KLAUS HOLZKAMP, Berlin

Zu Wundts Kritik an der experimentellen Erforschung des Denkens

I. Die Kontroverse zwischen Wilhelm Wundt und Karl Bühler über die Methode der experimentellen Selbstbeobachtung bei der Analyse von Denkvorgängen

Die Auseinandersetzung zwischen Wundt und Bühler über Bühlers denkpsychologische Experimente gehört zu den klassischen Kontroversen der Psychologiegeschichte.

Bühler (1907, 1908a) hatte zur Analyse von Denkprozessen ein neues experimentelles Verfahren angewendet, das in Arbeitszusammenhang mit der "Würzburger Schule", der die Begründung der experimentellen Denkpsychologie zugeschrieben wird, entwickelt wurde: Bühler stellte seinen Versuchspersonen eine Reihe von Aufgaben in Form problematischer Sentenzen, etwa: "Von allen Seiten wohlwollend behandelt und selbst wohlwollend, müßte ein Genie furchtbar leiden". Die Vpn. erhielten die Instruktion, die bei ihnen ablaufenden Denkprozesse vom Zeitpunkt der Darbietung der Problemaufgabe an in "lautem Denken" möglichst ausführlich und präzise festzuhalten. Diese Aussagen wurden wörtlich protokolliert und die Protokolle später auf die Eigenart der darin dokumentierten Bewußtseinsprozesse hin analysiert. Eins der wesentlichen Resultate, die Bühler dabei erhielt, war der Aufweis von unanschaulichenDenkinhalten, die er "Gedanken" nannte, womit er die bis dahin anerkannte Auffassung, Denken sei stets auf anschauliche Elemente, Vorstellungen, zurückzuführen, widerlegt zu haben meinte, etc.

Wundt (1907) sah sich bereits durch das Erscheinen des ersten Teils von Bühlers Untersuchungsbericht (1907) veranlaßt, an dessen Experimenten ausführlich und scharf Kritik zu üben. Der Bühlersche Ansatz verstieß nämlich gegen die von Wundt verkündete und bis dahin unbestrittene Lehrmeinung, nur Empfindungen und einfache Vorstellungsverbindungen seien experimentell erforschbar, solche "komplexen psychischen Vorgänge" wie die "höheren intellektuellen Funktionen" seien aber einer experimentellen Untersu­chung nicht zugänglich (S. 301), vielmehr sei zur Analyse des Denkens nur eine Kombination zwischen reiner, nichtexperimenteller Selbstbeobachtung und völkerpsychologischer Methodik als dem neben der experimentellen Methode zweiten Zugangsweg zum Psychischen geeignet, also einer nach Wundts Meinung "auf diesen Gebieten ganz unerläßlich(en) Verbindung zwischen individual- und völkerpsychologischer Betrachtung..." (S. 340). Als Grundlage für seine Kritik formuliert Wundt vier Regeln, die von "vollständigen Experimenten" alle, von "unvollständigen Experimenten" wenigstens teilweise erfüllt sein müssen: "1) Der Beobachter muß womöglich in der Lage sein, den Eintritt des zu beobachtenden Vorganges selbst bestimmen zu können. 2) Der Beobachter muß, soweit möglich, im Zustand gespannter Aufmerksamkeit die Erscheinungen auffassen und in ihrem Verlauf verfolgen. 3) Jede Beobachtung muß zum Zweck der Sicherung der Ergebnisse unter den gleichen Umständen mehrmals wiederholt werden können. 4) Die Bedingungen, unter denen die Erscheinung eintritt, müssen durch Variation der begleitenden Umstände ermittelt und, wenn sie ermittelt sind, in den verschiedenen zusammengehörigen Versuchen planmäßig verändert werden, indem man sie teils in einzelnen Versuchen ganz ausschaltet, teils in ihrer Stärke oder Qualität abstuft" (S. 308). Wundt mißt die Bühlerschen Untersuchungen sodann an diesen Kriterien und kommt zu der Auffassung, daß sie kein einziges davon erfüllen, also weder vollständige noch unvollständige Experimente sind: Daraus "ergibt sich unausbleiblich das Resultat: Die Ausfrageexperimente (so apostrophiert Wundt Bühlers Untersuchungen/K.H.) sind überhaupt keine Experimente in Sinne einer wissenschaftlichen Methodik, sondern sie sind Scheinexperimente, die bloß dadurch, daß sie in der Regel in einem psychologischen Laboratorium vorgenommen werden, daß in ihnen ein angeblicher Experimentator und eine Versuchsperson gegenüberstehen, planmäßig aussehen, während sie es in Wirklichkeit nicht im geringsten sind..." (S. 334). Bühler replizierte bereits als Nachtrag zum zweiten Teil seines Untersuchungsberichts (1908b) den Wundtschen Angriff, indem er, Wundts Kriterien für wissenschaftliche Experimente übernehmend, Punkt für Punkt nachzuweisen suchte, daß seine Versuche diese Kriterien sehr wohl erfüllen und die Wundtschen Einwände dagegen sämtlich auf Ignoranz oder Mißverständnissen beruhten. So kommt er zu dem Schluß, daß echte denkpsychologische Experimente sehr wohl möglich seien. Es sei ein Irrtum zu meinen, das Denken sei für die experimentelle Erforschung zu "komplex". "Denn unsere Denkprozesse sind gar nicht schlechthin als das Kompliziertere anzusehen. Man braucht sich nur einmal vom herrschenden Vorurteil, die Denkvorgänge seien nichts anderes als irgendwie verdichtete, abgekürzte Vorstellungsprozesse, frei zu machen ..." (S. 109). Gegen "die Verwertung dessen, was uns eine 'völkerpsychologische' Betrachtung der Sprache lehrt, für eine Psychologie des Denkens" habe er ja nichts einzuwenden. Allerdings müßten die Resultate einer solchermaßen "indirekten Forschung am besten immer so lange als hypothetisch" angesehen werden, bis sie durch die direkte Forschung (also denkpsychologische Experimente/K.-H.) ihre Bestätigung gefunden haben..." (S. 111 f.). Wundt wiederum versuchte, in einer neuerlichen Replik auf Bühler ("Kritische Nachlese zur Ausfragemethode", 1907) die Bühlerschen Bemühungen, die Anwendbarkeit der Kriterien für wissenschaftliches Experimentieren auf seine Untersuchungen nachzuweisen, sämtlich als erfolg- und haltlos zu entlarven. Er bezieht sich dabei nur auf methodische Einzelheiten und geht auf den völkerpsychologischen Zugangsweg zum Denken, der von Bühler auch schon nur nebenbei erwähnt wurde, hier nicht mehr ein. Wundt beendet für seinen Teil die Diskussion über die Bühler'schen Versuche, von denen er "von vorn herein und aus guten Gründen überzeugt" war, "daß sie vergeblich sind" (S. 447), mit dem Satz: "Nach den Aufschlüssen, die ich aus den seitherigen Ausfrageexperimenten geschöpft habe, werde ich mir die Lektüre künftiger Arbeiten dieser Gattung ersparen; ich glaube mich aber auch fernerer kritischer Erörterungen über diesen Gegenstand enthalten zu können" (S. 459).

II. Die traditionelle Rezeption der Wundt-Bühler-Kontroverse

Die damit skizzierte Auseinandersetzung wird (was ich hier aus Platzgründen nicht dokumentieren kann) üblicherweise etwa folgendermaßen psychologiegeschichtlich eingeordnet: Wundts Weigerung, eine experimentelle Untersuchbarkeit des Denkens anzuerkennen, beruht in letzter Instanz auf seinem "elementenpsychologischen" Grundansatz: Nur dadurch, daß er höhere psychische Vorgänge als notwendig aus Empfindungs- bzw. Gefühlselementen zusammengesetzt betrachtete, konnte er zu der Auffassung kommen, das Denken sei "zu" komplex für die experimentelle Analyse. Die Schwierigkeiten Wundts beim planmäßig-experimentellen Aufweis der in den Denkprozeß eingehenden Vorstellungen bzw. Empfindungen sind also quasi selbst geschaffen, beruhen auf der elementenpsychologischen Hypostasierung. Bühler dagegen ist, wie die gesamte Würzburger Schule, im Zusammenhang der allgemeinen Umwälzung der Psychologie zu Beginn des Jahrhunderts zu sehen, in welcher der "synthetische" Elementenansatz zugunsten einer "analytischen" Betrachtung, in der vorgefundene psychische Gegebenheiten als primär ganzheitliche Tatbestände genommen und auf ihre verschiedenen Aspekte hin analysiert wurden, überwunden worden ist. Da Bühler so nicht mehr unter dem Zwang stand, den Prozeß der Zusammensetzung des Denkens aus Empfindungen und Vorstellungen aufweisen zu müssen, sondern sich dem Denken als einheitlichem Prozeß unbefangen zuwenden konnte, eröffnete sich ihm auch die Möglichkeit einer "analytisch" gerichteten, also verschiedene Aspekte des Denkvorgangs heraushebenden, experimentellen Denkforschung. Wundts Unfähigkeit, die hier gegebenen neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten der Denkpsychologie zu erkennen, die Spitzfindigkeit seiner Einzelkritik und seine Unbelehrbarkeit durch Gegenargumente beruhen darauf, daß Bühlers Versuche nur Teil einer Bewegung waren, durch welche das bis dahin unangezweifelte, durch Wundt repräsentierte elementenpsychologische Gesamtsystem in Frage gestellt wurde, so daß Wundt hier, auf verlorenem Posten, dogmatisch um die Rettung einer in Wahrheit schon überholten Epoche der Psychologiegeschichte kämpfte. Der weitere historische Gang der denkpsychologischen Forschung scheint diese Lesart zu bestätigen: Im Ausgang von der Würzburger Schule über Otto Selz und die Gestaltpsychologie (Duncker und Wertheimer) geht ein einheitlicher Entwicklungsweg einer immer breiteren experimentellen Denkpsychologie bis hin zu den modernsten, mehr systemtheoretisch fundierten Ansätzen. Wundt konnte diese Entwicklung nicht aufhalten, und Bühler stand als ein Pionier an deren Anfang. Die Überlebtheit der Wundtschen Versuche, sich einer Ausweitung des experimentellen Verfahrens als der Methode der einzelwissenschaftlichen Psychologie entgegenzustellen, mag man darüber hinaus aus folgender Passage ablesen, mit der Wundt ironisch seine erste Kritik an den "Ausfrageexperimenten" abschließt: "Sind auch die eigentlichen Ausfrageexperimente gegenwärtig immerhin noch vereinzelte Erscheinungen, so gibt es doch andere, ihnen verwandte Verfahrungsweisen, wie z.B. die besonders von einigen französischen und amerikanischen Psychologen gelegentlich benutzte Sammlung von Selbstbeobachtungen mittels der Versendung von Fragebogen, die dieser Weiterführung der Ausfragemethode offenbar begünstigend entgegenkommen. Welche Triumphe wird aber erst diese Methode feiern, wenn sich die Pädagogik ihrer bemächtigt, wenn die Schulbank zugleich zur Experimentierbank wird, und der Lehrer, falls er sich beim Schulexamen erkundigt, was sich der Schüler bei seiner Antwort etwa noch nebenbei gedacht habe, in dem stolzen Bewußtsein leben kann, er habe ein psychologisches Ex­periment gemacht?" (1907, S. 360). - Hier ist in der vermeintlich bloß rhetorischen Glossierung tatsächlich die Zukunft der Psychologie vorweggenommen.

III. Wundts "völkerpsychologischer" Metbodenansatz; Ein verdrängtes Kapitel Psychologiegeschichte

Ich will nicht der Frage nachgehen, ob Wundts Ablehnung einer hemmungslosen Ausweitung und Aufweichung des Experimentierens in der Psychologie - wenn man einmal hinter der Oberfläche einer schlicht fortschreitenden Wissenschaft die permanenten und sich ja gerade neuerdings wieder zuspitzenden Krisen der Experimentalpsychologie in die Betrachtung zieht - vielleicht so verstaubt gar nicht war, wie das zunächst scheinen mag. Sehr viel wesentlicher scheint mir die Frage, was im Zuge der historischen Entwicklung der Psychologie, speziell der Denkpsychologie, seit Wundt aus der von ihm konzipierten zweiten, völker­psychologischen Methode der Erforschung des Psychischen geworden ist.

In der Wundt-Bühler-Kontroverse selbst spielte die Diskussion der völkerpsychologischen Verfahrensweise kaum eine Rolle. Wundt hat sich nach Erwähnung der völkerpsychologischen Methode als Zugangsweg zum Denken von dieser Frage abgewandt und auf die Diskussion der immanent methodischen Fragen des psychologischen Experiments beschränkt. Bühler ist auf den völkerpsychologischen Aspekt schon gar nicht eingegangen, sondern hat mehr als die zitierte Bemerkung zu dem Problem nicht beigesteuert. Man kann also generalisierend feststellen, daß hier die in der Kontroverse auch enthaltene grundsätzlich-methodologische Ebene der Auseinandersetzung zugunsten einer bloß methodischen Auseinandersetzungs-Ebene verloren gegangen ist, wobei Wundt, all­zu fixiert auf das Bemühen, Bühler methodische Fehler und Unfähigkeiten nachzuweisen, sich von diesem die aus dessen Unverständnis der methodologischen Bedeutung des völkerpsychologischen Verfahrens erwachsene Reduzierung der Diskussion auf die immanent-methodische Ebene des Experimentierens hat aufzwingen lassen (und sich damit historisch scheinbar auf die Verliererstraße brachte).

Dieser Vorgang ist symptomatisch: Die Umwälzung der Psychologie, für die Bühler als ein Repräsentant angesehen werden kann, bedeutet nämlich gleichzeitig die Durchsetzung des experimentellen Methodenmonismus, damit die historische Abdrängung des Wundtschen völkerpsychologischen Verfahrens. Wundts psychologisches System wurde, wenn auch teilweise in der Negation, nur in seinem experimental-psychologischen Aspekt von der Psychologiegeschichte zur Kenntnis genommen. Der völkerpsychologische Aspekt, den Wundt gleich viel Aufmerksamkeit und Arbeitskraft widmete (seine "Völkerpsychologie" umfaßt 12 starke Bände), wurde indessen im weiteren historischen Gang der Psychologie schlicht ignoriert.

Schon bei Bühler ist das Zugeständnis an die Berechtigung völkerpsychologischer Erforschung des Psychischen eine bloße Floskel. Er selbst hat niemals auf diesem Wege einen Zugang zu Problemen des Denkens zu finden versucht. Das gleiche gilt für die gesamte Denkpsychologie nach ihm, bis hin zu modernen system-theoretischen Ansätzen der Problemlöse - Forschung. Auch in an­deren Gegenstandsbereichen der Psychologie ist der völkerpsychologische Zweig der Wundtschen Lehre nirgends aufgegriffen worden. Selbst in der Sozialpsychologie, auch da, wo sie sich auf Völker bezieht, etwa nationale Vorurteile untersucht etc., ist kein zweiter, neben den experimentellen bestehender methodischer Zugangsweg zum Psychischen, wie Wundt ihn konzipiert hatte, intendiert, sondern im Gegenteil eine Anwendung des experimentell-bedingungsanalytischen Denkens und Vorgehens auf soziale Gebilde versucht worden (also gerade die Art von Ausweitung und Aufweichung des experimentellen Verfahrens, wie Wundt sie in dem angeführten Zitat glossierte). Um einschätzen zu können, was die Abdrängung des Wundtschen völkerpsychologischen Methodenansatzes für die Psychologiegeschichte bedeutet, müssen wir diesen Ansatz etwas näher betrachten (und greifen dabei, weil - wie gesagt - die Wundt-Bühler-Kontroverse dazu kaum etwas hergibt, auf andere Ausführungen Wundts zurück).

Wundt legt (z.B. in "Grundriß der Psychologie", 1. Aufl. 1896) dar, daß psychische Gegebenheiten nicht nur in (experimentell zu erforschender) individueller Form, sondern auch in Form der "geschichtlich entstandenen geistigen Erzeugnisse, wie die Sprache, die mythologischen Vorstellungen, die Sitten" vorliegen. "Ihr Ursprung und ihre Entwicklung beruhen überall auf allgemeinen psychischen Bedingungen, auf die sich aus ihren objektiven Eigenschaften zurückschließen läßt. Alle solche Geisteserzeugnisse von allgemeingültiger Beschaffenheit setzen ... die Existenz einer geistigen Gemeinschaft vieler Individuen voraus... Wegen dieser Gebundenheit an die Gemeinschaft, speziell die Volksgemeinschaft, pflegt man das ganze Gebiet dieser psychologischen Untersuchung der Geisteserzeugnisse als Völkerpsychologie zu bezeichnen, und der individuellen oder, wie sie nach ihrer vorherrschenden Methode auch genannt werden kann, experimentellen Psychologie gegenüberzustellen. Obgleich nun bei dem heutigen Zustand der Wissenschaft diese beiden Teile der Psychologie zumeist noch in getrennten Darstellungen behandelt werden, so bilden sie doch nicht sowohl verschiedene Gebiete als vielmehr verschiedene Methoden... Die Gebundenheit..."der geistigen"Erzeugnisse an ... Gemeinschaften, die der Völkerpsychologie ihren Namen gegeben hat, entspringt aber aus der Nebenbedingung, daß die individuellen Geisteserzeugnisse von allzu ver­änderlicher Beschaffenheit sind, um sie einer objektiven Beobachtung zugänglich zu machen, und daß hier die Erscheinungen erst dann die erforderliche Konstanz annehmen, wenn sie zu Kollektiv oder Massenerscheinungen werden." "Demnach verfügt die Psychologie ... über zwei exakte Methoden: die erste, die experimen­telle Methode, dient der Analyse der einfacheren psychischen Vorgänge; die zweite, die Beobachtung der allgemeingültigen Geisteserzeugnisse, dient der Untersuchung der höheren psychischen Vorgänge und Entwicklungen" (zit. nach der 11. Aufl. Leipzig 1913, S. 29 f.).

Aus diesen allgemeinen Darlegungen Wundts (und noch mehr aus seinen wirklichen völkerpsychologischen Analysen) geht hervor, daß Wundt (wenn auch noch in idealistischer Verhüllung) über die Einsicht verfügte, daß Psychisches nicht mit Individuell-Psychischem gleichgesetzt werden darf, sondern psychische Eigen­schaften und Möglichkeiten der Menschen in ihren gesellschaft­lichen Erzeugnissen objektiviert sind, also auch kollektive Erscheinungen darstellen, und daß gemäß dem gesellschaftlichen Charakter solcher verallgemeinerter psychischer Vorgänge und Entwicklungen ein eigener, genuin historischer. Zugangsweg zu ihrer Erforschung gefordert ist.

Wenn man diese generellen Züge der Wundtschen völkerpsychologischen Methode berücksichtigt, so wird deutlich: Die Abdrängung der "Völkerpsychologie" innerhalb der Psychologiegeschichte ist eins der Symptome der "individualistischen" Einengung des Gegenstandsverständnisses und gleichzeitig reduktionistischen Eli­minierung der spezifisch menschlichen, d.h. gesellschaftlichen Gegenstandsebene der Lebenstätigkeit, wie sie charakteristisch für die dem "funktionalen Modell" und der "Variablen-Sprache" unterworfene moderne bürgerliche Experimentalpsychologie sind. Damit zeigt sich, daß der historische Prozeß, der z.B. von Wundt über Bühler zur modernen experimentellen Denkpsychologie führte, keineswegs so eindeutig progressiv zu sehen ist, wie das dem gängigen Verständnis entspricht und daß Wundt hier keineswegs lediglich als der Verteidiger einer überholten psychologischen Epoche eingestuft werden darf. Sicherlich verteidigte Wundt in seinen Angriffen gegen Bühler problematische und überholte elementenpsychologische Grundansätze. Er verteidigte darin aber auch die Berechtigung eines selbständigen historischen Zugangsweges zu den überindividuell-gesellschaftlichen Aspekten des Psychischen. So betrachtet ist der Weg der "modernen Psychologie", die den Menschen von seinen gesellschaftlich-historischen Lebensbezügen isoliert, kein Fortschritt über Wundt hinaus, sondern ein Schritt hinter Wundt zurück.

IV. Die historische Methode von Wundts "Völkerpsychologie" als Vermächtnis für die psychologische Denkforschung auf marxistisch-leninistischer Basis

Die Konsequenz aus diesen Darlegungen wird nun nicht mehr überraschen: Es ist die marxistisch-leninistische Psychologie, in welcher die "individualistische" Fehlentwicklung der bürgerlichen Psychologie aufgehoben und damit faktisch an das Erbe der Wundtschen Völkerpsychologie angeknüpft wird. Leontjews "historisches Herangehen an die Untersuchung der menschlichen Psyche" ist objektiv eine materialistische Wendung des "völkerpsychologischen" Ansatzes, in welcher die "geistigen Erzeugnisse" nicht idealistisch verselbständigt betrachtet, sondern als Aspekte der Vergegenständlichung-Aneignung durch gesellschaftliche Arbeit begriffen werden, und wo so der historische und der individuelle Zugangsweg nicht mehr äußerlich gegenübergestellt sind, sondern als Verhältnis der gesamtgesellschaftlichen und der individuell-gesellschaftlichen Gegenstandsebene des Prozesses der Vergegenständlichung-Aneignung erforscht werden können. Auf dieser Grundlage wurde, etwa innerhalb der kritisch-psychologischen Forschung, herausgearbeitet, wie im historischen Prozeß der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens "objektive gesellschaftliche Denkformen" als das gesellschaftlich mögliche und notwendige Denken entstehen, und es wurde im einzelnen gezeigt, wie sich solche Denkformen mit der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ändern müssen, womit sich auch das individuelle Denken als Resultat der personalen Aneignung der gesellschaftlichen Denkformen nicht nur inhaltlich, sondern strukturell ändern muß (H.-Osterkamp 1975, 249 ff. und 267 ff.). Mit Bezug auf die denkpsychologische Theorie des "Problemlösens" wurde (etwa am Beispiel der Entwicklung und Lösung des Problems der Kraftmaschine durch James Watt und des Problems des Mehrwerts durch Karl Marx) das Wechselverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Entstehung von Problemen und ihrer individuellen Entwicklung zur Lösungsreife herausanalysiert, wobei deutlich wurde, daß das in der traditionellen Psychologie allein berücksichtigte isolierte "Problemlösen" nur den Sonderfall der Behinderung der individuellen Problementwicklung durch die "Entsubjektivierung" von Problemen in der bürgerlichen Gesellschaft darstellt (Seidel 1976).

Allgemein ergibt sich aus derartigen Forschungen, daß man das individuelle Denken niemals adäquat wissenschaftlich erfassen kann, wenn man den Blick nur auf das individuelle Denken fixiert: Der einzelne Mensch beginnt mit der lernenden Entwicklung seiner Denkmöglichkeiten nicht quasi immer wieder am Nullpunkt, sondern sieht sich stets gesellschaftlich ermöglichten Erkenntnisleistungen gegenüber, in denen sich die besonderen Notwendigkeiten und Schranken des Denkens auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des gesellschaftlichen Gesamtprozesses niederschlagen. Das Individuum braucht diese gesellschaftliche gewonnene Erkenntnis nur noch zu reproduzieren und gewinnt dadurch eine kognitive Leistungsfähigkeit, die es als bloßes Einzelwesen in der unmittelbaren Umweltauseinandersetzung niemals erbringen könnte, und die es dann erst seinerseits befähigt, seinen persönlichen Beitrag zur weiteren Kumulation des gesellschaftlichen Produktions- und Veränderungswissens zu leisten. Wie die psychischen Funktionen individuellen Denkens im einzelnen beschaffen sind, kann also nur erforscht werden, wenn man grundsätzlich die individuelle Erkenntnisfähigkeit als "Untersystem" der gesellschaftlich gewonnenen Erkenntnismöglichkeiten begreift und danach fragt, durch welche funktionalen Möglichkeiten der Mensch zu ihrer individuellen Aneignung und produktiven Umsetzung fähig ist - und nicht, wie die traditionelle Denkforschung, in der Fiktion verharrt, menschliche Denkleistungen seien aus­schließlich Resultat von individuellen Lern- oder Problenlösungsprozessen o. ä. Dabei darf man nicht von der Vorstellung ausgehen, individuelles Denken sei eine bloße Reproduktion des gesellschaftlich ermöglichten Denkens, sondern muß die Eigengesetzlichkeiten erfassen, die der verallgemeinernden und verdichtenden Verfügbarmachung universell abrufbarer Denkoperationen im gesellschaftlich-historischen Entwicklungsprozeß einer­seits und den in der individuellen Entwicklung sich herausbildenden Fähigkeiten zur Umsetzung dieser operationalen Möglichkeiten bei der alltäglichen Daseinsbewältigung andererseits zukommen etc. (vgl. dazu Seidel 1979).

Man wird aus dem vertieften materialistischen Verständnis des Verhältnisses zwischen gesellschaftlichen Denkformen und individuellem Denken heraus sicherlich nicht mehr die Wundtsche Konsequenz akzeptieren können, individuelles Denken sei der experimentellen Erforschung prinzipiell nicht zugänglich. Wohl aber ist die Erkenntnis Wundts über den selbständigen historischen Zugangsweg zum Denken als die Einsicht zu bewahren, daß man die mit dem gesellschaftlichen Arbeitsprozeß sich herausbildenden Denkformen und Probleme zunächst in selbständigem historischem Vorgehen (etwa der "funktional-historischen Analyse" gemäß dem Verständnis der Kritischen Psychologie) in ihrer inhaltlich-strukturellen Eigenart erfaßt haben muß, ehe man den Prozeß der individuellen Aneignung und subjekthaft-aktiven Umsetzung der gesellschaftlichen Denkmöglichkeiten sinnvoll experimentell erforschen kann. Dies bedeutet auch, daß die experimentelle Methodik selbst von dem übergeordneten historischen Methodenansatz nicht unberührt bleiben darf, sondern so verändert werden muß, daß mit der Analyse des Prozesses der individuellen Aneignung und Entwicklung gesellschaftlich möglicher und notwendiger Probleme ein wirklicher Beitrag zur Entfaltung schöpferischer Ressourcen geleistet werden kann - also die Be­schränkung einer "Denkpsychologie", die lediglich das isolierte Individuum bei der "Lösung" vorgegebener Aufgaben zu Gesicht bekommt, überwunden wird.

Niemand wird behaupten können, daß - selbst da, wo Denkforschung unter marxistischen Vorzeichen betrieben wird - der Primat der historischen Analyse des Denkens überall schon realisiert und die individualistische Einschränkung auf das "Problemlösen" durchbrochen ist. So muß uns Wundts "völkerpsychologisches" Vermächtnis immer erneuter Anlaß zur Kritik und Selbstkritik sein, damit der Weg weiter beschritten wird, auf dem die Psychologie tatsächlich das Denken als einen Aspekt der Entwicklung der gesellschaftlichen Menschheit begreifen und fördern kann.

Literatur

BÜHLER, K.: Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Über Gedanken. - Arch. ges. Psychol. 9, 297-365, 1907.

BÜHLER, K.: Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. II. Über Gedankenzusammenhänge. III. Über Gedankenerinnerungen. - Arch. ges. Psychol. 12, 1-92, 1908a.

BÜHLER, K.: Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbstbeobachtung an experi­mentell erzeugten Erlebnissen. - Arch. ges. Psychol. 12, 93-122, 1908b.

H.-OSTERKAMP, U.: Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung I. Frankfurt/M. 1975, 2. Aufl. 1977.

SEIDEL, R.; Denken. Psychologische Analyse der Entstehung und Lösung von Problemen. - Frankfurt/M. 1976.

SEIDEL, R.: Über die ökonomische Funktion der Logik. Deduktion im Denkprozeß. - Forum Kritische Psychologie 4, 55-88, 1979.

WUNDT, W.:Grundriß der Psychologie. - Leipzig 1896, 11. Aufl. 1913.

WUNDT, W.:Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens. - Psychol. Stud. 3, 301-360, 1907.

WUNDT, W.:Kritische Nachlese zur Ausfragemethode. - Arch. ges. Psychol. 11, 445-459, 1908.