erwähnt: (1) Was uns bewusst wird, das ist immer schon etwas Komplexes, etwas Zusammengesetztes, und (2) das Einfache und das Naturgesetz finden, heißt immer an den Anfang einer Ent­wicklung zurückgehen. Auch für das Bewusstsein gilt das Gesetz der Entwicklung: Aus Empfindungen werden Vorstellungen, aus Vorstellungen entwickeln sich Begriffe, aber nun WUNDT selbst: "Was ins Bewusstsein kommt, ist nur die fertige Arbeit ... Die eingehende Zergliederung der psychischen Prozesse wird uns den Nachweis liefern, wie der Schauplatz der wichtigsten Seelenvorgänge in der unbewussten Seele liegt. Überall weist das Bewusstsein selbst auf die unbewusste Seele als die Voraussetzung alles dessen, was im Bewusstsein geschieht ... Ich werde zeigen, dass das Experiment in der Psychologie das Haupthilfsmittel ist, welches uns von den Tatsachen des Bewusstseins auf jene Vorgänge hinleitet, die im dunklen Hintergrund der Seele das bewusste Leben vorbereiten ..." (a. a. O., 5).

Bewusstsein heißt also für den jungen WUNDT wesentlich, bewusst werden. Den Prozess des Bewusstwerdens denkt sich WUNDT wie alle psychische Aktualität von der Art des logischen Schlusses. Von unbewußten Schlüssen in der Wahrnehmung hatte WUNDT schon relativ früh gesprochen, 1858, kurz bevor HELMHOLTZ nach Heidelberg kam. Man mag BORING Recht geben, dass die Lehre vom unbewussten Schluss in der Wahrnehmung schon deswegen eher zu von HELMHOLTZ gehört als zu WUNDT, weil von HELMHOLTZ sie beibehielt, während WUNDT sie später wieder aufgab (BORING 1950, 308 ff.) - WUNDT hat immerhin in seiner Theorie von 1862/63 das unbewusste Schließen zu einem Bildungsprinzip des Bewusstseins überhaupt gedacht und sich damit in die Lage versetzt, eine einheitliche Theorie vorzulegen. Allen psychischen Vorgängen kommt die logische Form des Schlusses zu (1863 I, 313). Damit aber, dass alle Vorgänge unbewußt sind und alle Resultate bewußt sind, müssen wir auf unbewusste Schlussformen selber schlussfolgern. Bis in die Theorie des Handelns und des sittlichen Prozesses gilt, dass die Vorgänge alle in der Regel unbewusst sind, während bewusst werdende und das heißt beobachtbare Inhalte immer schon Ergebnisse dieser Prozesse sind. Hauptaufgabe der psychologischen Untersuchung wird es deshalb, "die Erscheinungen des Bewusstseins aus jenen unbewussten Prozessen, deren Resultate sie sind, herzuleiten". Damit verfährt die Psychologie genau wie jede andere Naturwissenschaft: "sie schreitet von den Tatsachen der unmittel­baren Beobachtung zu den Gesetzen vor, welche die Tatsachen erklären" (1863 II, 310). Im Unterschied zur späteren Theorie S. FREUD's werden allerdings unbewusst Seelisches und Bewusstsein, und zwar in Aufnahme von LEIBNIZ'ens Gedanken, als kontinuierlich und als ein und demselben Gesetz gehorchend aufgefasst. Das methodische Haupthilfsmittel, das diese Theorie der unbewussten Seelenvorgänge und des daraus resultierenden Bewusstseins erstellen helfen soll, ist, wie gesagt, das Experiment. 

B. Statistik

Nun ist das Experiment, weil es Gesetze entdeckt, als Haupt­hilfsmittel notwendig, aber nicht zureichend. Die zweite me­thodische Erneuerung der Psychologie besteht in der Erweiterung der Beobachtungsmethode. Was versteht WUNDT hierunter? In dem besagten Kapitel "Über die Methoden in der Psychologie" von 1862 wird als Paradigma für die erweiterte Beobachtung die Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft genannt. Das ist nicht Geschichte, sondern Gesellschaftslehre. sofern diese - wie die Nationalökonomie - sich auf ein neues Fundament stellt. Und dieses "Fundament besteht in der Feststellung einer großen Zahl von Tatsachen durch die Statistik" (1862, XXIV). Als er dies in Heidelberg lehrte und schrieb, stand WUNDT unter dem Eindruck, den der belgische Astronom und Statistiker ADOLPHE QUETELET auf ihn gemacht hatte. QUETELET hatte ja, vor allem in seinem Werk "Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen" (1835, dt. 1914) das LAPLACE-GAUSS'sche Gesetz der Normalverteilung von Fehlern auf menschliche, (d. h. individuelle und soziale) Daten angewandt und mit "l' homme moyen" den kontroversen statistischen Durchschnittsmenschen formuliert. Psychologie-historisch bekannt und tradiert ist, wie 1869 durch Francis GALTON's Geniestudien QUETELET's Statistik in die Differentielle Psychologie und die Psychologische Methodenlehre überhaupt Eingang fand. WUNDT hatte jedoch schon 1862 den Nutzen und die Funktion dieser "neuen Statistik" erkannt, wenn er Sätze schrieb wie: "Es hat ... die neue Statistik, so klein das was sie geleistet hat, ihrer ganzen Aufgabe gegenüber erscheint, doch für den Psychologen schon ein äußerst reichhaltiges Material geschaffen, das nur noch so gut wie unbenutzt geblieben ist. Es kann aber auf diesem Wege für die Psychologie nicht nur Neues gewonnen werden, sondern es hat diese Methode auch den unendlichen Vorteil, dass sie an die Stelle vager Vermutungen eine unerschütterliche Gewissheit setzt, dass sie nicht unbestimmte Folgerungen, sondern Schlüsse mit mathematischer Sicherheit zu ziehen erlaubt" (1862, XXIV f.). Ja, die Begeisterung für diese neuartige Technik statistischer Erhebungen reißt WUNDT zu dem Ausruf hin: "Man kann ohne Übertreibung sagen, dass aus den statistischen Ermittlungen sich mehr Psychologie lernen lässt als aus allen Philosophen, den ARISTOTELES ausgenommen" (a.a.O., XXV). Wie beim Experiment ist für uns heute von Interesse, welche Funktion der 30jährige WUNDT der Statistik im Rahmen seiner Entwicklungstheorie dem Psychischen zuweist. Statistik ist nämlich das methodologische Instrument der naturgeschichtlichen Vorgehensweise, sofern diese über das Individuum hinausgeht. Völker führen ein naturgeschichtliches Dasein, das "in allen seinen Erscheinungen von dem Zustand der gesamten Gesellschaft abhängig ist" (a.a.O., XXVI). Diese Gesetzlichkeit zu finden, bedürfen wir der Statistik. Denn ebenso wie das Experiment dazu dient, die Erscheinungen des individuellen Bewusstseins und damit die Selbstbeobachtung aller Zufälligkeiten zu entkleiden, leistet dies die Statistik für die Beobachtung.

Überall, wo das Material der Beobachtungen ausreicht, da macht hier das Gesetz der großen Zahl sich geltend, d. h., einzelne Abweichungen, die wir dem Zufall oder der individuellen Willkür zuschieben, heben sich auf, und das naturgeschichtliche Gesetz findet seinen vollkommen klaren Ausdruck. Der Statistiker, indem er eine möglichst große Zahl von Fällen zusammensucht, verfährt genauso wie der naturwissenschaft­liche Beobachter, der durch Häufung seiner Beobachtungen oder Versuche den Ergebnissen erst die genügende Sicherheit gibt, und hierin ist die statistische Methode nahe verwandt dem zweiten Hilfsmittel, das wir in den psychologischen Untersuchungen für notwendig halten" (1862, XXVI f.). Das zweite Hilfsmittel ist das Experiment.

Es wäre jetzt sehr reizvoll und zur Korrektur des in den Geschichtsbüchern tradierten WUNDT-Bildes auch notwendig, im einzelnen zu zeigen, wo und wie WUNDT die Statistik als Ergänzung und als Ersatz des Experiments einzusetzen vorsah. Ich muss mich mit einem Hinweis begnügen: Grundsätzlich soll die Statistik überall da einsetzen, wo die Beschränkung auf das "Einzelbewusstsein" unzureichend ist, bei Denken, Fühlen, Wollen, sprachlichem und sittlichem Handeln. Und einen Rekurs auf statistische Daten finden wir deshalb in den Vorlesungen von 1863, angefangen von der Wortstatistik (zur Be­stimmung der Menge "disponibler Vorstellungen"; wir würden heute vom aktiven Wortschatz sprechen) bis hin zur Eheschließungs- und Kriminalstatistik (etwa zur Bestimmung des "sozialen Zustands eines Volks"), den WUNDT als ein Moment bezeichnete, "das auf die Handlungen des Willens von wesentlichem Einfluss ist" (1863, II, 410). Schließlich gilt für den frühen WUNDT'schen Ansatz zu einer Handlungstheorie (II, 398 ff.): "Handlungen jeder Art folgen einem bestimmten Zahlengesetz, das durch keine Willkür der Einzelnen sich abändern lässt" (a.a.O., 411). D. h., Ursachen des Handelns sind, wie uns die Statistik nachweist, im "gesellschaftlichen Zustand eines Volkes" begründet. Wiederum treten für das Handeln des Einzelnen innere Ursachen hinzu, über die uns allerdings die Statistik keinerlei Aussagen machen kann. Wir sehen, Statistik und Experiment werden in dieser Psychologie als konvergierende Operationen aufgefasst.

C. Entwicklungsgeschichte

Beide Verfahren stehen, wie uns die Frühschriften immer wieder bekräftigen, im Dienste der Entwicklungsgeschichte der Seele. Obwohl sich das Konzept der psychischen Entwicklung und ihrer Gesetze durch das ganze Werk bis zu seinem Lebensende durchgehalten hat, ohne dass WUNDT darüber zum Entwicklungspsychologen geworden wäre, machen die Heidelberger "Beiträge" und "Vorlesungen" in sehr ursprünglicher Form deutlich, worum es WUNDT mit seinem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz geht. Ich möchte abschließend versuchen, auch diese methodologische und theoretische Perspektive kurz zu verdeutlichen; denn Entwicklung und Geschichte gehen für den späteren und den heutigen Psychologen nicht notwendig eine Ehe ein.

Erinnern wir uns, dass alle wissenschaftliche Erklärung von der Beobachtung des Komplexen zergliedernd zurückgeht auf das Ursprüngliche, anfängliche Einfache. Der Aufweis des Einfachen als Ursache oder Element des Zusammengesetzten ist zugleich der Nachweis eines Naturgesetzes. Die Arbeiten von 1862/63 machen nun, ohne dass "Entwicklungsgeschichte" explizit definiert wird, deutlich, welche Art Analysen gemeint ist. Entwicklung findet sich auf drei analytischen Ebenen; um es in heutigen Begriffen zu sagen: als Aktualgenese, Ontogenese und Phylogenese. Aktualgenetisch kommt es, wie schon gesagt, darauf an, die einzelnen Bewusstseinsinhalte als Resultate unbewusster Prozesse zu verstehen, ontogenetisch und phylogenetisch geht es darum, das Gesetz der Entwicklung der psychischen Funktionen auseinander zu prüfen, wie etwa Begriffe sich aus Vorstellungen, Vorstellungen aus Empfindungen entwickeln. Unter dem Eindruck der DARWIN'schen Evolutionstheorie, und noch vor der entscheidenden Publikation von H. SPENCER (1870/72), postuliert WUNDT schon Anfang der 60er Jahre für die Entwicklung des Psychischen ein Kontinuitätsprinzip, wonach die Gesetze der geistigen Entwicklung für alle "mit Empfindung begab­ten lebenden Wesen" die gleichen sind. Die "Gleichartigkeit des geistigen Lebens", die vom Schmetterling bis zum Wissenschaftler reiche (WUNDT 1863, I, 458), gestatte nur, eine gradweise Abstufung der Intelligenz festzustellen. Notwendig wird dadurch die Tierpsychologie zu einem Teilgebiet der Allgemeinen Psychologie. Ohne die These von der Kontinuität aller Entwicklung wäre es allerdings auch nicht zulässig, "aus Beobachtungen am entwickelten Menschen" Rückschlüsse auf Entwicklungsgesetze bzw. ursprüngliche Formen zu machen. Erst Heinz WERNER (1926) hat in diesem Jahrhundert wieder Aktual-, Onto- und Phylogenese in seinem Entwicklungskonzept so konsequent zusammengefasst und erst F. KRUEGER (1915) hat einen für biologische, soziale und kulturelle Prozesse verbindlichen Entwicklungsbegriff wieder eingeführt. WUNDT aber ging noch einen Schritt weiter, zur Entwicklungsgeschichte. An den höheren psychischen Funk­tionen macht er immer wieder deutlich, wie das Einzelbewusstsein auch durch Tradition, d. h. historisch geworden ist. Am Beispiel der Psychologie des Gewissens wird deutlich, was WUNDT meinte, wenn er sagte, wo das Experiment versagt, hat die Geschichte für uns experimentiert: "Es ist eine uns allen geläufige Erfahrung, dass der Einzelne eine Menge fertiger sittlicher Ideen durch Erziehung und Unterricht überliefert erhält. Sie nimmt er zur Grundlage, auf welcher sich sein selbständiges sittliches Leben weiter entwickelt. Die unmittelbare Beobachtung weist uns also schon hinaus auf die Gesamtheit, auf den sittlichen Prozess im geschichtlichen Leben der Völker. Nur wenn wir auf dieses die psychologische Untersuchung ausdehnen, wird es uns möglich werden, in alle jene Momente, welche die Tatsachen der Sittlichkeit konstituieren, einen Einblick zu gewinnen, und danach auch den Prozess, aus dem das sittliche Gefühl entspringt, im Bewusstsein zu rekonstruieren" (1863, II, 119). Und tatsächlich geht in den "Vorlesungen" von 1863 der Beschreibung des sittlichen Gefühls voraus eine Darstellung der verschiedenen Formen des sittlichen Lebens vom Kannibalismus bis zum Christentum, der Sittlichkeit in Familie und Staat.

All dies wird nicht als ein Beitrag zu einer Sozialpsychologie oder "Völkerpsychologie" gedacht, sondern ausdrücklich als eine methodische Vorgehensweise der individuellen bzw. Allgemeinen Psychologie (1863, II, 452); denn es geht um die "allgemeinen Gesetze des psychischen Geschehens"! Halten wir zusammenfassend fest: Die allgemeine Psychologie, die Wilhelm WUNDT als junger Heidelberger Dozent der Öffentlichkeit vorstellte, enthält Charakteristika, theoretische wie methodologische, die WUNDT's spätere und alleine einflussreiche Psychologie nicht mehr aufwies. Und es ist unverkennbar, wenn auch nur programmatisch, dass diese Heidelberger Psychologie WUNDT's, von der er sich später als einer Ju­gendsünde distanzierte, wäre sie je entwickelt bzw. ausgearbeitet worden, zu einer sehr viel reichhaltigeren und einheitlicheren Psychologie geführt hätte, als es die nach-WUNDT'sche geworden ist und blieb. Entstanden wäre aus dem "Heidelberger Modell" eine evolutionär und historisch orientierte Sozio-Psychologie des bewußten und unbewußten Seelenlebens und Handelns, d. h. eine Wissenschaft, wie sie von manchem Kritiker der heutigen Psychologie angestrebt bzw. gefordert wird.

Das Bedauerlichste für die tatsächliche Geschichte der Psychologie: Alle diese vom jungen WUNDT für wichtig erachteten Aspekte psychologischer Forschung sind entwickelt und ausgearbeitet worden, nur zum großen Teil außerhalb der Psychologie und, nicht selten, in Absetzung von und Ablehnung der Psychologie:

- Die nachfolgende Verselbständigung des Evolutionskonzep­tes hat zu einer Ethologie geführt, die sich ironischerweise auch Verhaltensforschung nennt.

- Die nachfolgende Vernachlässigung der historischen Dimension ist in weiten Bereichen der Psychologie unbewältigt; nach dem Scheitern der "Verstehenden Psychologie" sind gegenwärtig die historisch-materialistische Psycholo­gie, die kritische Psychologie HOLZKAMP's, GERGEN's Alternative, Sozialpsychologie historisch (statt naturwissen­schaftlich) zu betreiben, entsprechende Bemühungen, die dominante Weiterentwicklung der "Physiologischen Psychologie" in einer umfassenderen Konzeption aufzuheben. Die na­turgeschichtlich arbeitende "Völkerpsychologie" hat eher auf Ethnologie, Kulturanthropologie, Ethnographie gewirkt als auf die Psychologie, incl. Sozialpsychologie.

- Die nachfolgende Vernachlässigung statistischer Erhebungstechniken zu demographischen Zwecken bzw. zur Bestimmung des "sozialen Zustandes" eines Volkes hat der sich ja erst später entwickelnden Soziologie ein Hauptinstrument und einen zentralen und stattlichen Forschungsbereich eingebracht.

- WUNDT's Verzicht schließlich, sich spätestens ab Erscheinen seiner noch in Heidelberg abgeschlossenen "Grundzüge der physiologischen Psychologie", also ab 1873/74, um das unbewusste Seelenleben zu kümmern und es nur noch als das Dispositionalpsychische zu berücksichtigen, führte mit zu der Sezession einer eigenständigen Psychologie des Unbewussten, die allerdings dann in Form der Psychoanalyse das Bewusstsein unseres Jahrhunderts auf ihre Weise stärker verändert hat als die sich verengende Bewusstseinspsychologie.

Die Folge dieser Sezessionen: Wer heute als Psychologe ein nur halbwegs komplexes Problem anpackt, findet sich schon sehr bald genötigt, mit einer dieser Nachbarwissenschaften Kontakt aufzunehmen, womit sich ihm das leidige Problem der Interdisziplinarität stellt, das zu vermeiden alleine die Realisation des Heidelberger Programms wert gewesen wäre.

Wir können heute, auf WUNDT's Leben und auf über einhundert Jahre wissenschaftliche Psychologie zurückblickend, verstehen, woran WUNDT's Heidelberger Programm einer Psychologie gescheitert ist, nämlich an dem logischen Prinzip des (unbewussten) Schlusses, das zwar WUNDT's erster Psychologie die theoretische Einheit gab, sich aber wohl nicht als tragfähig genug erwies. Das methodologische Programm aber, nämlich: Beobachtung, Experiment, Statistik und Geschichte zu Hilfsmitteln der psychologischen Untersuchung zu machen, und zwar schon für die Allgemeine Psychologie, wäre tragfähiger gewesen als die nachfolgende Einengung. Nach 120 Jahren sind wir, glaube ich, wieder so weit, dass wir bereit sind, nicht nur, wie wir das heute nennen, zwischen "Labor" und "Feld" hin und her zu gehen, um so Beobachtung, Experiment und Erhebung zu konvergierenden Operationen zu machen, auch die evolutionäre und historische Gewordenheit psychologischer und sozialer Phänomene sollte ein internes Problem psychologischer Untersuchung sein können. Schaffen wir das, dann wäre schließlich WUNDT's Heidelberger Programm einer Psychologie trotz seines Widerrufs doch noch realisiert.

WUNDT selber war, wie ich schon sagte, bis in seine Biographie hinein recht wortkarg über seine Heidelberger "Jugendsünde". Ich möchte deshalb schließen mit einem fast prognostischen Satz des 30jährigen WUNDT (aus den "Vorlesungen"). Er lautet: "Der fertige Mann, der von den mancherlei Wegen, nach denen das gährende Gemüt des Jünglings bewusst und unbewusst verlangte, viele bei Seite hat liegen lassen und nur einige sicher in's Auge fasst, hat sein Inneres hermetisch abgeschlossen, nicht weil er die Begierden unterdrückt hat ..., sondern weil er den Begierden erreichbare Ziele gesetzt hat ..." (II, 330).

WUNDT hat mit seinem in Leipzig ausgearbeiteten System einer Allgemeinen Psychologie auf experimenteller Grundlage ein Ziel erreicht, was ihm mit Recht einen wichtigen und bleibenden Platz in der Geschichte der wissenschaftlichen Psychologie gesichert hat. Der Exkurs in die Heidelberger Vergangenheit und Jugend Wilhelm WUNDT's sollte lediglich daran erinnern, welche anderen Zielsetzungen und Möglichkeiten die damals sich bildende Psychologie gehabt hat, die erst später, zum Teil sogar gegen (den älteren) WUNDT, wiederentdeckt und realisiert werden mussten.

Literaturverzeichnis

1. BACON, F.: Novum Organum. London 1620.

2. BORING, E. G.: A history of experimental psychology. 2nd ed. New York 1950.

3. DARWIN, Ch.: The origin of species. London 1859.

4. GALTON, F.: Hereditary Genius. London 1869.

5. GERGEN, K.: Social psychology as history. Journal of Personality and Social Psychology. 1973, 26, 309 – 320.

6. HOLZKAMP, K.: Kritische Psychologie. Frankfurt/M. 1972.

7. KRUEGER, F.: Über Entwicklungspsychologie. Leipzig 1915.

8. MILL, J. St.: A System of logic. 2 vols. London 1843.

9. QUETELET, A.: Essai de physique sociale. 1853; deutsch:

Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen. 1914.

10. SPENCER, H.: Principles of psychology. 2nd ed. London 1870-72.

11. WERNER, H.: Einführung in die Entwicklungspsychologie, München 1926.

12. WUNDT, W.: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. Leipzig/Heidelberg 1862.

13. WUNDT, W.: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. 2 Bde. Leipzig 1863; 2. Aufl. Leipzig 1892.

14. WUNDT, W.: Grundriss der Psychologie. 13.Aufl. Leipzig 1918.

15. WUNDT, W.: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1920.