HANS-JÜRGEN LANDER, Leipzig

Hauptentwicklungslinien in der Entwicklungsgeschichte der wissenschaftlichen Psychologie und deren psychologiehistorische Bedeutung

(1) Der Gegenstand meines Referates ist auf einen Zeitraum beschränkt, in dem sich die Psychologie als eigenständiges Wissenschaftsgebiet zu etablieren beginnt. Dieser Zeitraum - etwa letztes Drittel des vergangenen Jahrhunderts bis zum Beginn des ersten Weltkrieges - ist mit WILHEIM WUNDT (1832 bis 1920) aufs engste verknüpft. Aber die Etablierung der Psychologie als eines selbständigen Wissenschaftsgebietes war in dieser Zeit nicht von ihm allein vollzogen worden. Die Gründung einer selbständigen akademischen Institution stand zu diesem Zeitraum früher oder später auf der Tagesordnung und die wesentliche Leistung WUNDT's bestand darin, daß er als einer ihrer Wegbereiter diesen Prozeß entschieden vorangetrieben und gefördert, mit seinem wissenschaftlichen Werk die erforderliche Begründung dafür geliefert hatte. Er hat alles, was zum damaligen Zeitpunkt an psychologischen Erkenntnissen und Ergebnissen bereits vorlag, zusammenfassend dargestellt und damit gewissermaßen den wissenschaftlichen Ausweis und berechtigten Anspruch geliefert und geltend gemacht, die die Aufnahme der Psychologie in den Rang eines selbständigen akademischen Wissenschaftsgebietes zu rechtfertigen schien. W. WUNDT legte mit seinem bis dato geleisteten Werk gewissermaßen den Grundstein für den Bau eines neuen Wissenschaftsgebäudes, an dessen weiterem Ausbau er dann tatkräftig mitwirkte. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand und der wissenschaftliche Reifegrad, den die Psychologie zu diesem Zeitpunkt bereits erreicht hatte, war jedoch nur ein Aspekt, der diesen Schritt zu rechtfertigen schien; der andere, ebenso gewichtige liegt in der gesellschaftlichen Entwicklung begründet, vor allem in dem enormen Aufschwung, der in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland auf wirtschaftlichem, geistig-kulturellem und insbesondere naturwissenschaftlich-technischem Gebiet zu verzeichnen war. Diese Entwicklung begünstigte auch die Psychologie und forderte von ihr die Lösung sowohl theoretischer als auch, und das in steigendem Maße, praktischer Aufgaben, die auf der Grundlage einer nur rationalistisch betriebenen Psychologie überhaupt nicht zu leisten waren. So ist es nicht von ungefähr, um nur ein Beispiel anzuführen, daß am Anfang ihrer Entwicklung die Ermittlung der intellektuellen Leistungsfähigkeit eines Menschen eine praktisch bedeutsame und theoretisch zu begründende Aufgabe war, vor die sich die Psychologie gestellt sah. So veröffentlichte der Amerikaner J. McK. CATTELL (1860 bis 1944), ein Schüler WUNDT's, auf Anregung des Engländers GALTON (1822 bis 1911) bereits 1890 ein Buch über "Intelligenztests" (Mental tests and measurements). 1903 stellte der Franzose A. BINET (1857 bis 1911) seine berühmt gewordenen Skalen zur Intelligenzprüfung von Schulkindern auf (L'étude expérimentale des l'intelligence), und der Begründer der differentiellen Psychologie in Deutschland W. STERN (1871 bis 1938) schuf zur exakten Bestimmung des Intelligenzniveaus aus Testergebnissen den Intelligenz-Quotienten aus Intelligenz- und Lebensalter, eine Formel, die sich alsbald die Welt erobern sollte (Die differentielle Psychologie und ihre methodische Grundlagen, erstm. 1900). Dieses Beispiel angewandter Psychologie ist willkürlich herausgegriffen, andere Beispiele ließen sich an seiner Stelle anführen, beispielsweise die Entwicklung der Psychotechnik durch MÜNSTERBERG (1863 bis 1916) u. a. m. Es sollte hiermit nur gezeigt werden, daß in dem hier anvisierten Zeitraum eine Reihe angewandt-psychologischer Fragestellungen aus der pädagogischen, klinischen und industriellen Praxis herangereift waren, für deren Bewältigung das praktische und theoretische Rüstzeug zu erstellen war. Und gerade das machte die Umstellung und theoretische Neubegründung der Psychologie, deren Ausbau in Forschung und Lehre, inclusive der dafür erforderlichen wissenschaftlichen Laboratorien, Untersuchungs- und Experimantalreihen großen Umfangs erforderlich.

(2) Ich möchte im folgenden kurz auf das wissenschaftliche Präludium, auf einige wissenschaftliche Vorleistungen hinweisen, an die WUNDT anknüpfend, die Psychologie als Wissenschaftsgebiet aus der Taufe hob. Ich folge hierbei in wesentlichen einigen Grundgedanken von JAROSCHEWSKI (1975). Für die Umorientierung und Neubegründung der Psychologie sind vor allem zwei Vorgänge geltend zu machen, die die Ausgangssituation dafür bilden:

1. Die Ablösung der Psychologie von einer rein rationalistisch (metaphysisch) betriebenen Wissenschaft (einer Psychologie a priori), die vor allem durch das Aufkommen und den Einfluß des englischen Positivismus des 18. Jahrhunderts durch MILL und SPENCER unter Rückgriff auf den englischen Sensualismus von LOCKE, HOBBES, HUME und BERKELEY zustande kommt und von daher gefordert wird. Die Kritik des Positivismus an den metaphysischen Vorstellungen des Psychischen verbindet sich aufs engste mit der Forderung, die Psychologie zu einer positiven Wissenschaft zu machen, da nur positiv betriebene Wissenschaft - begründet auf Beobachtung, Experiment und Messung - den Weg zu einer wahren Erkenntnis des Psychischen eröffnet. So besteht z. B. nach MILL die Aufgabe der Wissenschaft darin, die Tatsachen des Bewußtseins zu erforschen; die Tatsachen des Bewußtseins sind aber, nach MILL, die Empfindungen, Vorstellungen und deren Verbindungen, von denen die Logik die wesentlichen hervorzuheben hat. SPENCER fordert ganz ähnlich, von den Erscheinungen des Bewußtseins auszugehen und alle Wissenschaft (inclusive Psychologie) darauf zu reduzieren. Diese sensualistische Reduktion des Bewußtseins auf bloße Empfindungen - und nur diese werden als positive Tatsachen betrachtet: denn die Substanz ist die Empfindung, nicht das Ding außerhalb derselben - kommt in dem von LOCKE aufgestellten Grundsatz des Sensualismus "nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu" und in dem bekannten Satz von BERKELEY "esse est percipi" besonders deutlich zum Ausdruck. Im Mittelpunkt steht also die Frage, wie kann das "Denken" aus den Sinneswahrnehmungen unmittelbar abgeleitet und erklärt werden. Dieser empirische Standpunkt, der nur die Empfindungen als die positive Quelle unserer Erkenntnis anerkennt ist zugleich auch eine Spielart des Reduktionismus, der erstens letzte unteilbare
Elemente (die Empfindungen) und entsprechende elementare Relationen (die Assoziationen) als Reduktionsbasis voraussetzt, auf die sämtliche komplizierten Gegebenheiten (z. B. die Vorstellungen) zurückführbar sind, und der zweitens voraussetzt, daß sämtliche Gegebenheiten von qualitativ gleicher Art sind, sich nur quantitativ durch die Anzahl der Elemente und Relationen bzw. durch den Grad der Komplexität voneinander unterscheiden. Diese, durch den Empirismus und Positivismus gesetzte erkenntnistheoretische Grundhaltung, bestimmt dann auch im wesentlichen den theoretischen Ansatzpunkt und den methodischen Zugang bei der experimentellen Analyse von Bewußteeinserscheinungen in der Psychologie. Sieht man sich daraufhin einmal den WUNDT'schen "Grundriß der Psychologie" von 1896 an, so verrät schon die Grobgliederung dieses Buches diese empiristische Grundhaltung. Die Kapitelüberschriften lauten nämlich:
- Die psychischen Elemente
- Die psychischen Gebilde
- Der Zusammenhang der Psychischen Gebilde
- Prinzipien und Gesetze der psychischen Kausalität. Ich komme auf die Begründung und Darstellung dieses Aufbaus noch einmal zurück.

2. Ein weiterer, ebenso bedeutsamer Ausgangspunkt für die Neuorientierung und Umgestaltung der Psychologie auf empirischer Basis am Ausgang des vergangenen Jahrhunderts bildet die Entdeckung der Psychologie in Grenzgebieten naturwissenschaftlicher Forschung und damit die Forderung und Hinwendung zu einer empirisch betriebenen Wissenschaft auf naturwissenschaftlicher Basis. Beide Prozesse, die Abwendung von einer rein rationalistisch betriebenen Psychologie, stimuliert durch den Positivismus, wie die exakte Behandlung psychologischer Fragestellungen, stimuliert durch die in den Grenzgebieten naturwissenschaftlicher Forschung auftretenden Probleme psychologischer Art sind eng miteinander verschränkt, geben bei der Neuorientierung und Konstituierung der Psychologie Hand in Hand. Die Entwicklung der Psychologie zu einer empirischen Wissenschaft wird also von zwei Seiten her gestützt und gefordert. Ich möchte mich bei der Darstellung der zweiten Entwicklungslinie kurz fassen, da diese hinreichend bekannt und mehrfach ausgearbeitet vorliegt.

Die damals sich rasch entwickelnde Physiologie stieß auf Erscheinungen, die, obgleich durch körperliche Vorgänge hervorgerufen, bereits auf den Bereich des Psychischen verwiesen. Die Erforschung vor allen der Sinnesorgane, ihrer anatomischen und physiologischen Eigenschaften brachte es mit sich, daß die von ihnen erzeugten Produkte, nämlich die sogenannten Empfindungen und Wahrnehmungen mit in den Kreis der Betrachtungen einbezogen werden mußten. Die Untersuchungen, vor allen Sinnes- und neurophysiologischer Art nötigten gewissermaßen dazu, dieses Gebiet zu überschreiten, ein neues zu betreten, auf dem die herkömmlichen Begriffe nicht mehr anwendbar waren. Aus diesem Grunde mußten Vorstellungen herangezogen werden, die einer ganz anderen Ordnung angehörten, als die in der Naturwissenschaft üblichen. Der Naturwissenschaftler sah sich genötigt, die Wirkungsweise eines ganz anderen Faktors, nämlich des Psychischen, in die Erklärung sinnes- und neurophysiologischer Befunde mit einzubeziehen. Der Physiologe sah sich also genötigt, mit Erscheinungen zu operieren, die keine Ähnlichkeit mit seinen gewohnten Objekten hatten. Es waren Erscheinungen, an die man weder mit Skalpell noch Mikroskop herangehen konnte. Es waren also vorwiegend Naturwissenschaftler, die das neue Gebiet der Psychologie betraten, mit psychischen Erscheinungen und Vorgängen bei ihrer Arbeit konfrontiert wurden. Damit war gleichzeitig die Forderung verbunden, ein Begriffssystem zur Beschreibung psychischer Sachverhalte aufzustellen, entsprechende theoretische Ansätze zur Erklärung dieser Sachverhalte zu entwickeln, wozu das herkömmliche Begriffssystem psychologischen Denkens nicht mehr ausreichte. Am Anfang dieser Entwicklung stehen die Arbeiten solcher bedeutender Naturforscher wie E. H. WEBER (1864 bis 1920), G. T. FECHNER (1801 bis 1887), J. MÜLLER (1801 bis 1858), H. v. HELMHOLTZ (1821 bis 1894), E. HERING (1834 bis 1918), F. C. DONDERS (1818 bis 1889), J. M. SETSCHENOW (1829 bis 1905). Sie u. a. m. standen an der Schwelle des sich neu konstituierenden Wissenschaftsgebietes. Jeder von ihnen lieferte auf seinem Gebiet einen entscheidenden und bleibenden Beitrag zu seiner Entwicklung und Herausbildung und half so, dieses Gebiet neu zu fundieren» Ich möchte auf diese Beiträge zur Grundlegung der Psychologie nicht im einzelnen eingehen, sondern es bei diesen Hinweisen bewenden lassen. Außerdem sind die hier geleisteten Beiträge hinreichend bekannt und in ihrer Bedeutung schon vielfach gewürdigt worden.
Ich möchte nur in einem Nebengedanken darauf verweisen, daß bereits SETSCHENOW (1863, Reflex und Gehirn) erste, originäre Vorstellungen über die Selbstregulation des Verhaltens lebender Systeme auf der Basis rückgekoppelter Reflexmechanismen entwickelt hat und damit Vorstellungen vorwegnahm, die erst viel später durch die Kybernetik systematisch und verallgemeinert weiterentwickelt wurden.

Die Umbildung psychologischen Denkens wurde nicht nur durch die beeindruckenden Ergebnisse physiologischer Forschungen, sondern auch durch die Entwicklung auf ganz anderen Gebieten wie Ethologie, Evolutionstheorie, Genetik, Antropologie, Psychiatrie u. a. m. entscheidend mit beeinflußt. Durch sie wurden dem psychologischen Denken völlig neue Aspekte eröffnet, die weit über das hinausführten, was eine metaphysisch-betriebene Psychologie zu leisten vermochte. Zur gleichen Zeit entstanden auch eine Vielzahl programmatischer Schriften, die eine Psychologie vom empirischen Standpunkt forderten (z. B. BENEKE 1833, DROBISCH 1842, WAITZ 1849, FORTLAGE 1855).

Diese Neuorientierung der Psychologie bedeutet natürlich nicht, daß die Psychologie nun völlig in die Naturwissenschaft einging. Das wäre ein zu extremer Wandel, und ihrer Verselbständigung kaum zuträglich gewesen. Die Psychologie mußte sich als selbständige und paritätische Wissenschaft gegenüber Naturwissenschaft und Philosophie neu konstituieren, und das erforderte zugleich, daß sie in dieser relativ unabhängigen Stellung, die sie anzustreben begann, auch ihr Verhältnis zu diesen beiden Gebieten auf einem neuen und veränderten Niveau herstellen mußte. Und gerade diese Aufgabe wurde vor allem durch WUNDT in hervorragender Weise geleistet und findet ihren Niederschlag in seinem grundlegenden Hauptwerk Grundzüge der Physiologischen Psychologie von 1874, das als das erste monumentale Standardwerk der neueren Psychologie betrachtet werden kann.

(3) Ich möchte in einem nächsten Schritt die Grundzüge der WUNDT'schen Psychologie im Abriß darstellen und stütze mich dabei im wesentlichen auf den Grundriß der Psychologie von 1896 und auf die Einführung in die Psychologie von 1911. Diese Darstellung halte ich deshalb für erforderlich, da die anderen, zum WUNDT'schen Werk komplementären Entwicklungslinien der Psychologie am Ausgang des vergangenen, Anfang dieses Jahrhunderts durch den Vergleich ihrer Grundannahmen verständlich werden. Die Auswahl gerade dieser beiden Werke liegt auch darin begründet, weil in ihnen das WUNDT'sche Denken seine endgültige Form angenommen hat. WUNDT verkörpert mit seinem Werk eine, wenn auch entscheidende Hauptentwicklungslinie damaliger Psychologie, die, wie sich zeigen wird, schon zu seinen Lebzeiten nicht unwidersprochen blieb.

WUNDT definiert in den genannten Werken den Gegenstand der Psychologie als Wissenschaft von der unmittelbaren (nicht inneren) Erfahrung, Er sagt: Die Bestimmung der Psychologie als Wissenschaft der inneren Erfahrung sei deshalb unzulänglich, weil sie das Mißverständnis erwecken kann, als habe sie es mit Gegenständen zu tun, die von denen der äußeren Erfahrung durchgängig verschieden seien. Nun gibt es nach WUNDT keine einzige Naturerscheinung, die nicht unter verändertem Gesichtspunkt Gegenstand psychologischer Untersuchung sein könnte. Insofern nämlich diese Naturerscheinungen Vorstellungen in uns erzeugen, sind sie Objekte der Psychologie, die über die Entstehungsweise der Vorstellungen sowie über ihr Verhältnis zu anderen Vorstellungen sowie zu den nicht auf äußere Gegenstände bezogenen Vorgängen Rechenschaft zu geben sucht. Die Vorstellungen, deren strukturelle Eigenschaften die Psychologie erforscht, sind dieselben, wie diejenigen, von denen der Naturforscher ausgeht. Hieraus folgt, daß Ausdrücke wie innere und äußere Erfahrung nicht verschiedene Gegenstande, sondern nur verschiedene Gesichtspunkte andeuten, die wir bei der Auffassung und bei der wissenschaftlichen Bearbeitung einer an sich einheitlichen Erfahrung anwenden. Der eine ist der der Naturwissenschaft: sie betrachtet die Gegenstande unserer einheitlichen Erfahrung in ihrer subjektunabhängigen Beschaffenheit, sozusagen als den objektiven Teil unserer Erfahrung; der andere ist der der Psychologie: sie untersucht den gesamten Inhalt unserer Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subjekt und in den von ihr unmittelbar beigelegten Eigenschaften. Demnach läßt sich der naturwissenschaftliche Standpunkt, insofern er aus einer Abstraktion von den subjektiven Elementen der Erfahrung hervorgeht als mittelbare Erfahrung, der psychologische, der diese Abstraktion wieder aufhebt, als unmittelbare Erfahrung bezeichnen.

Die unmittelbaren Erfahrungsinhalte, heißt es an anderer Stelle, sind unter allen Umstanden Vorgänge von zusammengesetzter Beschaffenheit. Jeder dieser Vorgänge ist ein zusammengesetztes Ganzes. Gegenüber einem derartigen komplexen Tatbestand bat die Psychologie drei Aufgaben zu lösen:
- Die Analyse der zusammengesetzten Vorgänge;
- der Nachweis der Verbindungen, den die aufgefundenen Elemente miteinander eingehen;
- die Ermittlung der Gesetze, die die Entstehung dieser Verbindungen bewirkten.

Die psychischen Elemente (Empfindungs- und Gefühlselemente) werden nach WUNDT als einfachste und unzerlegbare Bestandteile psychischen Geschehens angesehen, die mannigfache und wechselnde Verbindungen eingehen können.

Unter einem psychischen Gebilde versteht WUNDT jeden zusammengesetzten Bestandteil unserer unmittelbaren Erfahrung, die als eine relativ selbständige Einheit aufgefaßt wird. Alle vorfindbaren Gebilde sind in psychische Elemente zerlegbar. Jedoch die Eigenschaften der psychischen Gebilde werden niemals durch die Eigenschaften der psychischen Elemente erschöpft, die in sie eingehen. Vielmehr entstehen infolge der möglichen Verbindungen der Elemente immer neue Eigenschaften, die nur den Gebilden als solchen eigentümlich sind. Ferner sind psychische Gebilde sowie die in sie eingehenden Elemente niemals Objekte, sondern stets Vorgänge, die sich von einem zum anderen Moment verändern und nur für einen beliebigen Moment fixiert gedacht werden können. Da sich jedes psychische Gebilde aus einer Vielzahl elementarer Vorgänge zusammensetzt, die weder sämtlich in einem Moment zu beginnen noch aufzuhören pflegen, so reicht der Zusammenhang, der die Elemente zu einem Ganzen verbindet über dieses Moment hinaus» Diesen weiteren Zusammenhang der psychischen Vorgange bezeichnet WUNDT als Bewußtsein. Der Begriff des Bewußtseins bezeichnet nach ihm nichts, was neben den psychischen Vorgängen vorhanden wäre, es ist stets aktuell und unmittelbar erlebte Wirklichkeit. Als psychische Gesetze bezeichnet WUNDT jene Bildungsprinzipien, die von den Elementen ausgehend den Aufbau des Ganzen bewirken. So wird die Verbindung von Empfindungen zu komplexen Vorstellungen und diese wiederum zu Vorstellungskomplexen, wenn sie sich irgendwie regelhaft vollziehen, psychische Gesetze genannt werden können. Die Psychologie ist insofern eine streng empirische Wissenschaft, als sie aus den Elementen des Seelenlebens die Entstehung einfacher und komplexer psychischer Gebilde abzuleiten versucht. Es gibt nur eine Art psychologischer Kausalerklärung, und diese besteht in der Ableitung komplexer psychischer Vorgänge aus einfacheren. Das allgemeine Gesetz psychischer. Kausalität ist der Satz des Grundes selbst. Einen seelischen Vorgang verstehe ich, wenn ich ihn mit anderen tatsächlich gegebenen psychischen Vorgängen in eine Beziehung gemäß dem Prinzip der Verknüpfung von Grund und Folge zu bringen vermag (Logik III, 1919). Die allgemeinsten Prinzipien psychischen Geschehens formuliert WUNDT in zwei Grundgesetzen, in denen sich das Wesen der psychischen Kausalität zu erkennen gibt; diese sind:

- Das Resultanten-Gesetz: es findet in der Tatsache seinen Ausdruck, daß jedes psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die keineswegs als bloße Summe der Eigenschaften der Elemente anzusehen sind. Psychische Verbindungen stellen ein neues Erzeugnis dar, das in den Elementen seiner Anlage nach bereits vorgebildet ist, so daß weitere hinzutretende Bestandteile zu ihrer Entstehung nicht erforderlich sind.

- Das Relationen-Gesetz: es besagt, daß die psychischen Elemente eines Produkts in inneren Beziehungen zueinander stehen, aus denen das Produkt mit Notwendigkeit hervorgeht. Wie das Resultantengesetz für die synthetischen, so gilt das Relationengesetz für die analytischen Vorgänge des Bewußtseins, d. h., daß jede Zerlegung des Bewußtseinsinhalts immer auch zugleich ein Akt beziehender Analyse ist. Alle weiteren von WUNDT formulierten Gesetze psychischer Kausalität sind aus diesen beiden Grundgesetzen ableitbar.

Der für die Analyse der Bewußtseinsprozesse erforderliche methodische Zugang wird jedoch nicht nur durch diese beiden Gesetze bestimmt, sondern durch den angenommenen Charakter des Psychischen. WUNDT formuliert das im Prinzip der Aktualität des individuellen Bewußtseins. Nach diesem ist das Psychische niemals etwas in sich Ruhendes, sondern ein ständiges aktuelles Geschehen. Entsprechend dem Aktualitätsprinzip habe es die Psychologie des individuellen Bewußtseins nicht mit Objekten, sondern stets mit Prozessen zu tun. Aus diesem Grunde ist für WUNDT die Beobachtung Innerhalb der individuellen Psychologie im exakten Sinne ausgeschlossen. Psychisches als Geschehen ist nur mit den Mitteln des Experiments analysierbar, da jeder Vorgang nur aus seinen inneren Bedingungen heraus und nur über experimentelle Einwirkungen und Kontrollen erfaßt werden kann. Beobachtung wäre nur möglich, wenn es psychische Objekte gäbe, die vom Beobachter relativ unabhängig sind. Diese Voraussetzung ist für das individuelle Bewußtsein nicht erfüllt, wohl aber bei allen geistigen Erzeugnissen, die diesen Objektcharakter haben, weshalb WUNDT die Beobachtung als spezifische Methode der Völkerpsychologie zuordnet.

Gemäß dieser Teilung in eine Individual- und Völkerpsychologie verfügt die Psychologie, ähnlich wie die Naturwissenschaft, über zwei exakte Methoden: die erstere, die experimentelle Methode, dient nach WUNDT der Analyse einfacher psychischer Vorgänge; die zweite, die Beobachtung der allgemeingültigen geistigen Erzeugnisse, dient der Untersuchung der höheren psychischen Vorgänge. So weit die sehr kompakte, nur auf das Grundsätzliche beschränkte Darstellung der WUNDT'schen Psychologie. Für WUNDT's Psychologie sind folgende Eigenschaften typisch:

- Die Einschränkung des Gegenstandsgebietes auf das Bewußtsein;
- die Einschränkung des Bewußtseinsbegriffes auf die psychische Aktualität;
- die Einschränkung des Bewußtseinsbegriffes auf die unmittelbaren (aktuell vorhandenen) Erfahrungen;
- der reduktive Charakter des Kausalgesetzes, die Einschränkung seines Gültigkeitsbereiches auf das Gebiet des Psychischen;
- die Beschränkung der Anwendbarkeit des Experiments auf nur einfache, reizkontrollierbare psychische Vorgänge.

Die Hervorhebung gerade dieser Eigenschaften ist für die Abhebung paralleler Entwicklungslinien erforderlich. Die Beschränkung der Anwendbarkeit des Experiments auf das Gebiet der Sinnesempfindungen und der psychologischen Zeitmessung wurde von H. EBBINGHAUS (1850 bis 1909) und von G. E. MÜLLER (1850 bis 1934) auf dem Gebiet des Gedächtnisses und von O. KÜLPE (1862 bis 1915) auf dem Gebiet des Denkens überwunden. EBBINGHAUS hat mit seiner berühmt gewordenen Studie "über das Gedächtnis" von 1885 geradezu eine Pionierarbeit geleistet. Ausgehend von den beiden Grundbegriffen Vorstellung und Assoziation und unter Verwendung von Serien sinnfreier Silbenreihen hat er erstmals die Grundgesetze der Assoziation (hier speziell für die raum-zeitliche Kontiguität von Vorstellungsinhalten) im Experiment auf ihre Gültigkeit überprüft. In völlig anderer Weise hat dann KÜLPE, das Haupt der sogenannten Würzburger Schule (1894), den Forschungsbereich des Experiments auf Denk- und Willensvorgänge erweitert. KÜLPE hat seine Vorstellungen dazu sehr prägnant im Göttinger gel. Anz. von 1907 dargestellt: Die Elemente des Denkens lassen sich nicht auf Vorstellungen allein reduzieren, sondern sind wesentlich unanschaulicher, begrifflicher Art, und die Verknüpfung von Denkinhalten, der Denkverlauf, erfolgt nicht nach den Gesetzen der Assoziationen, sondern vermittelt durch Operationen. Das Denken, als eine produktive Tätigkeit, operiert mit Begriffen, und Begriffe sind unanschauliche Bewußtseinsinhalte. Zwar schienen die "Experimente" der Würzburger Schule selbst WUNDT nicht exakt genug zu sein, aber in der Art ihrer Sichtweise kann die Würzburger Schule als der Vorläufer der modernen kognitiven Psychologie betrachtet werden. Schon diese beiden Beispiele zeigen: seit ihrer Geburtsstunde und als Ausdruck ihrer stürmischen Entwicklung ist die Psychologie gekennzeichnet durch einen heftigen Prinzipienstreit hinsichtlich der konstituierenden Faktoren des Psychischen, des Bewußtseins. Dieser Prinzipienstreit, oft auch als Krise der Psychologie bezeichnet, ist aber ein notwendiger Schritt bei der Neuorientierung des Wissenschaftsgebiets und bedeutet nichts geringeres, als das Bemühen um die Gewinnung einer grundsätzlichen und einheitlichen Orientierung, die der Besonderheit der psychologischen Tatbestände adäquat ist, die der spezifischen methodisch-wissenschafts-theoretischen Eigenstruktur eines sich etablierenden Wissenschaftsgebietes gerecht wird.

Ich möchte im folgenden diesen Prinzipienstreit anhand einiger Entwicklungslinien der Psychologie deutlich machen und beschränke mich dabei auf die Grundgedanken von BRENTANO, der Gestaltpsychologie, der Strukturpsychologie und der Charakterologie. Alle diese Richtungen haben um WUNDT das psychologische Denken Ende des vergangenen, Anfang dieses Jahrhunderts entscheidend beeinflußt und geprägt und wirken bis in die Gegenwart hinein.

(4) Im gleichen Jahre (1874) , in dem die Grundzüge der Physiologischen Psychologie erschienen, erschien auch die Psychologie vom empirischen Standpunkt von F. BRENTANO (1898 bis 1927), die 1911 durch Nachträge zur Klassifikation psychischer Phänomene ergänzt wurde. Mit diesem Werk wird eine weitere Entwicklungslinie eingeleitet, die nicht nur die Entwicklung der Psychologie, sondern auch die der Philosophie (HUSSERL, HEIDEGGER) und im gleichen Maße wie WUNDT die psychologische Entwicklung vor allem in den USA nachhaltig beeinflussen sollte. BRENTANO war ein Vertreter der Österreichischen Schule, die durch MEINONG (1853 bis 1920), bekannt durch seine Gegenstandstheorie, etwa 1894 in Graz gegründet wurde. BRENTANO's Wirkung beruht vor allem darauf, daß er, im Unterschied zu WUNDT, an eine andere Traditionslinie anknüpfte, deren Ursprünge in der aristotelisch-scholastischen Philosophie des Früh- und Hochmittelalters lagen. Sowohl für ARISTOTELES als auch für AUGUSTINUS (354 bis 430) und THOMAS von AQUINO (1225 bis 1274) gelten die intensiones animi, die auf tätige Verwirklichung gerichteten geistigen Kräfte des Menschen als das bestimmende Prinzip allen seelischen Seins, und für THOMAS von AQUINO galt als ein erster Grundsatz, daß die Selbstgewißheit der Innerlichkeit eine auf die Außenwelt gerichtete Tätigkeit der Vernunft zur Voraussetzung habe, da nur durch eine solche Tätigkeit die Vernunft sich ihrer selbst bewußt werde. An diese Tradition anknüpfend gilt auch für BRENTANO als positive Bestimmung das, was die Scholastiker des Hochmittelalters die intentionale Inexistenz eines Gegenstandes im Bewußtsein genannt haben, womit die Beziehung (nicht die bloße Darstellung) auf ein Objekt gemeint ist, wenn man sich dieser bedienen will. Intentional ist den Scholastikern der Ausdruck dafür, daß etwas für das psychisch tätige Objekt, und nur in dieser Eigenschaft, seinem Bewußtsein gegenwärtig ist. Und genau diesen Grundsatz nimmt BRENTANO zum Ausgangspunkt seiner Theorie. Sie ist eine Psychologie der intentional definierten psychischen Akte. (Von daher stammt die nicht glückliche Bezeichnung Aktpsychologie). Für sie ist die Trennung von Inhalt und Akt wesentlich und geht zurück auf BOLZANO (dem böhmischen Leibnitz, 1771 bis 1848), der erstmals in seiner Wissenschaftslehre (1837) die Trennung zwischen psychologischem Vorgang und logischem Inhalt vornahm und eine Untersuchung der Logik unabhängig von psychologischen Vorgängen forderte. Diese Trennung zwischen Akt und Inhalt hält auch BRENTANO für wesentlich, da psychische Phänomene nicht nur nach ihrem Inhalt, sondern und vor allem nach der in sie eingehenden Beziehung des Subjekts auf den Inhalt bestimmt sind. Diese Gegenstandsbezogenheit und nicht nur die Gegenständlichkeit ist das entscheidende Merkmal psychischer Akte. In einem psychischen Akt wird diese Gegenstandsbezogenheit des Subjekts hergestellt. Im Unterschied zu WUNDT ist die strukturelle Beschaffenheit eines psychischen Gebildes nicht nur extentional durch eine Reiz-Empfindungs-Beziehung, sondern vor allem intentional durch eine Subjekt-Objekt-Beziehung bestimmt. In diesem Sinne interessieren z. B. an der Vorstellung nicht nur ihre gegenstandsinvarianten strukturellen Eigenschaften, sondern das zum Vorstellungsinhalt eingenommene Verhältnis und damit die Bedeutung, die ihm im Rahmen einer tätigen subjektiven Beziehung zukommt.

BRENTANO betrachtet die Intentionalität als ein Grundmerkmal psychischen Geschehens und hat danach versucht, Arten möglicher Objektbeziehungen zu definieren. Es unterscheidet drei Grundklassen, die er als Vorstellen, Urteilen und Bestreben bezeichnet, als Wesen des Bewußtseins von etwas. K. BÜHLER (1879 bis 1963) bewertet in "Die Krise der Psychologie" den BRENTANO'schen Ansatz etwa wie folgt: "Es ist das unvergängliche Verdienst Franz BRENTANO's, das Merkmal der Intentionalität, des ... Gerichtet- und Bezogenseins aller Erlebnisse, ..., begrifflich scharf erfaßt und gebührend gewürdigt zu haben." Die Ideen BRENTANO's hatten in Deutschland auf psychologischem Gebiet kaum eine Nachfolge, von C. STUMPF (1848 bis 1936), einem seiner Schüler, einmal abgesehen« Dagegen wurden sie in den USA lebhaft aufgegriffen. Die Auffassungen BRENTANO's wurden durch ANGELL (1869 bis 1949), einem Schüler von JAMES (1842 bis 1921), gewissermaßen auf eine praktische Ebene gerückt. In seiner Präsidialansprache als neugewählter Vorsitzender der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie im Jahre 1906 entwickelt ANGELL in "The province of functional psychology" programmatisch die Leitgedanken des Funktionalismus: - Functionalism is contrasted with structuralism. Structuralism addresses itself to contents; functionalism to operations ...
- Functionalism may be regarded as a movement that is interested in the utilities of mental processes
- Functlonalism may be tegarded as a characteristic method of dealing with the mind-body-problem. Regarding consciousness from the Darwinian standpint, as having some utility in adapting the organism to its envioroment, functionalism assumes an interplay between psychical and physical.

Wie aus den angeführten Zitaten ersichtlich, werden zwar wesentliche Grundgedanken BRENTANO's übernommen, doch reicht dies für die vollständige Kennzeichnung dieser Richtung nicht aus. Mit dem Begriff Intention verbindet sich zugleich eine an der entwicklungsbiologischen Erklärungsweise orientierte Auffassung von der Funktion des Psychischen, speziell des Bewußtseins. Der Begriff psychische Funktion wird intentional vor allem unter dem Aspekt der Verhaltensanpassung, der Adaption an Umweltbedingungen bestimmt, d. h., die mentalen Operationen oder die motorische Akte des Organismus werden in ihrer adaptiven Bedeutung gesehen« Gerade dieser Aspekt gewinnt in der damaligen Aera amerikanischer Psychologie zunehmend an Bedeutung. Der Behaviorismus übernimmt dann zwar dieses funktionalistische Konzept, aber unter Ausklammerung des Bewußtseins und strikter Beschränkung des psychologischen Forschungsgegenstandes auf die Verhaltensebene.

Der intentionale Aspekt des Bewußtseins wird erst viel später wieder aufgegriffen und unter dem Aspekt der strukturfunktionalen Einheit des Bewußtseins und aller psychischen Prozesse betrachtet und damit die konträre Stellung zwischen Strukturalismus und Funktionalismus aufgehoben.

(5) Die auf die Kurzformel gebrachte Spaltung in eine strukturalistische und eine funktionalistische Denkrichtung, ein Prinzipienstreit, der in den USA Anfang dieses Jahrhunderts stärker ausgetragen wurde als in Deutschland, ist nur ein Ausdruck des Ringens um die Gewinnung tragfähiger methodologischer Grundpositionen« Innerhalb des Strukturalismus, um einmal bei dieser Kennzeichnung zu bleiben, entbrannte nun abermals ein heftiger Prinzipienstreit, den man grob auf die Kurzformel einer Teil-Ganzes-Bestimmung psychischer Strukturen und ihrer Elemente bringen kann. Auch hier steht, wie so oft, die aristotelische Metaphysik Pate mit dem vielzitierten Satz: das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, diese organisieren sich von jenem her. In der Anerkennung des ersten Teils dieses Satzes waren sich wohl alle Psychologen einig, nicht so in der Anerkennung des zweiten Teils, der die Ganzbestimmtheit der Teile fordert. Diese kann nämlich einen doppelten Sinn haben. Sie kann erstens besagen, daß jeder Teil von der Totalität aufeinander wirkender Teile abhängt, dann ist die Teilbestimmung ein Produkt der Wechselwirkung; oder das Ganze ist im aristotelischen Sinne eine eigene Wesenheit, etwas gegenüber den Teilen Unabhängiges, letztes, Ursprüngliches, das den Teilen gegenüber absolute Priorität besitzt, aus den Teilen nicht ableitbar ist. Dieser Prinzipienstreit teilt die Psychologie nun abermals in zwei Lager, die man kurz mit Assoziationspsychologie und Ganzheits- und Gestaltpsychologie bezeichnen kann. Auf den speziellen Unterschied zwischen Ganzheits und Gestaltpsychologie möchte ich hier nicht eingehen, sondern mich bei der Kennzeichnung dieser Problematik auf die Grundannahmen der Gestaltpsychologie beschränken. Für WUNDT war eindeutig das Ganze durch die Natur der Elemente bestimmt. Er versuchte das Problem der Teil-Ganzes-Bestimmung psychischer Strukturen auf der Basis seines analytisch-synthetischen Ansatzes durch das Resultanten- und Relationengesetz zu erfassen; in seiner Einführung von 1911 heißt es: "Psychische Strukturen sind nicht das Produkt einer bloßen Addition ihrer Elemente, sondern ein neues Erzeugnis, das aber in jenen Elementen seiner Analyse nach bereits vorgebildet ist, so daß weitere Bestandteile zu seiner Entstehung weder erforderlich sind, noch überhaupt vom Standpunkt psychologischer Interpretation aus als für möglich gedacht werden können." WUNDT legte bei der Formulierung seiner Prinzipien den physikalischen Systembegriff zugrunde, nach dem Systemeigenschaften aus der Wechselwirkung der gegenseitigen kausalen Abhängigkeit seiner Bestandteile ableitbar sind. Die von EHRENFELS (1859 bis 1932), einem Vertreter der Grazer Schule, 1890 erstmals formulierten Gestaltkriterien, nämlich: die Gestalt ist mehr als die Summe ihrer Teile, und Gestalten sind transponierbar, sind noch rein deskriptiver Natur und setzen noch keine Ganz-Prioritäten. Dagegen liegt in seiner Kosmogonie (1916) die Bildung von Gestaltqualitäten der Primat des Ganzen vor den Teilen zugrunde; er schreibt: "Gestaltqualitäten sind positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits aus voneinander trennbaren (wenn auch nicht notwendig vorstellbaren) Elementen bestehen. Die Gestalt ist nicht die Summe der Teile und auch nicht aus der Natur derselben ableitbar. Sie tritt vor ihnen und unabhängig von ihnen ins Bewußtsein." EHREHFELS nimmt aber bei seiner Formulierung der Gestaltkriterien noch eine Art Mittelstellung ein. Einerseits die Anerkennung trennbarer Elemente, andererseits die Nichtableitbarkeit der Gestalt aus der Wechselwirkung der Elemente, sondern aus von ihnen unabhängig gedachten äußeren Gestaltprinzipien. Diese Auffassung wird auch durch WERTHEIMER (1880 bis 1943) in seiner Studie "Über das Sehen von Bewegungen" (1912) nicht wesentlich geändert, nämlich die Annahme besonderer Gestaltqualitäten, welche zu den Empfindungen hinzukommen, und er versucht nur dafür ein physiologisches Korrelat (Querfunktionen) zu formulieren.

Die endgültige Formulierung des Gestaltprinzips erfolgt dann durch KOPFKA (1886 bis 1941) und durch KÖHLER (1887 bis 1967) und ist gekennzeichnet durch die endgültige Aufgabe einer synthetischen Denkhaltung, die noch für EHRENFELS und WERTHEIMER galt. Diese Prinzipienrevision erfolgt durch KÖHLER in seiner Abhandlung "Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen" (1913) und besonders durch KOPFKA in seinem Forschungsbericht "Psychologie der Wahrnehmung" (1914) sowie in seiner Auseinandersetzung mit BENUSSI (1878 bis 1927) in "Zur Grundlegung der Wahrnehmungspsychologie" (1915). Im Mittelpunkt der Kritik steht die spezifisch belastete Grundannahme, welcher die traditionellen psychologischen Denkweise gewissermaßen als Rahmengesetz galt, die sogenannte Konstanzannahme der Empfindungstheorie, die eine strenge Reizbestimmtheit der Empfindungen postuliert: Über die Sinnesgegebenheiten entscheidet der Reiz. Der Unhaltbarkeit gerade dieser Auffassung nachzugehen, ist der Sinn der KÖHLER-KOFFKA'schen Polemik bei der Formulierung ihrer Gestalttheorie. Während KÖHLER in seiner Polemik die Unhaltbarkeit der Reizbestimmtheit der Empfindungen nachzuweisen versucht, polemisiert KOFFKA die These von der Empfindungsbestimmtheit unserer Wahrnehmung und postuliert nicht mehr die Wahrnehmung aus den Empfindungen, sondern die Empfindungen aus den Wahrnehmungen abzuleiten. Der Fundamentalgedanke, der hier erstmals entwickelt wird, ist das Prinzip vom Primat des Ganzen gegenüber dem Gestaltbegriff als einen spez. Erklärungsbegriff durch die Aufstellung sogenannter Gestaltgesetze zu verwenden und ihn nach der physiologischen Seite durch das Isomorphieprinzip zu unterbauen. Der hier behauptete Primat des Ganzen gegenüber dem Teil hat das Postulat von der Autarkie der Gestaltgesetzlichkeit zur Voraussetzung: Gestaltgesetzlichkeiten können in keiner Weise auf einfachere Erscheinungen zurückgeführt werden; sie sind vielmehr letzte Tatsachen von universellem Charakter, die als völlig in sich ruhend gelten. Die Aufstellung konkreter Gestaltgesetze bleibt dann die entscheidende Aufgabe für die Entwicklung eines gestalttheoretischen Systems. Der dahinterstehende Gedanke vom Primat des Ganzen auf der Basis einer angenommenen Autarkie der Gestaltgesetzlichkeit ist dann der eigentliche Kerngedanke für den Ansatz dieses Systems.

(6) WUNDT überweist der Volkerpsychologie das Gebiet psychologischer Untersuchungen, "welches sich auf jene psychischen Vorgange bezieht, die vermöge ihrer Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen an geistige Gemeinschaften gebunden sind" (Logik II, 2). "Sie ist die Lehre von der Volksseele und diese ist anzusehen als ein Erzeugnis der Einzelseelen, aus denen sie sich zusammensetzt, aber diese sind nicht minder Erzeugnisse der Volksseele, an der sie teilnehmen" (Völkerpsychologie I, 1). Als empirische Verwirklichung des Gesamtgeistes sind Sprache, Mythus und Sitte die Hauptgebiete der Völkerpsychologie. Wie diese Zitate verdeutlichen, werden auch hier die Prinzipien, die WUNDT der Analyse elementarer individueller Bewußtseinserscheinungen zugrundelegt, auf das Gegenstandsgebiet der Völkerpsychologie übertragen. Darin zeigt sich die durchgängig einheitliche methodologische Position WUNDT's. Daß die Einzelseelen nicht minder Erzeugnisse der Volksseele sind, diese Aussage wird nun durch eine ganz andere Entwicklungslinie der Psychologie, die noch ganz im Rahmen einer strukturalistischen Betrachtungsweise liegt, aber im wesentlichen nicht durch WUNDT bestimmt wird, prägnanter herausgearbeitet. Diese Entwicklungslinie bat sich in Deutschland unter der Bezeichnung Strukturpsychologie etabliert und wird im wesentlichen durch DILTHEY (1833 bis 1911) und SPRANGER (1882 bis 1963) eingeleitet und vertreten. Die Grundidee geht in Richtung auf eine "Objektivierung" des Gehalts individueller geistiger Strukturen. Was wird hier unter "Objektivierung" verstanden? SPRANGER erklärt in seinen Lebensformen (1914): "Indem ich das Subjekt mit seinem Erleben und Gestalten in die Gebilde der geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenbange verwoben denke ..., setze ich es in Beziehung zu gegenständlichen Gebilden und Objektivitäten." Diese Darstellung individueller geistiger Strukturen in ihrer Verflechtung mit objektiv-geistigen Strukturen ist allerdings mit den Mitteln einer erklärenden Psychologie, die alle Erscheinungen des Seelenlebens einem Kausalnexus vermittels einer begrenzten Anzahl von eindeutig bestimmbaren Elementen unterordnet, nicht zu leisten. Aus Bewußtseinspartikeln läßt sich, so SPRANGER, weder der Inhalt, noch die Bestimmung des Bewußtseins als Träger geistiger Prozesse und Strukturen ableiten. Die Struktur des Bewußtseins und der ihm eigentümliche Bestand ist nicht reduktiv, sondern im wesentlichen implementär bestimmt, d. h. durch dessen Einordnung in größere, übergreifend ideelle Zusammenhänge, denen sie entsprechen. In diesem Sinne sind subjektive Bewußtseinsstrukturen objektiv bestimmt. Das Subjektive, sagt SPRANGER, ist immer und überall durch das Objektive bestimmt, es verweist auf außerindividuelle Zusammenhänge, die dem Subjektiven wesentliche Rahmenbedingungen sind. Diese objektiv geistigen Strukturen sind nach SPRANGER als ein historisch-gesellschaftliches Entwicklungsprodukt anzusehen, das gesellschaftlich-historischen Veränderungen unterworten ist. Natürlich, und das muß an dieser Stelle gesagt werden, hat SPRANGER die Formen des objektiven Geistes nicht materialistisch definiert, in Abhängigkeit und in Wechselbeziehung zum materiellen gesellschaftlichen Sein. Sie haben bei ihm eine kulturgeschichtliche Eigengesetzlichkeit und -Struktur, die völlig unabhängig von materiellen gesellschaftlichen Sein gesehen wird. Aber der rationelle Kern ist wesentlich: nämlich, die Bestimmung Individueller Bewußtseinsstrukturen als psychologisches Problem erfolgt hier und erstmals auf der Basis und in Abhängigkeit gesellschaftlicher Bewußtseinsformen, wie auch immer definiert. In dieser Schärfe ist das Problem von keiner des bisher bekandelten Entwicklungslinien gesehen noch formuliert worden. Ich halte daher auch den nachfolgenden Prinzipienstreit über erklärende vs. verstehende Psychologie für ein nachgeordnetes Problem. Hier ging es zunächst um mehr, nämlich um die Bestimmung individueller Bewußtseinsstrukturen und deren Ableitung. Als Konsequenz dieser Gedankengänge ergibt sich nun, daß sich die gesellschaftlich-geschichtliche, geistige Wirklichkeit, so wörtlich, in Typen menschlicher Individualität durchsetzt, die SPRANGER als "Lebensformen" bezeichnet. In ihnen verbindet sich, so wörtlich, die Unmittelbarkeit des erlebnismäßigen Zugangs von dem individuellen Dasein her mit der Bezogenheit auf objektive gesellschaftlich-geschichtliche Zusammenhange, und diese sind im aktuellen Dasein der Individuen existent. Die von SPRANGER entwickelte Idealtypologie ist dann unmittelbar an den Formen des objektiven Geistes (Politik, Ökonomie, Religion, Wissenschaft etc.) orientiert. Das Ganze war als ein Entwurf gedacht, oder wie BÜHLER es nennt, ein Angebot an die Psychologie, und ist es auch geblieben.

(7) Eine weitere Entwicklungslinie, die sich zunächst ganz außerhalb des akademischen Rahmens anbahnt und auf die ich zum Abschluß noch kurz eingehen möchte, ist die sogenannte Charakterologie. In seiner Einleitung zum Grundriß (1913) sowie in der anschließend sehr ausführlich gehaltenen Literaturübersicht zu den allgemeinen Richtungen der Psychologie wird dieses Gebiet von WUNDT überhaupt nicht erwähnt. Zwar steckte dieses Gebiet noch in den Kinderschuhen, und die Anfänge waren vielleicht vom akademischen Standpunkt aus gesehen nicht sehr überzeugend. Als die wissenschaftlichen Neubegründer dieses Gebietes sind vor allem BAHNSEN (1830 bis 1881), er hat das Wort für dieses Gebiet geprägte mit seinen 1867 erschienenen "Beiträgen zur Charakterologie ..." (2 Bände) und danach L. KLAGES (1872 bis 1956) mit seinen 1910 erstmals erschienenen "Prinzipien der Charakterologie" anzusehen, die erste richtungsweisende Arbeiten auf diesem Gebiet geleistet haben, das sich alsbald zu einem mächtigen Strom psychologischer Forschungsarbeit ausweiten sollte. In diesen Zeitraum fallen auch die Anfänge der Psychoanalyse vor allem durch FREUD (1856 bis 1939), die ja ihrerseits einen gewichtigen Beitrag zur Entwicklung der Charakterologie beigesteuert hat. Ungeachtet der zahllosen Definitionen und der ebenso zahlreichen Ausrichtungen, die dieses Problemgebiet in seiner Entwicklungsphase erfahren hatte, das Grundanliegen läßt sich in Abgrenzung zur damals vorherrschenden "akademischen" oder aus der Sicht der Charakterologie so bezeichneten "mentalen" Psychologie doch auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Ihr geht es im wesentlichen darum, jene Individualkonstanten zu ermitteln, die als subjektive (nicht notwendig mentale) Bedingungen das Verbalten bestimmen und für die Verhaltensbestimmung sowohl explikative als auch prädiktive Eigenschaften besitzen. Dieses Anliegen ließ sich mit den Mitteln einer elementaristischen Bewußtseinsanalyse natürlich nicht bewältigen. Für die Analyse des Verhaltens waren ganz andere Bestimmungsstücke erforderlich. Die Charakterologie war vielmehr an der Klärung personaler Lebensprobleme interessiert und weitgehend praktisch orientiert. Insofern bildete die Charakterologie eine wesentliche Grundlagenwissenschaft für die Psychodiagnostik. Sie lieferte ihr die charakterologischen Konstrukte und die entsprechenden Konstrukt-Variablen (Eigenschaftssätze). Und es ist auch nicht von ungefähr, daß die Entwicklung und der Ausbau charakterologischer Systeme in nicht geringem Maße auf der Grundlage psychopathologischer Fragestellungen erfolgte und in der klinisch-psychologischen Praxis ein breites Anwendungs- und Bewährungsfeld fand. Auf dieser Basis entwickelten sich dann jene bekannten biologisch-genetisch oder psychopathologisch orientierten Temperamentslehren. Realtypologie und Schichtentheorien, durch die die Charakterologie ihren systematischen Ausbau erfuhr. In diese Zeit fallen auch eine Reihe von charakterologischen Untersuchungen, die die "objektiven Bestimmungsgründe" für die Charakterbildung zum Gegenstand hatten wie: Umwelt und Charakter, Geschlecht und Charakter, Konstitution und Charakter, Weltanschauung und Charakter, um nur einige zu nennen.

(8) Fragen wir zum Schluß nach der psychologiehistorischen Bedeutung der hier dargestellten Entwicklungslinien, so kann erstens damit der Beitrag gemeint sein, der ihnen für die Entwicklung der Psychologie historisch gesehen zukommt, oder es kann zweitens gemeint sein, was über den Ursprung hinaus an Erkenntnissen und Resultaten zum gesicherten und bleibenden Bestand gerechnet werden muß. Die zweite Frage kann ich im Rahmen meines Vortrages nicht beantworten, da dies die Darstellung der Ergebnisse en Detail zur Voraussetzung hätte, ich mich aber bei meinen Ausführungen auf die Darlegung von Grundpositionen beschrankt habe« Die Tragfähigkeit der einzelnen Grundpositionen, ihr Für und Wider gegeneinander abzuwägen, ist natürlich ein schwerwiegendes Unterfangen und bedarf einer sehr gründlichen und ausgewogenen psychologiehistorischen Forschungsarbeit.

Es ist wohl einer der bleibenden Verdienste W. WUNDT's, daß er erstmalig und konsequent den Strukturbegriff in die Psychologie einführte und ihn zur Grundlage einer einheitlichen und durchgehenden Analyse von Bewußtseinserscheinungen machte. WUNDT hat den Strukturbegriff in einer Welse definiert, die er auch heute noch für die Analyse z. B, kognitiver Strukturen und Prozesse besitzt und das ungeachtet der Tatsache, wie er die Elemente und Relationen festlegte und ungeachtet der Tatsache, auf welches Niveau individueller Bewußtseinserscheinungen er die strukturelle Analyse beschränkt wissen wollte. Und es ist ein ebenso bleibendes Verdienst, daß er von der Annahme ausging, daß die Strukturqualitäten gesetzmäßig aus der Natur der Elemente und ihrer Wechselwirkung abzuleiten sind und zu ihrer Erklärung nicht eines zusätzlichen Gestaltfaktors bedürfen« Sein Grundriß der Psychologie ist streng nach diesem Prinzip aufgebaut. KÜLPE hat nach ihm die strukturellen Bestimmungsstücke auf Begriffe und Operationen erweitert und damit die Grundlage auch für die Analyse höherer kognitiver Prozesse gelegt, trotz der noch bestehenden Unzulänglichkeiten im experimentellen Zugriff. Das Verdienst der Gestalttheorie (WERTHEIMER-KOFFKA-KÖHLER'sche Forschungsrichtung) liegt zweifellos darin, durch ein sehr umfangreiches, detailliertes experimentelles Tatsachenmaterial auf die Bedeutung der Gestaltphänomene aufmerksam gemacht zu haben, und dies hat uneingeschränkt Anerkennung gefunden und zu einer positiven Entwicklung psychologischer Forschung angeregt, insbesondere auf dem Gebiet der Wahrnehmung.

Jedoch hat sich der Erklärungsansatz, der sich mit dem Gestaltbegriff verbindet, insbesondere die deduktive Behandlung des WERTHEIMER -Problems durch KÖHLER (psycho-physische Gestalten) für die Theorienbildung als nicht durchführbar und lösbar erwiesen. Auch der vertretene Grundsatz vom Primat des Ganzen gegenüber dem Teil ist weder wissenschaftstheoretisch noch philosophisch haltbar.

BRENTANO kommt neben WUNDT das Verdienst zu, auf eine weitere wesentliche Bestimmung alles Psychischen hingewiesen zu haben, nämlich auf die Intentionalität aller psychischen Erscheinungen und Prozesse. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß psychische Strukturen intentional definiert sind, o. a. gesagt, daß psychische Erscheinungen eine strukturfunktionale Einheit bilden, wobei die Struktur im wesentlichen durch die Funktion bestimmt wird, die sie zu erfüllen hat. In diesem Sinne heißt intentional bestimmt eine bestimmte Funktion haben, was ja für jedes kognitive Abbild, für jede konkrete Handlung gilt. Der Strukturpsychologie, auf ihren rationalen Kern gebracht, kommt das historische Verdienst zu, Inhalt und Struktur des Individuellen Bewußtseins implementär zu bestimmen, und das bedeutet nichts anderes, als von den gesellschaftlich-historischen Bewußtseinsformen auszugehen und ihren bestimmenden Einfluß auf die individuelle Bewußtseinsausrichtung zu ermitteln. Daß die Ausbildung individueller Bewußtseinsformen an materielle gesellschaftliche Verhältnisse gebunden ist und einen klassenspezifischen Inhalt trägt, das blieb für die Vertreter dieser Richtung spätbürgerlicher Psychologie und der ihnen auferlegten Beschränkungen außer Betracht. Die Charakterologie schließlich hat in ihrer Entwicklung ein völlig anderes Feld psychologischer Forschung eröffnet und erschlossen, deren wesentlicher Ertrag darin lag, Verhaltensdeterminanten zu bestimmen, die über das hinausging, was im Gegenstandsbereich bewußtseinspsychologischer Forschung lag. Sieht man einmal von den jeweiligen Charakterbegriffen ab, die oft sehr mythologisch anmuteten, so lieferte sie eine Reibe positiver Konstrukt-Variablen, die in die Entwicklung psychodiagnostischer Systeme Eingang fanden. Die Vielgestaltigkeit an Prinzipien, die sich in der Anfangsphase der Entwicklung der Psychologie als eine sich verselbständigenden Wissenschaftsdisziplin herausbildeten, haben, so meine ich, Wesentliches zu ihrem Fortschritt beigetragen. Die Problemstellungen, die sich damals der noch jungen Wissenschaft eröffneten, gehören heute keineswegs in die Requisitenkammer unseres Fachgebietes, Sie sind ein historisches Erbe, das es aufzuarbeiten gilt, will man den erreichten Fortschritt richtig bemessen.
 
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