Vierzehnter Abschnitt.

Die Tonalität der homophonen Musik.

Die Musik hat sich das Material, in welchem sie ihre Werke schafft, selbst künstlerisch auswählen und gestalten müssen. Die bildenden Künste finden es der Hauptsache nach vorgebildet in der Natur, die sie nachzuahmen streben; Farben und Gestalten sind dort in ihren Grundzügen gegeben. Die Poesie findet es in den Worten der Sprache fertig vorgebildet. Die Architektur freilich muß sich ihre Formen ebenfalls selbst schaffen; aber sie werden ihr zum Teil durch technische, nicht rein künstlerische Rücksichten aufgedrängt. Die Musik allein findet ein unendlich reiches, ganz ungeformtes und ganz freies Material vor in den Tönen der menschlichen Stimme und der künstlichen Musikinstrumente, welches nach rein künstlerischen Prinzipien zu gestalten ist, ohne daß Nützlichkeitsrücksichten wie in der Architektur, oder Nachahmung der Natur wie in den bildenden Künsten, oder schon fertig vorgefundene symbolische Bedeutung der Klänge wie in der Poesie irgend eine Schranke anlegten. In der Musik herrscht eine größere und vollkommenere Freiheit im Gebrauch des Materials als in irgend einer der anderen Künste. Aber von der absoluten Freiheit ist es freilich schwerer einen richtigen Gebrauch zu machen, als wo äußere zwingende Anhaltspunkte die Breite des Weges einschränken, welchen der Künstler zu betreten hat. Daher denn auch die Ausbildung des Tonmaterials für die Musik, wie wir gesehen haben, viel langsamer vonstatten gegangen ist, als die Entwickelung der übrigen Künste.

Diese Ausbildung des Tonmaterials haben wir nun zu untersuchen.

Die erste Tatsache, welche uns entgegentritt, ist, daß in der Musik aller Völker, so weit wir sie kennen, die Veränderung der Tonhölle in den Melodien stufenweise und nicht in kontinuierlichem Übergange erfolgt. Der psychologische Grund dazu scheint derselbe gewesen zu sein, welcher zur Abteilung rhythmisch sich wiederholender Taktabschnitte genötigt hat. Alle Melodie ist eine Bewegung innerhalb der wechselnden Tonhöhe. Das unkörperliche Material der Töne ist viel geeigneter, in jeder Art der Bewegung auf das Feinste und Fügsamste der Absicht des Musikers zu folgen, als irgend ein anderes noch so leichtes körperliches Material; anmutige Schnelligkeit, schwere Langsamkeit, ruhiges Fortschreiten, wildes Springen, alle diese verschiedenen Charaktere der Bewegung und noch eine unzählbare Menge von anderen lassen sich in den mannigfaltigsten Schattierungen und Kombinationen durch eine Folge von Tönen darstellen, und indem die Musik diese Arten der Bewegung ausdrückt, gibt sie darin auch einen Ausdruck derjenigen Zustände unseres Gemütes, welche einen solchen Charakter der Bewegung hervorzurufen im Stande sind, sei es nun, daß es sich um Bewegungen des menschlichen Körpers oder der Stimme, oder noch innerlicher, selbst um Bewegung der Vorstellungen im Bewußtsein handeln möge. Jede Bewegung ist uns ein Ausdruck der Kräfte, durch welche sie hervorgebracht wird, und wir wissen instinktiv die treibenden Kräfte zu beurteilen, wenn wir die von ihnen hervorgebrachte Bewegung beobachten. Dies gilt ebenso und vielleicht noch mehr für die durch Kraftäußerungen des menschlichen Willens und der menschlichen Triebe hervorgebrachten Bewegungen, wie für die mechanischen Bewegungen der äußeren Natur. In dieser Weise kann denn die melodiöse Bewegung der Töne Ausdruck werden für die verschiedensten menschlichen Gemütszustände, nicht für eigentliche Gefühle — darin müssen wir Hanslick anderen Ästhetikern gegenüber Recht geben, denn es fehlt der Musik das Mittel, den Gegenstand des Gefühls deutlich zu bezeichnen, wenn ihr nicht die Poesie zu Hilfe kommt, —wohl aber für die Gemütsstimmung, welche durch Gefühle hervorgebracht wird. Das Wort Stimmung ist offenbar von der Musik entnommen und auf Zustände unserer Seele übertragen; es sollen dadurch eben diejenigen Eigentümlichkeiten der Seelenzustände bezeichnet werden, welche durch Musik darstellbar sind, und ich meine, wir können es passend so definieren, daß wir unter Gemütsstimmung zu verstehen haben den allgemeinen Charakter, den zeitweilig die Fortbewegung unserer Vorstellungen an sich trägt, und der sich dem entsprechend auch in einem ähnlichen Charakter der Bewegungen unseres Körpers und unserer Stimme zu erkennen gibt. Unsere Gedanken können sich schnell oder langsam bewegen, sie können ruhelos und ziellos herumirren in ängstlicher Aufregung, oder mit Bestimmtheit und Energie ein festgesetztes Ziel ergreifen; sie können sich behaglich und ohne Anstrengung in angenehmen Phantasien herumtreiben lassen, oder an eine traurige Erinnerung gebannt, langsam und schwerfällig von der Stelle rücken in kleinen Schritten und kraftlos. Alles dieses kann durch die melodische Bewegung der Töne nachgeahmt und ausgedrückt werden, und es kann dadurch dem Hörer, der dieser Bewegung aufmerksam folgt, ein vollkommeneres und eindringlicheres Bild von der Stimmung einer anderen Seele gegeben werden, als es durch ein anderes Mittel, ausgenommen etwa durch eine sehr vollkommene dramatische Nachahmung der Handlungsweise und Sprechweise des geschilderten Individuums, geschieht.

Übrigens hat schon Aristoteles die Wirkung der Musik ganz ähnlich aufgefaßt. Im 29sten Probleme fragt er: "Warum passen die Rhythmen und die Melodien, welche Schall sind, sich den Gemütsstimmungen an, die Geschmäcker aber nicht, und auch nicht die Farben und die Gerüche? Etwa weil sie Bewegungen sind, so wie auch die Handlungen ? Schon die darin liegende Energie beruht auf einer Stimmung und macht eine Stimmung. Die Geschmäcker aber und Farben tun es nicht in gleicher Weise." Und am Ende des 27sten Problem sagt derselbe: "Diese Bewegungen (der Rhythmen und Melodien nämlich) sind tatkräftig, Taten aber sind die Zeichen der Gemütsstimmung."

Nicht bloß Musik, sondern auch andere Arten der Bewegung können ähnliche Wirkungen hervorbringen. Namentlich bietet das bewegte Wasser, sei es in Wasserfällen, sei es im Wogen des Meeres, das Beispiel eines Eindrucks, der einem musikalischen einigermaßen ähnlich ist. Wie lange und wie oft kann man am Ufer sitzen und den anlaufenden Wogen zusehen! Ihre rhythmische Bewegung, welche doch im Einzelnen fortdauernden Wechsel zeigt, bringt ein eigentümliches Gefühl von behaglicher Ruhe ohne Langeweile hervor, und den Eindruck eines mächtigen, aber geordneten und schön gegliederten Lebens. Wenn die See ruhig und glatt ist, kann man sich eine Weile an ihren Farben freuen, aber sie gewährt keine so dauernde Unterhaltung, als wenn sie wogt. Kleine Wellen dagegen auf kleineren Wasserflächen folgen sich zu hastig und beunruhigen mehr, als daß sie unterhalten.

Die Tonbewegung aber ist allen Bewegungen körperlicher Massen überlegen in der Feinheit und Leichtigkeit, mit der sie die mannigfaltigsten Arten des Ausdrucks annehmen und nachahmen kann, daher ihr die Schilderung der Stimmungen hauptsächlich zufallt, welche die übrigen Künste nur mittelbar erreichen können, indem sie die Veranlassungen darstellen, welche die Stimmung hervorgebracht haben, oder die Worte, die Handlungen, die äußere Erscheinung des Körpers, die aus ihr folgen. Am bedeutendsten ist die Verbindung der Musik mit dem Worte, weil das Wort die Veranlassung der Stimmung, das Objekt, worauf sie sich bezieht, bezeichnen und das Gefühl, welches ihr zu Grunde liegt, angeben kann, während die Musik die Art der Gemütsbewegung ausdrückt, die dem Gefühle verbunden ist. Wenn verschiedene Hörer den Eindruck von Instrumentalmusik zu schildern suchen, tun sie es oft, indem sie ganz verschiedene Situationen oder Gefühle angeben, welche in der Musik geschildert worden seien. Der Unkundige verlacht dann wohl solche Enthusiasten, und doch können sie alle mehr oder weniger Recht haben, weil die Musik nicht die Gefühle und Situationen schildert, sondern nur die Stimmungen, welche der Hörer aber nicht anders zu bezeichnen weiß, als durch Schilderung solcher äußeren Verhältnisse, unter denen dergleichen Stimmungen bei ihm einzutreten pflegen. Es können aber verschiedene Gefühle unter verschiedenen Umständen und bei verschiedenen Individuen gleiche Stimmungen, und gleiche Gefühle verschiedene Stimmungen hervorbringen. Liebe ist ein Gefühl. Direkt als solche kann sie nicht durch die Musik dargestellt werden. Die Stimmungen eines Liebenden können bekanntlich den äußersten Grad des Wechsels zeigen. Nun kann die Musik etwa das träumerische Sehnen nach überschwänglicher Glückseligkeit ausdrücken, welches durch Liebe hervorgerufen werden kann. Genau dieselbe Stimmung kann aber auch durch religiöse Schwärmerei entstehen. Wenn also ein Musikstück diese Stimmung ausdrückt, liegt kein Widerspruch darin, wenn der eine Hörer darin die Sehnsucht der Liebe, der andere die Sehnsucht frommer Begeisterung findet. In diesem Sinne ist Vischer's etwas paradox klingender Ausdruck nicht unrichtig, daß man die Mechanik der Gemütsbewegungen vielleicht am besten werde an ihrem musikalischen Ausdrucke studieren können. In der Tat besitzen wir kein anderes Mittel, sie so genau und fein auszudrücken, wie das ihrer musikalischen Darstellung.

Es soll also, wie wir gesehen haben, die Melodie eine Bewegung ausdrücken, und zwar so, daß der Charakter dieser Bewegung sich der unmittelbaren Wahrnehmung des Hörers leicht, deutlich und sicher zu erkennen gibt. Dies kann nur geschehen, wenn die Schritte dieser Bewegung, ihre Schnelligkeit, ihre Größe auch für die unmittelbar sinnliche Wahrnehmung genau abmeßbar sind. Die melodische Bewegung ist Veränderung der Tonhöhe in der Zeit. Um sie vollständig zu messen, muß sowohl die Länge der verlaufenden Zeit. als auch die Breite der Veränderung in der Tonhöhe meßbar sein. Beides kann für die unmittelbare Beobachtung nur geschehen, wenn der Fortschritt sowohl in der Zeit, als in der Tonhöhe, in regelmäßigen und fest bestimmten Stufen geschieht. Für die Zeit ist dies unmittelbar klar, denn alle unsere Zeitmessung, auch die wissenschaftliche, beruht auf der rhythmischen Wiederkehr gleicher Ereignisse, auf dem Umlauf der Erde, des Mondes, den Schwingungen des Pendels. So erhalten wir auch durch den regelmäßigen Wechsel akzentuierter und nicht akzentuierter Laute in Musik und Poesie das dem Kunstwerk mitgegebene Zeitmaß. Während aber in der Poesie der Versbau nur dazu dient, auch in die äußerlichen Zufälligkeiten des Sprachausdrucks künstlerische Ordnung zu bringen, gehört in der Musik der Rhythmus, gleichsam als der geteilte Maßstab für die Zeit, zum innersten Wesen ihres Ausdruckes; daher denn auch eine viel feinere und mannigfaltigere Ausbildung des musikalischen Rhythmus als des poetischen nötig wurde.

Auch für die Änderung der Tonhöhe ist stufenweiser Fortschritt nötig, weil überhaupt Bewegung für die Anschauung nicht anders abzumessen ist, als wenn die Breite des durchmessenen Raumes in Stufen abgeteilt ist. Auch in wissenschaftlichen Untersuchungen können wir ja die Geschwindigkeit einer kontinuierlichen Bewegung nicht anders messen, als indem wir den durchlaufenen Raum mit dem Maßstabe messen, wie die Zeit durch die Sekundenschläge.

Man könnte mir einwerfen, daß die Architektur in ihren Arabesken, welche man in vielen Beziehungen und mit Recht mit musikalischen Figuren verglichen hat, und welche ebenfalls einen gewissen Ausdruck geordneter Bewegung in sich tragen, vielfältig kontinuierlich gekrümmte Linien, statt stufenförmig gebrochener anwendet. Aber erstens begann die Kunst der Arabesken in der Tat mit der griechischen Mäanderlinie, welche aus rechtwinklig gestellten geraden Linien zusammengesetzt ist, die in genau gleichen Abständen von einander verlaufen und stufenförmig sich absetzen. Zweitens kann das Auge, welches Arabesken überschaut, alle Teile der geschwungenen Linie gleichzeitig übersehen und vergleichen, es kann hin- und hergehen, das früher Gesehene wiedersehen; daher bleibt die Führung der Linien trotz ihrer kontinuierlichen Krümmung vollständig übersichtlich, und es konnte die strengere Regelmäßigkeit der griechischen Arabeskenmuster mit gutem Erfolge für die Freiheit dieses Kunstzweiges aufgegeben werden. Während aber so in den einzelnen kleinen Verzierungen der Architektur freiere Formen zugelassen sind, wird für die Gliederung eines größeren Ganzen, sei es einer Arabeskenreihe oder der. Reihe der Fenster, Säulen u. s. w. eines ganzen Gebäudes, doch immer das einfache arithmetische Gesetz der stufenweisen Wiederholung gleicher Teile in gleichen Abständen festgehalten.

Von einer Melodie treten uns die einzelnen Teile nach einander an das Ohr, wir können sie nicht alle zugleich in der Wahrnehmung haben, wir können nicht nach Belieben beobachtend vor- und zurückgehen, es bleibt also für eine klare und sichere Abmessung des Wechsels der Tonhöhe kein anderes Mittel, als der Fort- schritt in fest bestimmten Stufen. Eine solche Stufenreihe ist vorgeschrieben in der musikalischen Tonleiter. Wenn der Wind heult, und seine Tonhöhe in allmählichen Übergängen ohne Absatz bald steigt, bald fällt, so fehlt diesen Veränderungen der Tonhöhe jedes Maß, mittels dessen wir die späteren Laute mit den früheren vergleichen und die Breite der Veränderung überschauen könnten. Das Ganze macht einen wirren und unangenehmen Eindruck. Die musikalische Tonleiter ist gleichsam der eingeteilte Maßstab, an dem wir den Fortschritt in der Tonhöhe messen, wie der Rhythmus dasselbe für die Zeit ist. Die Analogie zwischen Tonleiter und Rhythmus ist deshalb auch den musikalischen Theoretikern der ältesten wie der jüngsten Zeit immer aufgefallen.

Darüber also finden wir von der ältesten Zeit bis zur neuesten und bei allen Nationen, die überhaupt musizieren, allgemeinste Übereinstimmung, daß von den unendlich vielen kontinuierlich in einander übergehenden Graden der Tonhöhe, welche möglich sind und vom Ohre wahrgenommen werden können, gewisse bestimmte Stufen ausgeschieden werden, welche die Tonleiter bilden, in der sich die Melodie bewegt. Welche besonderen Tonstufen aber ausgewählt werden, ist eine Frage, bei deren Entscheidung die Abweichungen des nationalen Geschmacks sichtbar werden, denn die Zahl der Tonleitern, welche bei verschiedenen Völkern und in verschiedenen Zeiten gebraucht worden sind, ist ziemlich groß.

Fragen wir also, welcher Grund kann da sein, wenn wir von einem gewissen Anfangstone ausgehen, den Schritt nach irgend einem bestimmten anderen Tone zu bevorzugen vor den Schritten nach seinen Nachbartönen? Wir erinnern uns dabei, daß schon beim Zusammenklange je zweier Töne ein solches Verhältnis von uns bemerkt worden ist. Es ergab sich dort, daß gewisse besondere Tonintervalle, nämlich die Konsonanzen, sich im Zusammenklange vor allen von ihnen auch nur wenig verschiedenen Intervallen durch den Mangel der Schwebungen auszeichneten. Einige dieser Intervalle, die Oktave, die Quinte und Quarte finden wir nun auch in allen bekannten Tonleitern wieder. Die neueren Theoretiker, welche im Systeme der harmonischen Musik aufgewachsen waren, haben deshalb geglaubt, den Ursprung der Tonleiter durch die Annahme erklären zu können, daß alle Melodie entstehe, indem man sich eine Harmonie dabei denke, und die Tonleiter, als die Hauptmelodie der Tonart, entstanden sei durch Auflösung der Grundakkorde der Tonart in ihre einzelnen Töne. Diese Ansicht ist für die modernen Tonleitern allerdings richtig; wenigstens sind diese modifiziert worden nach den Erfordernissen der Harmonie. Aber Tonleitern sind historisch längst vorhanden gewesen, noch ehe irgend welche Erfahrungen über Harmonie vorlagen. Und wenn man in der Geschichte der Musik überblickt, wie lange Zeit die europäischen Musiker gebraucht haben, um eine Melodie harmonisch begleiten zu lernen, und wie ungeschickt die ersten Versuche darin ausfielen, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß ein Gefühl für harmonische Begleitung bei den älteren Komponisten der homophonen Musik keineswegs existiert habe, so wie sich denn auch jetzt noch viele der begabteren Orientalen gegen unsere harmonische Musik sträuben. Auch das ist zu beachten, daß viele Volksmelodien, teils aus älterer Zeit, teils fremdländischen Ursprungs, kaum eine harmonische Begleitung zulassen, die ihren Charakter nicht zerstört.

Eben so ist es mit Rameau's Annahme eines subintendierten Fundamentalbasses bei der Konstruktion einer einstimmigen Melodie oder einer Tonleiter. Ein neuerer Komponist wird sich allerdings meist sogleich den Fundamentalbaß zu einer Melodie denken, die er erfindet. Aber Musiker, welche noch nie harmonische Musik gehört haben, und keine solche zu setzen verstehen, wie sollen die es können ? Es ist hier offenbar dem allerdings unbewußt viele Beziehungen herausfühlenden Künstlergeiste zu viel zugemutet, wenn man behauptet, er solle Beziehungen der Töne beachten, die er nie oder wenigstens nur selten mit leiblichem Ohre vernommen hat, und die erst eine ferne Nachwelt herauszufinden und zu benutzen bestimmt war.

Aber wenn es auch klar ist, daß in den Perioden der rein homophonen Musik die Tonleiter nicht nach den Bedürfnissen unbewußt dazu gedachter Akkordverbindungen konstruiert werden konnte, so kann doch die angeführte Ansicht und Hypothese der Musiker in etwas abgeänderter Fassung einen Sinn erhalten, wenn wir nämlich annehmen, daß dieselben physikalischen und physiologischen Beziehungen der Klänge, welche sich bei den Zusammenklängen geltend machen und die Große der konsonanten Intervalle bestimmen, auch in der Konstruktion der Tonleiter, wenn auch unter abgeänderten Bedingungen, wirksam sein können.

Beginnen wir mit der Oktave, deren Beziehung zum Grundtone die auffallendste ist. Es sei irgend eine Melodie von irgend einem Instrumente, welches eine gute musikalische Klangfarbe hat, etwa einer menschlichen Stimme, ausgeführt worden, so hat der Hörer außer den Grundtönen der Klänge auch deren höhere Oktaven und schwächer die übrigen Obertöne gehört. Wenn nun eine höhere Stimme dieselbe Melodie nachher in der höheren Oktave ausführt, so hören wir einen Teil dessen wieder, was wir eben gehört haben, nämlich die geraden Teiltöne der früheren Klänge, und wir hören dabei nichts Neues, was wir nicht schon gehört hätten. Es ist daher Wiederholung einer Melodie in der höheren Oktave eine wirkliche Wiederholung des schon Gehörten, zwar nicht des Ganzen, aber doch eines Teils. Wenn wir eine tiefe Stimme von einer höheren in der Oktave begleiten lassen, die einzige mehrstimmige Musik, welche die Griechen anwendeten, so fügen wir der tieferen nichts Neues hinzu, sondern verstärken nur die geradzahligen Teiltöne derselben. In diesem Sinne sind also die Klänge einer höheren Oktave wirkliche Wiederholungen der Klänge der tieferen Oktaven, wenigstens eines Bestandteils derselben. Daher ist die erste und oberste Haupteinteilung unserer musikalischen Skala die in eine Reihe von Oktaven, und wir betrachten in Beziehung auf Melodie und Harmonie die gleichnamigen Töne verschiedener Oktaven als gleichgeltend, was in dem angegebenen Sinne und bis zu einer gewissen Grenze richtig ist. Die Begleitung in der Oktave gibt vollkommene Konsonanz, aber sie gibt nichts Neues, sondern nur eine. Verstärkung schon vorhandener Töne. Sie ist deshalb musikalisch anwendbar zur Verstärkung einer Melodie, welche kräftig herausgehoben werden soll, aber ihr fehlt die Mannigfaltigkeit der polyphonischen Musik, sie erscheint daher eintönig, und ist verboten, wo die Musik polyphonisch sein soll.

Was von der Oktave gilt, gilt in geringerem Grade auch von der Duodecime. Wird eine Melodie in der Duodecime wiederholt, so wird ebenfalls schon Gehörtes wieder gehört, nur daß der Bestandteil des Gehörten, welcher wiederholt wird, viel schwacher ist, indem nur der dritte, sechste, neunte u. s. w. Teilton wieder angegeben werden, während bei der Wiederholung in der Oktave für den dritten der stärkere zweite und vierte, für den neunten der achte und zehnte auftreten u. s. w. Die Wiederholung der Melodie in der Duodecime ist also unvollkommener, als die in der Oktave, weil nur ein kleinerer Teil des Gehörten wiederholt wird. Statt ihrer kann nun auch die Wiederholung eine Oktave tiefer in der Quinte eintreten. Die Wiederholung in der Quinte ist keine reine Wiederholung, wie es die Wiederholung in der Duodecime ist. Wenn die Schwingungszahl des Grundtones 2 ist, so sind Teiltöne

                                                des Grundklanges     2     4     6     8     10     12
                                                der Duodecime                       6                     12
                                                der Quinte                  3           6         9         12

Wenn wir die Duodecime angeben, wiederholen wir die Töne 6 und 12, die schon im Grundklange waren. Wenn wir die Quinte angeben, wiederholen wir zwar dieselben Töne auch, aber wir bringen noch neue Töne, nämlich 3 und 9, hinzu. Bei der Wiederholung in der Quinte ist also nur ein Teil des Neuen identisch mit einem Teile des früher Gehörten, aber es ist die am meisten vollkommene Wiederholung, die wir in einem kleineren Abstande als einer Oktave machen können. Hiervon rührt es offenbar her, daß man noch jetzt ungeübte Sänger, wenn sie mit anderen im Chore ein Lied singen wollen, welches ihrer Stimmlage nicht paßt, oft in der Quinte mitsingen hört, worin sich recht deutlich ausspricht, daß auch dem ungebildeten Ohre die Wiederholung in der Quinte als eine natürliche Wiederholung erscheint. Systematisch soll dies Mitsingen in der Quinte und Quarte in den früheren Zeiten des Mittelalters ausgebildet gewesen sein. Aber auch in der neueren Musik spielt die Wiederholung in der Quinte eine hervorragende Rolle nächst der Wiederholung in der Oktave. In den normalen Fugen wird bekanntlich das Thema zunächst in der Quinte wiederholt; in der Normalform der Instrumentalstücke, der der Sonate, wird das Thema im ersten Satze in die Quinte hinübergeführt, um im zweiten Teile im Grundtone wiederzukehren. Diese Art unvollkommener Wiederholung des Eindrucks in der Quinte hat denn auch die Griechen veranlaßt, die Breite der Oktave noch einmal zu teilen in zwei äquivalente Abschnitte, nämlich in zwei Tetrachorde. Unsere Durtonleiter, nach diesem Prinzipe abgeteilt, würde lauten:

Die Tonfolge des zweiten Tetrachords ist eine Wiederholung der Tonfolge des ersten, eine Quinte höher verlegt. Um in die Oktaventeilung zu passen, müssen die Tetrachorde abwechselnd getrennt und verbunden an einander gereiht werden. Verbunden nennt man sie, wenn wie zwischen II und III der letzte Ton c des unteren auch der erste des oberen ist; wenn dagegen wie in I und II der letzte Ton des unteren vom ersten des oberen verschieden ist, so heißen sie getrennt. In dem zweiten Tetrachorde g — c mußte jede aufsteigende Tonreihe schließlich zu c als Schlußton leiten, welches gleichzeitig auch die Oktave des Grundtones des ersten Tetrachords ist. Dieses c ist nun die Quarte des g, des Grundtones des zweiten Tetrachords. Sollte die Tonfolge in beiden Tetrachorden gleich gemacht werden, so mußte zunächst im unteren Tetrachorde der dem c entsprechende Ton f hinzugefügt werden. Die Quarte f würde sich übrigens auch unabhängig von dieser Analogie der Tetrachorde ergeben haben in derselben Weise wie die Quinte. Die Quinte ist der Klang, dessen zweiter Teilton gleich dem dritten des Grundtons ist; die Quarte der Klang, dessen dritter Teilton gleich dem zweiten der Oktave ist. So sind also zunächst die Grenztöne der beiden analogen Abteilungen der Oktave bestimmt, nämlich:
                    c — f, g — c,

aber die Ausfüllung der Zwischenräume bleibt vor der Hand noch willkürlich, und ist auch von den Griechen selbst in verschiedenen Perioden verschieden, anders wieder von anderen alten Völkern vollzogen worden, während die Einteilung der Skala in Oktaven, die der Oktave in zwei analoge Tetrachorde fast ausnahmslos vorkommt.

Boöthius (de Musica Lib. I. cap. 20) berichtet nach Nikomachus, daß die älteste Stimmung der Lyra bis zu den Zeiten des Orpheus die erwähnte in unausgefüllten Tetrachorden gewesen sei:
                                        c — f — g — c,

mit welcher freilich kaum eine Melodie zu bilden möglich gewesen wäre. Doch sind in diesen Tönen allerdings die Hauptstufen für die Tonfälle des gewöhnlichen Sprechens enthalten, so daß eine solche Lyra doch möglicher Weise zur Begleitung der Deklamation hätte gebraucht werden können.

Die Verwandtschaft der Quinte und der durch ihre Umkehrung gegebenen Quarte mit dem Grundtone ist so groß, daß sie sich in allen bekannten Musiksystemen aller Völker geltend macht. Dagegen sind betreffs der zwischen den Grenztönen des Tetrachordes einzuschaltenden Zwischentöne Schwankungen, eingetreten. Das Intervall der Terz ist schon nicht mehr so deutlich durch leicht wahrnehmbare Obertöne begrenzt, daß es sich von vorn herein dem Ohre ungeübter Musizierender bestimmt aufgedrängt hätte. Wir müssen bedenken, daß selbst, wenn der fünfte Partialton in dem Klange des gebrauchten Toninstruments noch enthalten war, er der Regel nach nicht bloß den an Tonstärke mächtigeren Grundton, sondern auch die stärkeren drei ersten Obertöne neben sich hatte, und von diesen überdeckt wurde. In der Tat zeigt sich in der Geschichte der musikalischen Systeme ein langes Schwanken in Bezug auf die Stimmung der Terzen; ein Schwanken,—welches man noch jetzt fühlt, wenn man Terzen in rein melodischer Folge, ohne sie je zur Harmonie zu verbinden, zu stimmen suchte. Ich selbst muß gestehen, daß ich bei vereinzelten Intervallen dieser Art nicht zu einem sicheren Resultate komme, wohl aber, wenn ich dieselben in einer wohlgebildeten Melodie mit deutlicher Tonalität höre. Dann erscheinen mir die natürlichen Terzen 4:5 im Vergleich mit den etwas größeren Terzen, welche die gleichschwebende Temperatur unserer modernen Instrumente, oder mit den noch größeren, welche die Pythagoräische Stimmung nach reinen Quinten ergibt, als die ruhigeren, letztere als etwas angestrengt klingende Intervalle. Unsere modernen Musiker, welche an die Terzen der gleichschwebenden Temperatur gewöhnt sind, bevorzugen zum Teil letztere, wenn es sich nur um melodische Folge handelt; doch habe ich mich selbst überzeugt, daß Künstler ersten Ranges, wie Herr Joachim, auch in der Melodie die Terzen 4:5 brauchen. Für die Harmonie ist kein Zweifel, da entscheidet sich jeder für die letztere Terz. Im sechzehnten Abschnitt wird ein Instrument beschrieben werden, mit dessen Hilfe dergleichen Versuche anzustellen sind.

Unter solchen Umständen ist bei der Einteilung der Skala inden Anfängen der Musik und noch jetzt, wie es scheint, bei den. weniger kultivierten Völkern ein anderes Prinzip mit zu Hilfe genommen worden, um die kleineren Intervalle zu teilen, welches aber später doch dem Prinzip der Tonverwandtschaft, hat weichen müssen. Ich meine hier den Versuch, gleichgroße Zwischenstufen nach dem Gehör zu unterscheiden, so daß die wahrnehmbaren Unterschiede der Tonhöhe gleichgroß ausfallen.

Für die Einteilung der Quarte hat sich allerdings ein solcher Versuch nie dauernd gegen das Gefühl der Verwandtschaft der Intervalle gehalten, wenigstens nicht in der künstlerisch ausgebildeten Musik. Aber für die Teilung kleinerer Intervalle werden wir dieses Teilungsprinzip als Aushilfe doch an manchen Stellen der weniger gebräuchlichen griechischen Tetrachordteilungen und in den Skalen der orientalischen Völker angewendet finden. Doch sind überall diese willkürlichen Teilungen, welche nicht auf Verwandtschaft der Klänge beruhen, in dem Maße geschwunden, als sich die Musik als Kunst zu reinerer Schönheit entwickelt hat.

Wir wollen zunächst sehen, was für eine Tonleiter wir erhalten, wenn wir der natürlichen Verwandtschaft der Klänge zu einander weiter nachgehen. Verwandt im ersten Grade nennen wir Klänge, welche zwei gleiche Partialtöne haben; verwandt im zweiten Grade solche, welche mit demselben dritten Klange im ersten Grade verwandt sind. Je stärker die beiden übereinstimmenden Partialtöne sind im Verhältnis zu den übrigen Partialtönen zweier im ersten Grade verwandten Klänge, desto stärker ist die Verwandtschaft, desto leichter werden Sänger und Hörer das Gemeinsame beider Klänge zu fühlen wissen. Dar- ans folgt denn aber auch weiter, daß das Gefühl für die Verwandtschaft der Töne nach den Klangfarben verschieden sein muß, und ich glaube, daß man dies in der Tat behaupten kann, indem auf der Flöte und den weichen Orgelregistern, wo harmonische Zusammenklänge wegen der mangelnden Obertöne und der mangelhaft unterschiedenen Dissonanzen charakterlos klingen, etwas Ähnliches auch für die einfachen Melodien gilt. Dies rührt, wie ich meine, davon her, daß in den genannten Klangfarben die natürlichen Intervalle der Terzen und Sexten, vielleicht auch die der Quarten und Quinten, nicht unmittelbar in der Empfindung des Hörers ihre Rechtfertigung haben, sondern höchstens in der Erinnerung. Wenn der Hörer weiß, daß auf anderen Instrumenten und im Gesange die Terzen und Sexten als natürlich und direkt verwandte Klänge hervorgetreten sind, so läßt er sie als wohlbekannte Intervalle auch gelten, wenn sie von einer Flöte oder von weichen Orgelregistern vorgetragen werden. Doch kann ein in der Erinnerung bewahrter Eindruck nicht dieselbe Frische und Kraft haben, wie ein solcher unmittelbarer Empfindung.

Da die Stärke der Verwandtschaft von der Stärke der gleichen Obertöne abhängt, und die Obertöne von höherer Ordnungszahl schwächer zu sein pflegen, als die von niederer Ordnungszahl, so ist die Verwandtschaft zweier Klänge im Allgemeinen desto schwächer, je größer die Ordnungszahlen der koinzidierenden Obertöne sind. Diese Ordnungszahlen geben aber auch, wie sich der Leser aus der Lehre von den konsonierenden Intervallen erinnern wird, das Verhältnis der Schwingungszahlen für die betreffenden beiden Noten an.

Ich lasse hier eine Tabelle folgen, welche in der oberen Horizontalreihe die Ordnungszahlen für die Partialtöne der Tonica c enthält, in der ersten Vertikalreihe dieselben für den betreffenden Ton der Leiter. Wo die betreffende Vertikal- und Horizontalreihe zusammentreffen, ist der entsprechende Ton der Leiter genannt, für welchen dieses Zusammentreffen stattfindet. Es sind aber nur diejenigen Noten aufgenommen, welche am weniger als eine Oktave von der Tonica entfernt sind. Unter jede Tonstufe sind die beiden Ordnungszahlen der koinzidierenden Obertöne hingesetzt, um an diesen einen Maßstab für die Stärke der Verwandtschaft zu haben.
 

Partialtöne der Tonica
 
1
2
3
4
5
6
1
c
1.1
c'
1.2

 

 

 

 

2
C
2.1
c
2.2
g
2.3
c'
2.4

 

 

3

 

F
3.2
c
3.3
f
3.4
a
3.5
c'
3.6
4

 

C
4.2
G
4.3
c
4.4
e
4.5
g
4.6
5

 

 

Es
5.3
As
5.4
c
5.5
es
5.6
6

 


 
C
6.3
F
6.4
A
6.5
c
6.6

In dieser systematischen Zusammenstellung finden wir in der oberhalb des Grundtones c gelegenen Oktave folgende Reihe von Klängen, welche der Tonica c im ersten Grade verwandt sind, nach der Reihe ihrer Verwandtschaft geordnet:

                                                                            c         c'        g         f         a         e         es
                                                                          1:1       1:2      2:3      3:4       3:5      4:5      5:6
in der absteigenden Oktave dagegen folgende Reihe:                                                                             c         C         F         G         Es         As         A
                                                                          1:1       1:2      3:2       4:3         5:3         5:4       6:5
Den Grund, die Reihe abzubrechen, finden wir in der Enge der entstehenden Intervalle. Diese dürfen nicht so klein werden, daß sie schwierig zu treffen und zu unterscheiden wären. Welches Intervall wir als das engste in der Skala zulassen dürfen, ist eine Frage, die von verschiedenen Nationen nach ihren verschiedenen Geschmacksrichtungen, vielleicht auch nach der verschiedenen Feinheit ihres Ohres verschieden beantwortet ist.

Es scheint, daß in den ersten Entwickelungsstadien der Musik viele Völker engere Intervalle als den Ganzton zu benutzen sich scheuten, und deshalb Skalen bildeten, in denen Schritte von dem Intervall eines Tones mit solchen von anderthalb Tönen wechselten. Nach den Beispielen, welche Herr Fétis1) gesammelt hat, findet sich eine solche Skala nicht nur bei den Chinesen, sondern auch bei den übrigen Stämmen der mongolischen Rasse, ferner bei den Malayen von Java und Sumatra, bei Anwohnern der Hudsonsbai, den Papuas von Neu-Guinea; Bewohnern von Neu-Kaledonien, den Fullah-Negern. Auch die fünfsaitige Lyra (Kissar) der Bewohner von Nordafrika und Abessinien, welche sich schon in den Basreliefs der assyrischen Königspaläste als Instrument gefangener Männer dargestellt findet, hat nach Villoteau2) die Stimmung der fünfstufigen Skala:

g — a — h — d — e.


1) Histoire générale de la Musique. Paris 1869. T. I. 2) Descriptions des Instruments de Musique des Orientaux; chapt. XIII in der Description de l'Egypte. Etat moderne.
 
 

Spuren einer alten Skala dieser Art finden sich für die offenbar gleichnamige Kithara der Griechen. Wenigstens hat Terpander, der in der Entwickelung der altgriechischen Musik eine hervortretende Rolle gespielt, und der vor ihm sechssaitigen Kithara eine siebente Saite hinzugefügt hat, eine aus einem Tetrachord und einem Trichord zusammengesetzte Skala gebraucht, die den Umfang einer Oktave hatte, und deren Stimmung folgende war:

                                                                                    e ~ f — g — a — h ~ — d' — e' 3)

worin der Ton c' fehlt, und das obere Tetrachord ohne einen Halbtonschritt bleibt, obgleich das untere einen solchen hat.

3) Nikomachus läßt den Philolaus sagen (Edit. Meibomii p. 17): "Von der Hypate (e) zur Media (a) war eine Quart, von der Media zur Nete (e') eine Quint, von der Nete zur Trite (A) eine Quart, von der Trite zur Hypate eine Quint." Es folgt daraus, daß nicht das h fehlte, sondern c.
 
 

Auch der Umstand, daß Olympos, der das asiatische Flötenspiel in Griechenland einführte, und dem griechischen Geschmack anbildete, die dorische Skala der Griechen zu einer fünfstufigen, der alten enharmonischen Skala

                                                                                h ~ c — — e ~ f — — a

umformte, scheint darauf hinzudeuten, daß er aus Asien fünfstufige Skalen mitbrachte, und nur die Anwendung des Halbtons der griechischen Skala entlehnte. Unter den kultivierteren Völkern sind es die Chinesen und die Gälen Schottlands und Irlands, welche die fünfstufige Skala ohne Halbtöne bis jetzt festgehalten haben, obgleich beide daneben die vollständige siebenstufige Leiter kennen gelernt haben.

Bei den Chinesen soll ein Prinz Tsay-yu diese letztere unter starkem Widerspruch der konservativen Musiker eingeführt haben; und auch die Teilung der Oktave in 12 Halbtöne, die Transpositionen der Tonleitern sind von diesem klugen und geschickten Volke gefunden worden, aber die Melodien, welche von Reisenden aufgeschrieben sind, gehören meist der fünfstufigen Skala an. Die Schotten und Iren haben durch die Kirchengesänge ebenfalls die diatonische siebenstufige Leiter kennen gelernt, und in der gegenwärtigen Form ihrer Volksmelodien finden wir auch wohl die fehlenden beiden Töne wenigstens flüchtig berührt, als Vorschläge oder Durchgangsnoten. Doch sind dies in vielen Fällen moderne Verbesserungen, wie sich durch Vergleichung mit älteren Formen der Melodie erweisen läßt, und in der Regel kann man die Noten, die der fünftonigen Skala fremd sind, fortlassen, ohne die Melodie wesentlich zu verändern. Dies gilt nicht bloß von alten Melodien, sondern auch von solchen, die nachweisbar erst in den beiden letzten Jahrhunderten von gelehrten und ungelehrten Musikern komponiert sind und Eingang in das Volk fanden. Es halten also die Gälen, eben so gut wie die Chinesen, trotz der Bekanntschaft mit dem modernen Tonsystem, ihre alte Skala fest4), und es ist nicht zu leugnen, daß die schottischen Melodien durch die Vermeidung der kleinen Halbtonschritte der diatonischen Skala etwas eigentümlich Klares und Bewegliches bekommen, was man freilich den chinesischen Melodien nicht nachrühmen kann. Die geringe Zahl der Töne innerhalb der Oktave wird dadurch ausgeglichen, daß ein großer Umfang der Stimme benutzt wird, sowohl bei den Galen, wie bei den Chinesen.

4) Chinesische Melodien in Ambrosch's Geschichte der Musik, Bd. I, S. 30, 34, 35. Von schottischen eine reiche Sammlung mit Angaben der Quellen und der alten Formen in G. F. Graham's, Songs of Scotland, 3 Vol., Edinburgh 1859. Die hinzugesetzte moderne Klavierbegleitung paßt freilich oft schlecht genug zum Charakter der Melodien.

Die fünfstufige Skala läßt nun noch eine gewisse Mannigfaltigkeit ihrer Bildung zu. Nehmen wir den Ton c als Tonica, und fügen zu ihm die nächst verwandten Töne der aufsteigenden Oktave, bis wir einen Halbton treffen, so erhalten wir:

c — c' — g — f — a.

Das folgende e bildet mit f schon einen Halbton. In der absteigenden Oktave erhalten wir ebenso:

c — C — F — G — Es.




Die in diesen Skalen bleibenden großen Lücken, in der ersten zwischen c und f, in der zweiten zwischen G und c, werden durch die nächsten Verwandten zweiten Grades ausgefüllt. Da die Verwandten der Oktave immer nur dieselben Tonstufen wiedergeben, welche wir schon als direkte Verwandte der Tonica erhalten haben, so sind es die Verwandten der Oberquinte g und Unterquinte F, welche zunächst in Betracht kommen, und zwar die Oberquinte d der Oberquinte g, und die Unterquinte B der Unterquinte F. So erhalten wir folgende Skalen:

1) aufsteigend:
                           c — d — ~ f — g — a — ~ c'
                            1   9/8      4/3    3/2  5/3        2

2) absteigend:

                C — ~ Es — F — G — ~ B  —  c
                1         6/5    4/3     3/2      16/9    2
Es können aber auch beide gleichzeitig eingeführt werden statt der schwächer verwandten Töne ersten Grades, was dann die nur durch Quintenverwandtschaft erzeugte Reihe gäbe:                     3)                    c — d — ~ f  —    g — ~ b —  c'     1   9/8      4/3      3/2      16/9    2 Dann kommen aber auch etwas unregelmäßigere Bildungen dieser fünfstufigen Leitern vor, in denen statt des der Tonica c enger verwandten Tones f die etwas entfernter verwandte große Terz e eintritt, eine Umbildung, die sich, vielleicht unter dem Einfluß der modernen Bevorzugung der Durtonart, namentlich in sehr vielen schottischen Melodien eingestellt hat. Dies gibt die Leiter:                 4)                     c — d — e — ~ g  — a — ~ c'                     1    6/5    4/3      8/5  16/9       2 Beispiele für eine ähnliche Vertauschung der Quinte g mit der kleinen Sexte as sind zweifelhaft; es gäbe dies folgende Leiter:                 5)                  C — ~ Es — F — ~ As — B — c                    1       9/8     5/4           3/2    5/3    2
 
 
Die Leiter                 c — ~ es — f — g — a — ~ c
                1       6/5     4/3   3/2  5/3       2
bei welcher nur Verwandte ersten Grades benutzt wären, aber von der Tonica aus nach beiden Seiten hin nur Schritte in großen Intervallen zu machen sind, habe ich nirgends gebraucht gefunden.

Die aufgeführten fünf Formen der fünfstufigen Leiter können alle so transponiert werden, daß man sie auf den schwarzen Obertasten des Klaviers spielen kann, ohne die Untertasten zu berühren. Bekanntlich schreibt man dies als eine einfache Regel vor, nach der man schottische Melodien komponieren könne. Dabei kann jedoch jede der fünf Obertasten als Tonica benutzt werden, nur das B, welches keine Quinte unter den Obertasten hat, bleibt von zweifelhafter Berechtigung als Tonica.

Ich lasse hier Beispiele dieser verschiedenen fünfstufigen Skalen folgen:

l. Zur ersten Tonleiter ohne Terz und Septime: chinesisch nach John Barrow:

2. Zur zweiten Tonleiter ohne Sekunde und Sexte gehören die meisten schottischen Lieder, die den Charakter einer Molltonart haben; doch ist in den modernen Formen dieser Lieder meist der eine oder andere der fehlenden Töne flüchtig berührt. Hier folgt von der Melodie "Cockle Shell's" eine ältere Form5):

5) Playford's Dancing master, Edition 1721. Die erste Auflage davon erschien 1657. — Songs of Scotland Vol. III. p. 170.

3. Zur dritten Tonleiter ohne Terz und Sexte. Gälisch, wahrscheinlich eine alte Dudelsackmelodie6):

6) Ein chinesisches Lied derselben Art bei Ambrosch l. c. Bd. I, S. 34; das zweite Stück. — Ein anderes mit einmaligem Anschlag der Sexte in Songs of Scotland, Vol. III, p. 10: "My Peggy is a young thing".

4. Der vierten Tonleiter gehören die meisten schottischen Melodien an, welche den Charakter einer Durtonart an sich tragen; es fehlt die Quarte und Septime der Durtonleiter. Da schottische Melodien dieser Art in jeder Sammlung solcher sich dutzendweise vorfinden und allgemein bekannt sind, so gebe ich hier als Beispiel eine chinesische alte Tempelhymne nach Bitschurin7):

7) Ambrosch l. c. Bd. I, S. 30. — Dahin gehört auch das erste Stück von S. 35, nach Barrow und Amiot.

5. Melodien, welche der fünften Tonleiter ohne Secunde und Quinte ganz rein angehörten, habe ich nicht gefunden; doch finden sich welche, in denen entweder nur die Quinte, oder beide Intervalle ganz flüchtig berührt werden. Im letzteren Falle tritt die kleine Secunde ein, wodurch der Charakter der phrygischen Kirchentonart entsteht, z. B. in dem sehr schönen Liede "Auld Robin". Ich gebe hier eines mit der Tonica fis, wo die Secunde ganz fehlt, und die Quinte cis nur flüchtig zweimal berührt wird, so daß man sie ebenso gut auch ganz weglassen könnte:

Man könnte in diesem Beispiel freilich auch sehr gut h als Tonica annehmen, und die Schlüsse auf der Dominante und Unterdominante nach alter Weise gebildet betrachten. Überhaupt ist in diesen fünfstufigen Melodien die Bestimmung der Tonica oft noch viel schwankender als in den siebenstufigen.

Die gewöhnlich gegebene Regel, daß in der gälisch chinesischen Skala die Quarte und Septime ausgelassen seien, paßt also nur auf diejenige fünftonige Leiter, welche unserer Durskala entspricht, und welche allerdings unter den jetzt gebräuchlichen schottischen Melodien das numerische Übergewicht hat, wahrscheinlich veranlaßt durch die Rückwirkung des neueren Tonsystems. Die hier angeführten Beispiele zeigen, daß jede mögliche Lage der Tonica in der fünftonigen Leiter vorkommt, wenn man diesen Leitern überhaupt den Besitz einer Tonica einräumt. In den schottischen Melodien geschehen die Auslassungen der beiden Töne sowohl der Durtonleiter als der Molltonleiter ohne Ausnahme so, daß die Halbtonschritte der Leiter in 11/2 Tonschritte verwandelt werden. Unter den chinesischen Melodien finde ich allerdings eine, in welcher Halbtonstufen stehen geblieben sind; diese schließt sich dem später zu besprechenden alten enharmonischen Systeme der Griechen an und wird dort ihre Erklärung finden.

Wir gehen jetzt zur Konstruktion der siebenstufigen Leiter über. Deren erste Formen entwickelten sich unter dem Einfluß der Tetrachordeinteilungen der Griechen. Ihre altertümlichen Melodien hatten geringen Umfang und wenige Tonstufen, eine Eigentümlichkeit, die auch von späteren Schriftstellern, z. B. Plutarch, besonders betont wird, die übrigens auch bei den meisten anderen Völkern in den Anfangsstadien ihrer musikalischen Ausbildung sich findet. Die Skala bildete sich deshalb zuerst in engeren Grenzen als denen einer Oktave aus, nämlich innerhalb des Tetrachords. Wenn man nun innerhalb eines solchen die nächsten Verwandten zu der begrenzenden Tonica (m?dh) sucht, so fallen nur die Terzen in diesen Umfang hinein. Nehmen wir in dem Tetrachorde h — e den letzteren Ton als Tonica, so ist der nächste Verwandte derselben innerhalb der Grenzen des Tetrachords c als große Unterterz von e. Dies gibt:

1. Das alte enharmonische Tetrachord des Olympos:                         h ~ c — — e
                      3/4    4/5         1
Daß die Stimmung c: e = 4:5 sein müsse, stellte Archytas gerade zuerst für das enharmonische Geschlecht fest. Der demnächst folgende verwandte Ton des e wäre die kleine Unterterz; setzen wir diese hinzu, so erhalten wir: 2. Das ältere chromatische Tetrachord der Griechen:                                 h ~ c ~ ci — ~ e
                                          3/ 4/5   5/6      1
Die hier angegebene Stimmung der Intervalle entspricht den Angaben des Eratosthenes (im dritten Jahrhundert v. Chr.). Das Intervall zwischen c und cis entspricht hier nur dem kleinen Verhältnisse 25/24, welches kleiner ist als ein Halbton 16/15. Daneben steht das viel weitere Intervall cis — e, welches einer kleinen Terz entspricht. Eine gleichmäßigere Verteilung der Tonschritte erhielt man, wenn man vom unteren Ton des Tetrachords die kleine Terz nach oben maß. So entsteht: 3. Das diatonische Tetrachord:                     h — c — d —e
                          3/4   4/5  9/10  1
Es ist dies die Stimmung, welche Ptolemaeus für das diatonische Tetrachord angibt. Hierbei ist aber zu bemerken, daß wenn e als Tonica betrachtet wird, dieses d nur eine schwache Verwandtschaft zweiten Grades durch Vermittelung des h mit der Tonica hat. Hatte man erst, wie schon früh geschah, zwei Tetrachorde verbunden

                                                        h — — e — — a

so erhielt man für das d eine engere Verwandtschaft zweiten Grades, wenn man es als Unterquinte zum a stimmte. Wenn e == l, ist a = 4/3, und seine Unterquinte ist d = 8/9. Dies gibt das Tetrachord:

                h ~ c — d — e
                    3/4     4/5   8/9   1
was der von Didymus (im ersten Jahrhundert n. Chr.) angegebenen Stimmung entspricht.

Der älteren Theorie des Pythagoras gemäß, deren Kritik ich weiter unten geben werde, wären alle Intervalle der diatonischen Skala durch Quintenschritte erzeugt, daher ist die Stimmung folgende:

h          ~          c          —           d          —         e
4/3                    81/64                         9/8                     1
|-------------------|  |---------------|   |------------|
                243/256                9/8                    9/8


Das so gewonnene Tetrachord ist das Dorische der Griechen, welches als das normale betrachtet wurde, und allen Betrachtungen auch anderer Skalen zu Grande gelegt wurde. Es wurden demnach immer diejenigen Töne, welche die Halbtöne der Skala nach unten hin begrenzten, als die festen Grenztöne der Tetrachorde mindestens theoretisch betrachtet, während die mittleren Töne ihre Lage ändern konnten. Daß praktisch zuweilen auch die Stimmung der sogenannten feststehenden Töne ein wenig geändert wurde, erwähnt Plutarch. Dies kann seinen Sinn darin haben, daß in der Lydischen, Phrygischen etc. Tonart die Tonica nicht aus den sogenannten feststehenden Tönen der Tetrachorde genommen war. So werden wir zum Beispiel später sehen, daß wenn d die Tonica ist, das h der Skala in der natürlichen Stimmung einer solchen Leiter keine reine Qninte mit dem e bildet.

Übrigens können die Tetrachorde durch Einschaltung von Tönen, die bald mit dem oberen, bald mit dem unteren Grenztone bald eine große, bald eine kleine Terz bilden, noch anders ausgefüllt werden.

Zwei kleine Terzen geben das Phrygische Tetrachord:

d   —   e   ~   f   —   g
3/4      5/6     9/10      1
Wird vom untern Grenzton eine große Terz nach oben, vom obern eine kleine nach unten abgemessen, so erhalten wir das Lydische Tetrachord: c   —   d   —   e   ~   f
3/4       5/6     15/16    1
Zwei große Terzen würden eine Abart der chromatischen Leiter: h ~ c — dis ~ e geben, welche aber nicht gebraucht zu sein scheint, oder wenigstens nicht von der chromatischen unterschieden wurde.

Es sind dies die normalen Teilungen des Tetrachordes gewesen; außerdem kamen aber auch andere Einteilungen vor, die von den Griechen selbst als irrationell (?????) bezeichnet werden, und von denen wir nicht sicher wissen, wie weit sich ihr praktischer Gebrauch ausgedehnt hat. Eines derselben, das gleich diatonische Geschlecht, braucht ein den natürlichen Konsonanzen mindestens sehr nahe stehendes Intervall 6:7, wie es zwischen der Quinte und der natürlichen kleinen Septime des Grundtons vorkommt und welches gelegentlich auch wohl in der neueren harmonischen Musik angewendet wird, wenn Sänger die kleine Septime eines Septimenakkordes frei einsetzen. Die Intervalle sind:

3 : 4                 ï¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾ï
                    21/20                10/9                   8/7
               ï¾¾¾¾¾¾ï      6 : 7
Durch den erniedrigten Lichanos ist auch die Parhypate abwärts gedrängt; doch entspricht das kleine Intervall 21/20 immer noch sehr nahe dem Halbton der Pythagoräischen Skala, welcher in kleinsten Zahlen 20/19 geschrieben werden kann.

In dem gleich diatonischen Geschlechte des Ptolemäus, dessen Teilung war:

                  3 : 4                                 ï¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾ï
                                        12/11                    11/10                10/9
                                ï¾¾¾¾¾¾¾ï                         5 : 6
 
ist eine natürliche kleine Terz enthalten, diese aber in zwei möglichst gleiche Teile abgeteilt.

Eine ähnliche Folge von Tönen, aber in umgekehrter Ordnung, findet sich in der modernen arabischen Skala, wie sie von dem Syrer Michael Meshakah8) abgemessen wird. Hier wird die Oktave in 24 Vierteltöne geteilt; das Tetrachord hat 10 derselben, und seine unterste Tonstufe hat 4 derselben, die beiden oberen je 3. Unter diesen Umständen bilden die beiden oberen zusammengenommen sehr nahe eine kleine Terz, die wie im gleich diatonischen Systeme der Griechen in zwei gleich große Tonstufen geteilt ist, ohne Rücksicht auf irgend eine fühlbare Verwandtschaft des so entstehenden Zwischentones.

8) Journal of the American Oriental Society Vol. I, p. 173. 1847

Je enger übrigens das Intervall ist, desto leichter und sicherer wird es in zwei Tonstufen von gleichem Unterschiede der Höhe rein nach der Empfindung dieser Höhenunterschiede zu teilen sein. Namentlich ist dies möglich bei Tonstufen, die sich der Grenze des Unterscheidbaren nähern. Da gibt uns die Deutlichkeit des noch wahrnehmbaren Unterschiedes ein Maß für ihre Größe. In diesem Sinne ist wohl die Möglichkeit des späteren enharmonischen Geschlechts der Griechen zu erklären, welches aber zur Zeit des Aristoxenus schon wieder ans dem Gebrauch gekommen war, und von Späteren vielleicht nur als archaistische Merkwürdigkeit wieder hervorgesucht sein mag. In diesem Geschlecht wurde der halbe Ton des oben erwähnten alten enharmonischen Geschlechts des Olympos noch einmal in zwei Vierteltöne geteilt, so daß ein dem chromatischen ähnliches Tetrachord entstand, nur mit noch engeren Intervallen der nahen Töne. Die Teilung eines solchen enharmonischen Tetrachords war:

4 : 3                 ï¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾¾ï

                   32/31                        31/30                 5/4
 
 

Wir können uns diesen Viertelton nur als einen Vorhalt in der melodischen Bewegung zum unteren Grenzton des Tetrachords hin erklären. In dieser Weise kommt ein solches Intervall noch in der jetzigen orientalischen Musik vor. Ein ausgezeichneter Musiker, den ich bat, bei einer Reise nach Kairo darauf zu achten, schrieb mir darüber: "Ich habe diese Nacht dem Gesange auf den Minarets aufmerksam zugehört, um ein Urteil über die Vierteltöne zu erhalten, welche ich nicht möglich glaubte, da ich dachte, die Araber sängen falsch. Heute jedoch, als ich bei den Derwischen war, gelangte ich zur Gewißheit, daß es deren gibt, und zwar aus folgenden Gründen: Mehrere Stellen der Art von Litaneien endigten mit einem Tone, der zuerst der Viertelton war und mit dem reinen Ton endigte. Da die Stelle sich oft wiederholte, hatte ich Gelegenheit jedesmal dasselbe zu beobachten, und immer war die Intonation dieselbe." Übrigens findet man doch auch bei den griechischen Schriftstellern über Musik erwähnt, daß die Vierteltöne der Enharmonik schwer zu unterscheiden seien.

Die neueren Interpreten der griechischen Musiklehre haben meistens die Meinung aufgestellt, daß die genannten Unterschiede in der Stimmung, welche die Griechen Tonfarben (cr ó??) nannten, nur theoretische Spekulationen seien, welche nie zur Anwendung gekommen wären9). Sie meinen, diese Unterschiede seien so klein, daß eine ganz unglaublich verfeinerte Ausbildung des Gehörs nötig sei um ihre ästhetische Wirkung aufzufassen. Dem gegenüber muß ich nun behaupten, daß diese Meinung der modernen Theoretiker nur deshalb hat aufgestellt werden können, weil Niemand unter ihnen versucht hat, jene verschiedenen Tongeschlechter praktisch nachzubilden und mit dem Ohre zu vergleichen. Auf einem weiter unten zu beschreibenden Harmonium kann ich die natürliche Stimmung mit der pythagoräischen vergleichen und das diatonische Geschlecht bald in der Weise des Didymus, bald in der des Ptolemäus ausführen, oder auch noch andere Abweichungen herstellen. Es ist gar nicht schwer, den Unterschied eines Komma 81/80 in der Stimmung der verschiedenen Tonstufen zu erkennen, wenn man bekannte Melodien in verschiedenen "Tonfarben" ausführt, und jeder Musiker, dem ich den Versuch vorgemacht habe, hat sogleich den Unterschied gehört. Melodische Gänge mit pythagoräischen Terzen klingen angestrengt und unruhig, solche mit natürlichen Terzen dagegen wohllautend, ruhig und weich, trotzdem unsere gewöhnliche gleichschwebende Stimmung Terzen hat, welche den pythagoräischen näher kommen als den natürlichen, und jene uns deshalb gewohnter sind als letztere. Und was ferner die Feinheit sinnlicher Beobachtung in künstlerischen Dingen betrifft, so dürfen wir Neueren darin wohl überhaupt die Griechen als unübertroffene Muster betrachten. Bei dem hier vorliegenden Gegenstande aber hatten sie ganz besondere Veranlassung und Gelegenheit ihr Ohr feiner auszubilden, als wir das unsere. Wir sind von Jugend auf daran gewöhnt uns mit dem Ungenauigkeiten der modernen gleichschwebenden Stimmung abzufinden, und die ganze frühere Mannigfaltigkeit der Tongeschlechter von verschiedenem Ausdruck bat sich reduziert auf den ziemlich leicht vernehmbaren Unterschied von Dur und Moll. Die verschiedenartigen Abstufungen des Ausdrucks aber, welche wir durch Harmonie und Modulation erreichen, mußten die Griechen und andere Völker, die nur homophone Musik besitzen, durch eine feinere und mannigfaltigere Abstufung der Tongeschlechter zu erreichen suchen. Was Wunders daher, wenn sich auch ihr Ohr für diese Art von Unterschieden viel feiner ausbildete, als das unserige dafür ausgebildet ist.
 
 

9) Auch Bellermann ist dieser Meinung (Tonleitern der Griechen S. 27). Stellen aus den griechischen Schriftstellern, welche den wirklichen praktischen Gebrauch erweisen, hat Westphal in seinen Fragmenten der griechischen Rhythmiker S. 209 zusammengestellt. Nach Plutarch, de Musica S. 38 und 39, haben die späteren Griechen sogar eine Vorliebe für die nachgelassenen Intervalle gehabt.
 
 

Die griechische Tonleiter wurde übrigens schon früh bis zur Oktave ausgedehnt; Pythagoras soll es gewesen sein, der die acht Stufen der diatonischen Leiter innerhalb der Oktave vollständig hinstellte. Zuerst hatte man je zwei Tetrachorde so verbunden, daß ihnen ein Ton, die ????, gemeinsam war:

                                                                                                        e ~ f — g — a ~ b — c — d
                                                                                                       ï¾¾¾¾ï ï¾¾¾¾¾ï

  wodurch eine siebenstufige Leiter entstand. Dann war diese Leiter umgestimmt worden in die Form:                                 e ~ f — g — a — h ~ — d — e
                              ï¾¾¾¾¾ï     ï¾¾¾¾ï
so daß sie aus einem Tetrachord und einem Trichord bestand, wovon oben schon geredet ist, endlich war von Lichaon aus Samos (nach Boethius) oder von Pythagoras (nach Nikomachus) das Trichord zum Tetrachord ergänzt worden, und dadurch die achtstufige Leiter aus zwei getrennten Tetrachorden hergestellt worden.

Die gewonnene diatonische Leiter konnte durch Hinzufügung der höheren und tieferen Oktaven ihrer Tonstufen beliebig weit fortgesetzt werden, und gab dann eine regelmäßig wechselnde Reihe von ganzen Tonstufen und Halbtönen. Für jedes einzelne Musikstück wurde nun aber nur ein Teil dieser unbegrenzten diatonischen Leiter angewendet, und nach der Verschiedenheit dieser Teile unterschied man verschiedene Tonsysteme.

Solche begrenzte Tonleitern können nun in sehr verschiedenem Sinne gegeben werden. Der erste praktische Zweck, welcher sich aufdrängen muß, sobald ein Instrument mit einer begrenzten Anzahl von Saiten, wie die griechische Lyra, zur Ausführung eines Musikstückes gebraucht werden soll, ist offenbar der, daß alle Töne, die in dem Musikstück vorkommen, auch in den Saiten der Lyra gegeben sein müssen. Dadurch ist also für die Stimmung des Instrumentes eine gewisse Reihe von Tönen vorgeschrieben, welche auf den Saiten gestimmt werden müssen. Wenn uns nun eine solche Reihe von Tönen, nach denen die Lyra gestimmt wurde, gegeben ist als Tonleiter, so folgt daraus in der Regel nicht das Geringste über die Frage, ob eine Tonica in einer solchen Leiter zu unterscheiden ist und welche. Man wird ziemlich viele Melodien finden können, deren tiefster Ton die Tonica ist, andere, in denen noch eine Tonstufe unter der Tonica berührt wird, andere, in denen die Quinte oder Quarte der nächst tieferen Oktave den tiefsten Ton bildet. Der Unterschied zwischen den authentischen und plagalischen Tonleitern des Mittelalters ist von dieser Art. In den authentischen war der tiefste Ton der Leiter die Tonica, in den plagalischen deren Quinte, z. B.:

Erste authentische Kirchentonart, Tonica d:

                                                                                                                                            ï¾¾¾¾¾ï
                                                                                                               d — e — f — g — a — h — c — d.
                                                                                                               ï¾¾¾¾¾¾¾ï


Vierte plagalische, Tonica g:

                            ï¾¾¾¾¾ï
                            d — e — f — g — a — h — c — d.                              ï¾¾¾¾¾¾¾ï
Man dachte sie aus einer Quinte und einer Quarte zusammengesetzt, wie die Klammern zeigen; bei den authentischen lag die Quinte unten, bei den plagalischen oben. Wenn uns nun weiter nichts angegeben wird als eine solche Leiter, welche den zufälligen Umfang einer Reihe von Melodien bezeichnet, so können wir daraus über die Tonart wenig entnehmen. Wir können solche Tonreihen, die nur dem Umfange gewisser Melodien sich anpassen, akzidentelle Tonleitern nennen. Zu ihnen gehören unter anderen die plagalischen des Mittelalters. Dagegen nennen wir solche, welche in moderner Weise unten und oben durch die Tonica begrenzt sind, essentielle Tonleitern. Nun ist es klar, daß das praktische Bedürfnis zuerst nur auf akzidentelle Tonleitern führt. Es war unumgänglich nötig, eine Lyra, mit der man den Gesang unisono begleiten wollte, so zu stimmen, daß die nötigen Töne da waren. Ein unmittelbares praktisches Interesse, die Tonica eines einstimmigen Gesanges als solche zu bezeichnen, sich überhaupt nur klar zu machen, daß eine solche da sei, wie ihr Verhältnis zu den übrigen Tönen sei, lag wohl nicht vor. In der modernen Musik, wo der Bau der Harmonie wesentlich von der Tonica abhängt, verhält es sich damit ganz anders. Auf die Unterscheidung der Tonica konnten erst theoretische Betrachtungen des Baues der Melodie leiten. Daß Aristoteles als Ästhetiker einige darauf deutende Notizen hinterlassen hat, die Autoren dagegen, welche eigentlich über Musik geschrieben haben, nichts davon sagen, ist schon im vorigen Abschnitte erwähnt worden.

Während der griechischen Blütezeit wendete man zur Begleitung des Gesanges der Regel nach achtsaitige Lyren an, deren Stimmung dem Umfange einer aas der diatonischen Leiter entnommenen Oktave entsprach. Diese waren folgende:

l. Lydisch:
 

                                                                                               c — d — e — f — g — a — h — c
                                                                                               ï¾¾¾¾¾ï      ï¾¾¾¾¾ï

2. Phrygisch:

                                d — e — f — g — a — h — c — d.
                                ï¾¾¾¾¾ï      ï¾¾¾¾¾ï


3. Dorisch:

                                e — f — g — a — h — c — d — e.
                                ï¾¾¾¾¾ï      ï¾¾¾¾¾ï

4. Hypolydisch:

                                    f — g — a — h — c — d — e — f.
                                          ï¾¾¾¾¾ïï¾¾¾¾¾ï

 

5. Hypophrygisch (Jonisch):

                                g — a — h — c — d — e — f — g.
                                        ï¾¾¾¾¾ïï¾¾¾¾¾ï

 
 

6. Hypodorisch (Aeolisch oder Lokrisch):

                                a — h — c — d — e — f — g — a.
                                        ï¾¾¾¾¾ïï¾¾¾¾ï


7. Mixolydisch:

                            h — c — d — e — f — g — a — h — (c).
                                    ï¾¾¾¾¾ï     ï¾¾¾¾¾¾ï

 

Es konnte also jeder Ton der diatonischen Leiter als Anfangsund Endpunkt eines solchen Tongeschlechtes gebraucht werden. Die lydische und hypolydische Tonreihe enthalten lydische Tetrachorde, die phrygische und hypophrygische enthalten phrygische, die dorische und hypodorische dorische. In der mixolydischen scheint man zwei lydische Tetrachorde angenommen zu haben, von denen aber das eine zerteilt war, wie es durch die Klammern oben angedeutet ist.

Man hat bisher die genannten Tonleitern (Tropen) der griechischen Blütezeit als essentielle angesehen, das heißt, vorausgesetzt, daß ihr tiefster Ton (Hypate) die Tonica gewesen sei. Eine bestimmte Begründung dieser Annahme fehlt aber, so viel ich sehe. Was Aristoteles darüber sagt, läßt, wie wir gesehen haben, den Mittelton (die Mese) hauptsächlich als Tonica erscheinen, während allerdings andere Attribute unserer Tonica auf die Hypate fallen10). Wie das nun aber auch gewesen sein mag, mag nun Mese oder Hypate als Tonica betrachtet werden, mögen wir die Tonleitern alle als authentische oder alle als plagalische betrachten, so folgt doch mit großer Wahrscheinlichkeit, daß schon die Griechen, bei denen wir die diatonische Leiter zuerst vollständig vorfinden, verschiedene, wahrscheinlich alle Töne dieser Leiter als Tonica zu benutzen sich erlaubten, ebenso, wie wir gesehen haben, daß bei den Chinesen und Gälen jede Stufe der fünfstufigen Leiter als Tonica auftreten konnte. Dieselben Leitern finden wir, wahrscheinlich unmittelbar aus antiker Überlieferung entnommen, in dem altchristlichen Kirchengesange wieder.
 
 

10) R. Westphal hat in seiner Geschichte der alten und mittelalterlichen Musik, Breslau 1864, die leider bisher noch unvollendet geblieben ist, die genannten Stellen des Aristoteles benutzt, um eine Hypothese über die Tonica und die Schlußart der obigen Leitern aufzustellen. Er wendet die Sätze des Aristoteles aber nur auf die Dorische, Phrygische, Lydische, Mixolydische und Lokrische Skala, nicht auf die zu jener Zeit ebenfalls schon bekannte Aeolische und Jonische Skala an, für deren Ausschließung hierbei kein Grund ersichtlich ist. In jenen vier erstgenannten nimmt er die Mese als Tonica, die Hypate als Schlußton an. Bei den mit der Vorsatzsilbe "Hypo" bezeichneten Leitern sei dagegen die Hypate Tonica und Schlußton zugleich gewesen, hei den mit dem Wort "Syntono" verbundenen Namen dagegen sei die Hypate Schlußton und Terz der Tonica, ebenso vielleicht bei der einmal genannten Böotischen Tonart. Daraus folgt denn, daß die A-Molltonleiter vorkommt als Dorisch mit dem Schlusse in e, als Hypodorisch mit dem Schlusse in a, als Böotisch mit dem Schlusse in c; daß ferner das Mixolydische ein B-Moll mit kleiner Secunde und dem Schlusse in h sei, das Lokrische ein D-Moll mit großer Sexte und dem Schlusse in a, das Phrygische, Hypophrygische oder Jastische und das Syntonoiastische ein G-Dur mit kleiner Septime, von denen das erste in d, das zweite in g, das dritte in h schloß. Endlich soll das Lydische, Hypolydische und Syntonolydische ein F-Dur mit übermäßiger Quarte und den Schlußtönen beziehlich c, f oder a gewesen sein, die normale Durtonart aber soll nach Westphal durchaus gefehlt haben. Deutet man das Jonische nach den Worten des Aristoteles, so würde dieses aber ein richtiges Dur ergehen. Die Tonica F mit Hals Quarte erscheint unserem Gefühl als ganz unmöglich.

Es bildeten sich also im homophonen Gesange, wenn wir absehen von den chromatischen und enharmonischen Leitern und den ganz willkürlich erscheinenden Leitern der Asiaten, welche alle zu weiterer Entwickelung sich unfähig gezeigt haben, die sieben diatonischen Tonleitern aus, welche unter einander Unterschiede des Tongeschlechts von derselben Art zeigen, wie unsere Dur- und Molltonleitern. Diese Unterschiede treten deutlicher heraus, wenn wir alle mit derselben Tonica c beginnen lassen:
 

  Bezeichnung nach Glarean Neu vorgeschlagen
Lydisch: c—d—e—f—g—a—h—c Jonisch Durgeschlecht
Jonisch; c—d—e—f—g—a—b—c Mixolydisch Quartengeschlecht
Phrygisch: c—d—es—f—g—a—b—c Dorisch Septimengeschlecht
Aeolisch: c—d—es—f—g—as—b—c Aeolisch Terzengeschlecht oder Moll
Dorisch: c—des—es—f—g—as—b—c Phrygisch Sextengeschlecht
Mixolydisch: c—des—es—f—ges—as—b—c Secundengeschlecht
Syntonolydisch: c—d—e—fis—g—a—h—c Lydisch Qnintengeschlecht

 

Ich habe zur Orientierung die von Glarean für die Kirchentonarten gegebenen Namen hinzugefügt, deren Erteilung zwar auf einer Verwechselung der Tongeschlechter mit den späteren transponierten Molltonleitern der Griechen beruht, die aber den Musikern geläufiger sind, als die richtigen griechischen Namen. Übrigens werde ich Glarean's Namen nicht brauchen, ohne ausdrücklich hinzuzusetzen, daß sie sich auf eine Kirchentonart beziehen; es wäre überhaupt besser, wenn man sie vergessen möchte. Die alte von Ambrosius eingeführte Bezeichnung durch Ziffern war viel zweckmäßiger; da diese Ziffern aber auch wieder geändert sind, und nicht für alle Tonarten ausreichen, so habe ich mir erlaubt, selbst neue Bezeichnungen vorzuschlagen in der obigen Tabelle, die dem Leser die Mühe ersparen die Systeme griechischer Namen auswendig zu lernen, von denen die des Glarean gewiß falsch, und die anderen vielleicht auch nicht richtig angewendet sind. Nach der vorgeschlagenen neuen Bezeichnung würde der Ausdruck "Quartengeschlecht von C " bedeuten eine Tonart, deren Tonica C ist, welche aber dieselbe Vorzeichnung hat, wie die auf der Quarte von C, nämlich F, errichtete Durtonleiter. Dabei ist zu bemerken, daß in diesen Namen unter den Septimen, Terzen, Sexten und Secunden immer die kleinen Intervalle dieses Namens zu verstehen sind; wollten wir die großen wählen, so würde die Tonica in deren Leiter gar nicht vorkommen. Also: "Terzengeschlecht von C " ist die Leiter mit der Tonica C, welche die Vorzeichnung von Es-Dur hat, da Es die kleine Terz von C ist; das ist also C- Moll, wie es wenigstens in der absteigenden Leiter ausgeführt wird. Ich hoffe, der Leser wird bei dieser Bezeichnung immer leicht übersehen können, was gemeint ist.

Dies war das System der griechischen Tonarten während der Blütezeit griechischer Kunst bis zur Zeit der macedonischen Weltherrschaft hin. Die Gesangmelodien waren in alter Zeit auf ein Tetrachord beschränkt gewesen, wie noch jetzt manche Melodien der römischen Liturgie; sie waren später bis zum Umfang einer Oktave gewachsen. Für den Gesang brauchte man deshalb auch nicht viel längere Tonleitern zu haben, man verschmähte es die angestrengten hohen und klanglosen tiefen Töne der menschlichen Stimme zu brauchen; noch die neugriechischen Lieder, von denen Weitzmann11) eine Anzahl gesammelt hat, haben einen auffallend kleinen Tonumfang. Wenn schon Phrynis (Sieger in den Panathenäen 457 v. Chr.) die Kithara mit neun Saiten versah, so war der wesentlichste Vorteil dieser Einrichtung wohl der, daß er aus einem Tongeschlecht in ein anderes übergehen konnte.

Die spätere griechische Tonleiter, wie sie beim Euclides im dritten Jahrhundert zuerst vorkommt, umfaßt zwei Oktaven. Ihre Einrichtung ist folgende:
 

A Zugesetzter Ton. Proslambanomenos.
H

c

d

e

Tiefstes Tetrachord,

 

Tetr. Hyvatõn.
e

f

g

a

Mittleres Tetrachord,

 


 
 

Tetr. mesõn.

 


 
 
 
h

c'           Getrenntes Tetr.,

d'          T. diezeugmenõn.

e'

a

b         Verbundenes Tetrachord,

c'          T. synemmenõön.

d'

g’          Überschüssiges Tetr.,

a'          T. hyperliolaiõn.

11) Geschichte der griechischen Musik. Berlin 1855.
 
Wir haben hier also einmal die hypodorische Skala durch zwei Oktaven, dann aber noch ein daneben angefügtes Tetrachord, welches neben dem h der ersten Skala auch noch den Ton b einführt, wodurch nach modernem Ausdruck Modulationen aus der Hauptleiter nach der Tonart der Subdominante möglich wurden12).

12) Seltsamer Weise hat sich diese Art von Tonleiter erhalten in der im Zillerthal in Tirol gebrauchten Holzharmonica. Eine solche hat zwei Reihen von Stäbchen; die eine Reihe ist eine regelmäßige diatonische Leiter mit dem Tetrachordon diezeugmenõn; die. andere etwas tiefer liegende hat in ihrer oberen Hälfte dafür das Tetrachordon synemmenõn.
 
 

Diese Skala, der Hauptsache nach eine Molltonleiter, wurde transponiert, und man erhielt dadurch eine neue Reihe von Tonleitern, welche den verschiedenen Molltonleitern (absteigend gespielt) der modernen Musik entsprachen, auf welche man aber wiederum die alten Namen der. Tongeschlechter übertrug, indem man ursprünglich jeder Molltonart den Namen gab, der demjenigen Tongeschlechte zukam, welches von dem zwischen den Grenztönen der hypodorischen Leiter liegenden Abschnitte der Molltonleiter gebildet wurde. Nach der Notenbezeichnung der Griechen müssen wir diese Töne f — f schreiben. Sie lagen aber wahrscheinlich dem Klange nach eine Terz tiefer. Also zum Beispiel D -Moll hieß lydisch, weil in der D-Molleiter

                                                                        d — e—|    f— g — a — b — c — d — e — f    | — g — a — b — c — d

der zwischen den Tönen f und f liegende Abschnitt der Leiter dem lydischen Tongeschlechte angehörte. So veränderten die alten Namen der Tongeschlechter ihre Bedeutung in die von Tonarten. Die Übersicht dieser Namen ist folgende:

            1) Hypodorisch = F-moll.                       8) Phrygisch = C-moll.
            2) Hypoionisch = Fis-moll.                     9) Aeolisch = Cis-moll.
                    (Tieferes Hypo-                                 (Tieferes Lydisch)
                     phrygisch)                                 10) Lydisch = D-moll.
            3) Hypophrygisch = G-moll.                 11) Hyperdorisch = Es-moll.
            4) Hypaeolisch = Gis-moll.                         (Mixolydisch)
                (Tieferes Hypo-                             12) Hyperionisch = E-moll.
                    lydisch)                                             (Höheres
            5) Hypolydisch = A-moll.                             Mixolydisch)
            6) Dorisch = B-moll.                         13) Hyperphrygisch = f-moll
            7) Jonisch = H-moll.                                 (Hypermixolydisch)
                    (Tieferes                                 14) Hyperäolisch = fis-moll.
                        Phrygisch)                           15) Hyperlydisch = g-moll.
 
 

Innerhalb jeder dieser Tonleitern konnte man jedes der vorher besprochenen Tongeschlechter bilden, indem man den entsprechenden Teil der Leiter benutzte. Außerdem erlaubte diese Leiter in das Tetrachord Synemmenõn hineinzugehen, und damit in die Tonart der Subdominante hinüber zu modulieren.

Bei den diesen Leitern zu Grunde liegenden Transpositionsversuchen erkannte man, daß man annähernd die Oktave aus 12 Halbtönen zusammengesetzt denken könne. Schon Aristoxenus wußte, daß man im Quintenzirkel fortschreitend bei der zwölften Quinte wieder auf einen Ton komme, der (wenigstens nahehin) eine höhere Oktave des Ausgangstones sei. Also in der Reihe
                                                                f— c — g — d— a — e — h —fis — cis — gis — dis — ais — eis
identifizierte er cis mit f, und damit war die Reihe der durch den Quintencirkel zu bildenden Töne abgeschlossen. Die Mathematiker widersprachen zwar, und sie hatten Recht, insofern bei ganz reinen Quinten das cis ein wenig höher als f ist. Für die praktische Ausführung war aber dieser Fehler ganz unerheblich, und konnte in der homophonen Musik namentlich mit vollem Rechte vernachlässigt werden13).

13) Für die Beurteilung der griechischen Systeme ist die Tatsache nicht unwichtig, daß in den thebanischen Königsgräbern der Ägypter eine Flöte gefunden ist (jetzt im Museum zu Florenz Nr. 2688), die nach der Untersuchung des Herrn Fétis eine fast vollständige Halbtonskala durch anderthalb Oktaven gibt. Nämlich:

Reihe der Grundtöne: a, b, h, c', cis', d'
Erste Obertöne a', b', h', c", cis", d"
Zweite Obertöne c", f", fis", g", gis", a"
Dritte Obertöne a", b", h", c'", cis"', d'".
Abbildungen solcher Flöten finden sich auf den allerältesten Denkmälern der Ägypter; sie sind sehr lang, die Löcher alle nahe dem einen Ende, und sie müssen deshalb mit weit ausgestrecktem Arm gegriffen werden; dadurch entsteht eine charakteristische Haltung der Spieler dieses Instruments. Schwerlich war diese alte Halbtonskala den Griechen unbekannt geblieben. Daß sie sie erst nach der Zeit Alexander's in ihre Theorie einführten, läßt erkennen, wie bestimmt sie die diatonische Skala bevorzugten.
 
 

Damit war der Entwickelungsgang des griechischen Tonsystems abgeschlossen. So vollständig aber auch unsere Kenntnisse über die äußerlichen Formen sind, so wenig wissen wir über das Wesen der Sache, weil die Beispiele aufbewahrter Melodien zu gering an Zahl und zu zweifelhaft in ihrem Ursprunge sind.

Wie es nun aber auch mit der Tonalität der griechischen Tonleitern gewesen sein mag, und wie viele Fragen über sie auch noch ungelöst bleiben mögen, für die Theorie der allgemeinen historischen Entwickelung der Tongeschlechter erfahren wir, was wir brauchen, aus den Gesetzen der ältesten christlichen Kirchenmusik, deren erste Anfänge sich an die untergehende antike Kunstbildung noch anschließen. Im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung setzte der Bischof Ambrosius von Mailand vier Tonleitern für den kirchlichen Gesang fest, welche in der unveränderten diatonischen Leiter waren:

                                                                        Erste Tonart: d — e —f— g — a — h — c — d, Septimengeschlecht.

                                                                        Zweite Tonart: e —f — g — a — h — c — d — e, Sextengeschlecht.

                                                                        Dritte Tonart: f — g— a — h — c — d — e —f, Quintengeschlecht
                                                                                                                                                    (unmelodisch).
                                                                        Vierte Tonart: g — a — h — c — d — e —f — g, Quartengeschlecht.

Nun war aber der Ton h, wie in den späteren griechischen Leitern, veränderlich geblieben, statt seiner konnte b eintreten; dann gab es folgende Tonarten:

                                                                            Erste: d — e —f — g — a — b — c— d. Terzengeschlecht (Moll).

                                                                            Zweite: e—f—g—a—b—c—d—e, Secundengeschlecht
                                                                                                                                    (unmelodisch).
                                                                            Dritte: f—g—a—b—c—d—e—f, Dur.

                                                                            Vierte: g — a — b — c — d — e —f — g, Septimengeschlecht.

Darüber, daß diese Ambrosianischen Tonleitern als essentielle zu betrachten sind, ist kein Zweifel, denn die alte Regel ist, daß Melodien in der ersten Leiter in d schließen müssen, die der zweiten in e, der dritten in f, der vierten in g; dadurch ist der Anfangston jeder dieser Leitern als Tonica charakterisiert. Wir dürfen diese von Ambrosius getroffene Anordnung wohl als eine praktische Vereinfachung der alten, mit einer inkonsequenten Nomenklatur überladenen Musiklehre für seine Chorsänger betrachten, und zurückschließen, daß wir Recht hatten zu vermuten, daß die ähnlich aussehenden griechischen Tonleitern aus der griechischen Blütezeit wirklich als essentiell verschiedene Tonleitern gebraucht werden konnten.

Papst Gregor der Große fügte zwischen die Ambrosianischen Leitern noch ebensoviel akzidentelle, die sogenannten plagalischen, ein, welche von der Quinte der Tonica zur Quinte liefen. Die Ambrosianischen hießen im Gegensatz zu diesen die authentischen. Die Existenz dieser plagalischen Kirchentöne half die Verwirrung vermehren, welche gegen das Ende des Mittelalters über die Kirchentöne ausbrach, als die Komponisten die alten Regeln über die Lage des Schlußtones zu vernachlässigen anfingen, und diese Verwirrung diente dazu eine freiere Entwickelung des Tonsystemes zu begünstigen. Darin zeigt sich übrigens auch, wie schon im vorigen Abschnitte bemerkt wurde, daß das Gefühl für die durchgängige Herrschaft der Tonica auch im Mittelalter noch nicht sehr ausgebildet war; während den griechischen Schriftstellern gegenüber doch wenigstens schon der Fortschritt gemacht war, daß man das Gesetz des Schlusses in der Tonica als Regel anerkannte, wenn auch nicht immer befolgte.

Glareanus suchte 1547 in seinem Dodecachordon die Lehre von den Tonarten wieder in das Reine zu bringen. Er wies durch Untersuchung der musikalischen Kompositionen seiner Zeitgenossen nach, daß nicht 4, sondern 6 authentische Tonarten zu unterscheiden seien, die er mit den oben dazu angegebenen griechischen Namen verzierte. Dazu nahm er 6 plagalische, und unterschied im Ganzen also 12 Tonarten, woher der Name seines Buches kommt. Also auch noch im sechzehnten Jahrhundert wurden essentielle und akzidentelle Tonleitern in einer Reihe fortgezählt. Unter des Glareanus Tonleitern ist noch eine unmelodische, nämlich für das Quintengeschlecht, welches er die lydische Tonart nannte. Für dieses mangeln die Beispiele, wie auch Winterfeld bei einer sorgfältigen Untersuchung mittelalterlicher Kompositionen fand14), wodurch das Urteil des Plato über das Mixolydische und Hypolydische bestätigt zu werden scheint.

14) v. Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter. Berlin 1831, Bd. I, S. 73 bis 108.

Demgemäß bleiben übrig als melodische Tongeschlechter, welche für den homophonen und polyphonen Gesang im engeren Sinne brauchbar sind, folgende fünf:
 

  Nach unserer Bezeichnung Griechisch Nach Glarean Leiter
l. Dur Lydisch Jonisch C—c
2. Quartengeschlecht Jonisch Mixolydisch G—g
3. Septimengeschlecht Phrygisch Dorisch D—d
4. Terzengeschlecht Aeolisch Aeolisch. A—a
5. Sextengeschlecht Dorisch Phrygisch E—e

 

Die rationelle Konstruktion der bis zur Oktave oder über die Oktave hinaus fortgesetzten Tonleitern ergibt sich aus dem von uns oben hingestellten Prinzip der Verwandtschaft der Töne. Die Grenze, wie weit wir in dieser Reihe der Verwandten ersten Grades fortzugehen haben, wird dadurch bestimmt, daß zu enge Intervalle, deren Unterscheidung unsicher würde, zu vermeiden sind. Die dann noch bestehenden größeren Lücken werden durch die nächsten Verwandten zweiten Grades gefüllt.

Die Chinesen und Gälen ließen den Ganzton 10/9 als engstes Intervall zu; die Orientalen halten noch jetzt Viertelstöne fest, wie wir gesehen haben. Die Griechen haben mit letzteren experimentiert, aber ihren Gebrauch bald aufgegeben, und sind beim halben Ton 16/15 stehen geblieben.

Die europäischen Völker sind der Entscheidung der Griechen gefolgt, und haben den halben Ton 16/15 als Grenze festgehalten. Das Intervall zwischen dem Es und E, sowie zwischen dem As und A der natürlichen Skala ist kleiner, nämlich 25/24, und wir vermeiden deshalb Es und E oder As und A in dieselbe Skala zu bringen. So erhalten wir folgende zwei Reihen von Tonstufen als nächst verwandte für die aufsteigende und absteigende Tonleiter:

                                                Aufsteigend: c — — e — f — g — a — — c'                                 5/4    16/15 9/8   10/9      6/5
 
                                                Absteigend: c — — As — G—F—Es— —C                             5/4       16/15 9/810/9    6/5
 
Die Zahlen unter den Reihen bezeichnen die Intervalle zwischen je zwei aufeinander folgenden Stufen. Wir bemerken dabei, daß die Intervalle zunächst an der Tonica zu groß sind, und noch weiter geteilt werden können. Eine solche Teilung ist nun aber, nachdem wir die Reihe der Verwandten ersten Grades abgebrochen haben, nur noch durch Verwandte zweiten Grades möglich.

Die engsten Verwandtschaften zweiten Grades werden natürlich durch Vermittelung der der Tonica nächstverwandten Töne gegeben. Unter diesen steht voran die Oktave. Die Verwandten der Oktave sind freilich keine anderen Tonstufen, als die Verwandten der Tonica selbst; aber wenn wir zur Oktave der Tonica übergehen, erhalten wir da die absteigende Reihe der Tonstufen, wo wir vorher die aufsteigende hatten, und umgekehrt.

Also wenn wir von c aufwärts gehen, hatten wir Tonstufen unserer Durleiter gefunden:

                                                                                                c — — e — f — g — a — — c'.

Wir können aber auch die Verwandten von c' nehmen, welche sind:

                                                                                               c — — es — f — g — as — — c'.

Wir können also durch Verwandtschaft zweiten Grades die Töne der Moll-Leiter aufsteigend erhalten. Unter den Tönen dieser letzten Leiter ist das es hier gegeben als untere große Sexte von c' ; es hat aber auch die durch das Verhältnis 5:6 gegebene schwache Verwandtschaft zu c. Wir fanden den sechsten Partialton noch in vielen Klangfarben deutlich enthalten, denen der siebente und achte fehlt, z. B. auf dem Klaviere, bei den engeren Orgelpfeifen, den Mixturregistern der Orgel. Also kann das Verhältnis 5:6 wohl oft noch als natürliche Verwandtschaft ersten Grades merkbar werden; schwerlich aber je das Verhältnis c — as oder 5:8. Daraus folgt, daß wir in der aufsteigenden Leiter eher e in es, als a in as verwandeln können. Im letzteren Falle bleibt nur die Verwandtschaft zweiten Grades übrig. Also folgen die drei aufsteigenden Leitern hinsichtlich ihrer Verständlichkeit in folgender Weise:

                                                                                            c — e —f — g — a — c'

                                                                                            c — es — f — g — a — c'

                                                                                           c — es — f — g — as — c'

Es sind diese Unterschiede, welche auf einer Verwandtschaft zweiten Grades mittels der Oktave beruhen, zwar sehr gering. Sie sprechen sich aber doch aus in der bekannten Umbildung der aufsteigenden Molltonleiter, auf welche die hier aufgefundenen Unterschiede hindeuten.

Wenn man von c abwärts geht, kann man statt der Verwandten ersten Grades in der Reihe

                                                                                                    c — — As — G — F — Es — — C

auch Verwandte des tieferen C nehmen:

c — — A — G — F — E — — C.

In der letzteren ist A mit dem Ausgangstone c durch die schwache Verwandtschaft ersten Grades 5:6 verbunden, E aber nur durch Verwandtschaft zweiten Grades. Also wird auch hier wieder die dritte Leiter sich gestalten können:

c — — A — G — F — Es — — C,

welche wir auch aufsteigend fanden. Also haben wir für die absteigenden Leitern die Reihenfolge

c — As — G — F — Es — — C

c— — A — G — F — Es — — C

c — — A — G — F — E — — C.

Überhaupt, da alle entfernteren und näheren, höheren und tieferen Oktaven der Tonica mit dieser so eng verwandt sind, daß sie fast mit ihr identifiziert werden können, sind auch alle höheren und tieferen Oktaven der einzelnen Tonstufen mit der Tonica fast so eng verwandt, als die der Tonica zunächst liegenden desselben Namens.

Auf die Oktave folgen als Verwandte von c seine Oberquinte g und seine Unterquinte F. Deren Verwandte kommen also zunächst bei der Konstruktion der Tonleiter in Betracht. Nehmen wir zunächst die Verwandten von g.

Aufsteigende Leiter:

                                                                        c verwandt: c — — e — f — g — a — — c'

                                                                        g verwandt: c d es — — g — —h — c'

Verbunden gibt dies

                    l) die Durtonleiter (Lydisches Geschlecht der Griechen):

                                                                            c — d — e — f — g — a — h — c'
                                                                            1     9/8   5/4  4/3     3/2   5/3   15/8   2,
Die Verwandlung des Tones e in es wird hier auch durch die Verwandtschaft mit dem g erleichtert. Dies gibt

                2) die aufsteigende Molltonleiter:

                                                                    c — d — es — f — g — a — h — c'
                                                                    1     9/8   6/5    4/3    3/2   5/3   15/8   2  
                                                Absteigende Leiter:
 
                                                                c verwandt: c — — As — G — F— Es — — — — C

                                                                g verwandt: c B — — — G — — — Es — D — C

gibt die

            3) absteigende Molltonleiter (Hypodorisches oder Aeolisches Geschlecht der Griechen — Terzengeschlecht):

                                                                    c — B — As — G — F — Es — D — C
                                                                    2     9/5     8/5    3/2    4/3    6/5      9/8— 1
oder in der gemischten Leiter, welche As in A verwandelt:

            4) Septimengeschlecht (Phrygisch der Griechen):

                                                                    c — B — A — G — F — Es — D — C
                                                                    2     9/5    5/3    3/2    4/3    6/5      9/8     1
Gehen wir nun über zu den Verwandten der Unterquinte F, so finden wir folgende Leitern:                         Aufsteigend:
 
                                    c verwandt: c — — — e — f — g — a — — — c'

                                    F verwandt: c — d — — —f — — — a — b — c'

Dies gibt

            5) das Quartengeschlecht (Hypophrygisch oder Jonisch der Griechen):

                                                        c — d — e — f — g — a — b — c'
                                                        1    10/9   5/4  4/3   3/2    5/3   16/9   2
Verwandeln wir e in es, so erhalten wir wieder

            6) das Septimengeschlecht, aber mit anderen Bestimmungen für die Schalttöne d und b:

                                                    c — d — es — f — g — a — b — c'
                                                    1    10/9   6/5    4/3   3/2    5/3   16/ 2,  
                    Absteigende Leiter:
 
                            c verwandt: c — — — — As — G — F — Es — — — C

                            F verwandt: c — B — A — — — — F — — — Des — C

Gibt

            7) das Sextengeschlecht (Dorisch der Griechen):

                                                c — B — As — G — F — Es — Des — C
                                                2     16/9  8/5     3/2     4/3      6/5      16/15     1
So sind die melodischen Tongeschlechter der Griechen und der altchristlichen Kirche hier auf dem konsequent fortgesetzten natürlichen Wege der Ableitung alle wiedergefunden. Alle diese Geschlechter haben in der Tat das gleiche Recht, so lange es sich nur um homophonen Gesang handelt.

Ich habe hier zunächst die Leitern in der Weise gegeben, wie sie sich in der natürlichsten Weise ableiten. Aber da wir gesehen haben, daß jede der drei Leitern

                                                                    c — — e — f — g — a — — c'

                                                                    c — — es — f — g — a — — c'

                                                                    c — — es — f — g — as — — c'

sowohl aufsteigend als absteigend durchlaufen werden kann, wenn auch die erste besser zur aufsteigenden, die letzte besser zur absteigenden Bewegung paßt, so können auch die Lücken jeder einzelnen von ihnen entweder ausgefüllt werden mit den F-verwandten oder den g-verwandten Tönen, und es kann sogar die eine Lücke mit einem F-verwandten, die andere mit einem g-verwandten gefüllt werden.

Die Zahlenbestimmungen der der Tonica direkt verwandten Töne sind natürlich fest15) und unveränderlich, weil sie durch konsonante Verhältnisse zur Tonica direkt gegeben und dadurch sicherer bestimmt sind, als durch jede entferntere Verwandtschaft. Dagegen sind die Ausfüllungstöne vom zweiten Grade der Verwandtschaft allerdings nicht so fest gegeben.

15) Ich kann namentlich nicht zugeben, daß, wie Hauptmann will, in die aufsteigende Molltonleiter das Pythagoräische a, welches die Quinte von d ist, gesetzt werde. D'Alembert will dasselbe sogar auch in die Durtonleiter setzen, indem er von g nach h durch den Fundamentalbaß d geht. Das würde eine entschiedene Modulation nach G-Dur anzeigen, welche nicht nötig ist, wenn man die natürlichen Beziehungen der Töne zur Tonica festhält. Siehe Hauptmann, Harmonik und Metrik, S. 60.
 
 

Für die Secunde haben wir, wenn c = l: 1) das g- verwandte d = 9/8,

2) das f-verwandte d = 10/9 = 9/8 · 80/81,

3) das f-verwandte des = 16/15.
 
 

Für die Septime: 1) das g-verwandte h = 15/8,

2) das g- verwandte b = 9/5,

3) das f-verwandte b = 16/9 = 9/5 · 80/81 ·
 
 

Während die Töne h und des also ebenfalls sicher gegeben sind, bleiben die Töne b und d unsicher. Beide können mit der Tonica c entweder einen großen ganzen Ton 9/8 oder einen kleinen 10/9 bilden.

Um diese Unterschiede der Stimmung fortan sicher und unzweideutig bezeichnen zu können, wollen wir von hier ab eine Bezeichnungsweise der Töne einführen, welche diejenigen Töne, die durch eine Quintenreihe bestimmt sind, unterscheidet von denjenigen, welche durch die Verwandtschaft einer Terz zur Tonica gegeben sind. Wir haben schon gesehen, daß diese beiden verschiedenen Arten der Bestimmung auf etwas verschiedene Tonhöhen fuhren, und eben deshalb müssen in genauen theoretischen Untersuchungen beiderlei Arten von Tönen von einander getrennt bleiben, wenn sie auch in der modernen Musik praktisch gewöhnlich mit einander verwechselt werden.

Die wesentliche Idee dieser Bezeichnungsweise rührt von Hauptmann her; da die von ihm und auch von mir in der ersten Auflage dieses Buches benutzten großen und kleinen Buchstaben aber schon eine andere Bedeutung in der Tonschrift haben, wende ich hier eine kleine Modifikation seiner Bezeichnung an.

Wenn C der Ausgangston ist, so bezeichnet man16) dessen Quinte mit G, die Quinte dieser Quinte mit D u. s. w.; ebenso die Quarte von C mit F, die Quarte dieser Quarte mit B u. s. w. Es bildet also die Reihe derjenigen Töne, welche mit einfachen ungestrichenen Buchstaben bezeichnet sind, eine Reihe reiner Quinten und Quarten:

B — F — C — G — D — A — E   u. s. w.

Dadurch ist die Höhe aller dieser Töne eindeutig bestimmt, wenn einer von ihnen gegeben ist.
 
 

16) Die Natur der Harmonik und Metrik. Leipzig 1853. S. 26 u. ff. — Ich kann mich nur dem Bedauern anschließen, welches C. E. Naumann ausgedrückt hat, daß so viele feine musikalische Anschauungen, welche dieses Werk enthält, unnötiger Weise hinter der abstrusen Terminologie der Hegel’schen Dialektik versteckt und deshalb einem größeren Leserkreise ganz unzugänglich sind.
 
 

Die große Terz von C dagegen bezeichnen wir mit dem Zeichen E, die von F mit A u. s. w. Die Reihe der Töne

                                                                        B — D —F — A — C — E — G — H —D — Fis — A

u.s.w. ist also eine abwechselnde Reihe großer und kleiner Terzen. Dabei ist es klar, daß die Töne

                                                                        D — A — E — H— Fis u. s. w.

unter sich wieder eine Reihe reiner Quinten bilden.

Wir haben schon oben gefunden, daß der Ton D, d. h. die kleine Unterterz oder große Sexte von F tiefer ist, als der von F aus im Quintencirkel erreichte Ton D, und zwar ist der Unterschied der Tonhöhe ein Komma, dessen Zahlenwert 81/80 ist, etwa der zehnte Teil eines ganzen Tones. Da nun D — A ebenso gut wie D — A eine reine Quinte ist, so ist auch A um ein ebensolches Komma höher als A, und ebenso jeder mit einem ungestrichenen Buchstaben bezeichnete Ton um ein Komma höher als der mit dem entsprechenden unterstrichenen Buchstaben bezeichnete Ton, wie man leicht sieht, wenn man in Quinten immer weiter schreitet.

Ein Durakkord schreibt sich also

                                                    C — E — G

und ein Mollakkord

                                                A — C — E —      oder    C — Es —G.

Setzen wir nun überhaupt fest, daß jeder Strich unter dem Buchstaben die Tonhöhe um das Intervall 81/80 erniedrigt, jeder über dem Buchstaben sie um eben so viel erhöht, so können wir die Durakkorde schreiben

oder 
 
 
die Mollakkorde oder 
 
 
oder auch oder  u. s. w. 17)
 
17) In der ersten Auflage dieses Buches sind, wie bei Hauptmann, die kleinen Buchstaben als um ein Komma niedriger betrachtet worden, als die großen, ein Strich über oder unter den Buchstaben wurde nur zuweilen zur Aushilfe angewendet, bedentete dann aber Erhöhung oder Erniedrigung um zwei Kommata. Also ein Durakkord schrieb sich C — e — G oder , ein Mollakkord a — C — e oder A — c — E u. s. w. Die in dieser Auflage und auch in derb und auch in der französischen Übersetzung gebrauchte Bezeichnung, ausgegangen von Herrn A. v. Oettingen, ist viel übersichtlicher.
 
 
 
 

Die drei Reihen der mit C direkt verwandten Töne sind also zu schreiben

                                                                                                C — — E — F — G — A — — c

                                                        C — —  — F — G — A — — c

                                                        C — —  — F — G —  — c

und die Fülltöne sind                                     zwischen Tonica nnd Terz: D, D oder ,

zwischen Sexte und Oktave: H und B oder .

Also die melodischen unter den griechischen und altkirchlichen Ton-geschlechtern geben folgende Leitern: 1) Durgeschlecht:

C — D — E — F— G — A — H — c

                                                                                        D

2) Quartengeschlecht:

C — D — E—F — G — A — B — c

                                                                                         D                                 

3) Septimengeschlecht:

C — D —  — F — G — A — B — c

                                                                                      D                                       

4) Terzengeschlecht:

C — D —  — F — G — — B — c

                                                                                     D                                        

5) Sextengeschlecht:

C — — — F — G — — B — c.
                                            
In dieser Bezeichnungsweise ist also die Stimmung der Töne genau ausgedrückt dadurch, daß die Art der Konsonanz, in der sie zur Tonica oder deren Verwandten stehen, festgesetzt ist.

Dieselben Leitern in der altgriechischen pythagoräischen Stimmung würden übrigens zu schreiben sein:

Durgeschlecht:
C — D — E — F — G — A — H — C

und die anderen ähnlich durchaus nur mit Buchstaben gleicher Art, die derselben Quintenreihe angehören.

In den hier aufgestellten Formeln für die diatonischen Tongeschlechter bleibt die Stimmung der Secunde und Septime teilweise schwankend. Ich habe in diesen Fällen das D vor dem D und das B vor dem bevorzugt, weil die Verwandtschaft der Quinte eine nähere ist als die der Terz. Es stehen aber B und D im Quintenverhältnis beziehlich zu den der Tonica C nächstverwandten Tönen F und G, D und  aber nur im Terzenverhältnis. Doch ist dieser Grund wohl nicht ausreichend, die letztgenannten Töne von der Anwendung im homophonen Gesange ganz auszuschließen. Denn wenn in der melodischen Bewegung die Secunde der Tonart in enge Nachbarschaft zu den mit F verwandten Tönen tritt, zum Beispiel zwischen F und Agestellt wird, oder ihnen nachfolgt, so wird es einem genau intonierenden Sänger gewiß natürlicher sein, das dem F und A direkt verwandte D als das nur im dritten Grade verwandte D anzugeben. Die ein wenig engere Beziehung des letzteren zur Tonica wird hier kaum den Ausschlag geben können.

Auch glaube ich nicht, daß in dieser Zweideutigkeit der ausfüllenden Töne ein Mangel des Tonsystems liegt, da in dem modernen Mollsystem die Sexte und Septime der Tonart nicht nur um ein Komma, sondern um einen halben, Ton geändert werden, je nach der Richtung der melodischen Bewegung. Entscheidendere Gründe für die Anwendung des D statt des D werden wir übrigens im nächsten Abschnitte kennen lernen, wenn wir uns von der homophonen Musik zu dem Einflusse der harmonischen Musik auf die Tonleitern hinwenden werden.

Die hier gegebene Darstellung der rationellen Konstruktion der Tonleitern und der entsprechenden Stimmung der Intervalle weicht von der, welche Pythagoras den Griechen gegeben, und welche sich von da bis in die neuesten musikalischen Theorien hinein fortgepflanzt hat, und die auch noch jetzt die Basis unseres Notensystems bildet, wesentlich ab, Pythagoras ließ die ganze diatonische Leiter aus Quintenschritten entstehen in der Folge

F — C — G —D —A —E — H

und berechnete danach die Intervalle, wie sie oben angegeben sind. Nach ihm kommen in der diatonischen Leiter nur zweierlei kleinste Intervalle vor, nämlich der Ganzton 9/8 und das Limma 256/243.

Wenn in jener Reihe C die Tonica wäre, würde A eine Verwandtschaft dritten Grades, E eine solche vierten, H gar eine fünften Grades zur Tonica haben; Verwandtschaften, welche für die unmittelbare Empfindung des Ohres absolut unwahrnehmbar sein würden.

Quintenfolgen lassen sich auf einem Instrumente zwar abstimmen, und so weit fortsetzen, als man will; aber der Sänger und der Hörer können unmöglich bei einem Übergange von c nach e fühlen, daß der letztere Ton die vierte Quintenstufe von c aus ist. Selbst bei einer Verwandtschaft zweiten Grades durch Quinten, wenn man also von c nach d geht, wird es zweifelhaft sein, ob der Hörer die Verbindung beider Töne fühlen wird. Hier kann man sich aber im Übergange zwischen beiden Tönen noch ein gleichsam stummes g eingeschoben denken, welches die untere Quarte von c, die untere Quinte von dist, und so die Verbindung, wenn auch nicht für das körperliche Ohr, doch für die Erinnerung herstellt. In diesem Sinne etwa möchte es zu verstehen sein, wenn Rameau und d'Alembert den Übergang von c nach d durch den vom Sänger hinzugedachten Fundamentalbaß G erklären. Wenn der Sänger die Baßnote G nicht gleichzeitig mit d hört, kann er auch nicht sein d so einrichten, daß es mit der Baßnote konsoniert; aber den melodiösen Fortgang kann er durch einen dazwischen gedachten Ton sich allerdings erleichtern. Es ist dies ein Mittel, welches zum Treffen schwieriger Intervalle bekanntlich oft mit Vorteil angewendet wird. Dagegen läßt dies Mittel natürlich im Stich, wenn man zu Tönen von entfernterer Quintenverwandtschaft übergehen sollte.

Endlich liegt in der Quintenreihe auch kein Grund aufzuhören, wenn die diatonische Leiter ausgefüllt ist. Warum schreiten wir nicht vorwärts zur chromatischen Leiter von 12 Halbtönen? Wozu diese seltsame Ungleichheit der Stufen

1, 1, 1/2 1, 1, 1, 1/2,

mit der wir unsere Leiter abschließen? Die durch fortgesetzte Quintenfolge neu hinzukommenden Töne würden keine engeren Stufen geben als schon da sind. Die alte fünftonige Leiter vermied halbe Töne als zu enge Intervalle, wie es scheint. Wenn aber erst einmal zwei in der Leiter waren, warum nicht alle einführen?

Auch das arabisch-persische Musiksystem, so weit es sich in den Schriften ihrer älteren Theoretiker ausgeführt zeigt, kennt nur die Stimmung nach Quinten. Dieses System, dessen Eigentümlichkeiten, wie es scheint, schon vor der Eroberung durch die Araber im persischen Reiche der Sassaniden ausgebildet waren, enthält aber einen sehr wesentlichen Fortschritt gegen das Pythagoräische System der Quintenfolgen.

Um das System dieser Musik, welches bisher vollständig miss-verstanden ist, nach seinem wahren Sinne zu verstehen, muß man noch folgenden Umstand kennen. Wenn man von C aus vier Quinten aufwärts stimmt:

                                                                                                C — G — D — A — E,

kommt man zu einem E, welches um ein Komma 81/80 höher ist, als die natürliche große Terz von C, welche wir mit E bezeichnen. Jenes E bildet die Terz in der Pythagoräischen Tonleiter. Wenn man dagegen von Cab durch acht Quinten rückwärts geht:

C — F — B — Es — As — Des — Ges — Ces — Fes,

kommt man auf einen Ton Fes, welcher fast genau übereinstimmt mit dem natürlichen E. Das Intervall von C zu Fes wird nämlich ausgedrückt durch das Zahlenverhältnis

8192/6561 oder nahehin 221/177 = 5/4 885,6/886,6

Der Ton Fes ist also um das sehr kleine Intervall 887/886, welches etwa der elfte Teil eines Kommas ist, niedriger als die natürliche Terz E. Dieser Unterschied zwischen Fes und E ist praktisch kaum wahrzunehmen, höchstens durch genaue Beobachtung der sehr langsamen Schwebungen, welche der Akkord C — Fes — G auf einem ganz genau gestimmten Instrumente geben würde. Wir können daher bei der praktischen Anwendung unbedingt die beiden Töne Fes und E gleichsetzen, und dem entsprechend auch die reinen Quinten derselben Ces = H, Ges = Fis etc.

Nun ist in der arabisch-persischen Skala die Oktave in 17 Stufen eingeteilt, in unserer gleichschwebenden Temperatur aber in 6 ganze Tonstufen, und dadurch ist bei den neueren Interpreten des arabisch-persischen Musiksystems die Meinung entstanden, jede einzelne von jenen 17 Stufen entspreche nahehin einer Dritteltonstufe unserer Musik. Dann würde in der Tat die Stimmung der arabischen Tonstufen von den unserigen gänzlich abweichend sein, und arabische Musik würde durch unsere Musikinstrumente nicht ausgeführt werden können. Ich finde aber in Kiesewetter's Schrift über die Musik der Araber18), welche unter philologischer Beihilfe des berühmten Orientalisten v. Hammer-Purgstall abgefaßt ist, die Übersetzung der Vorschriften, welche Abdul Kadir, ein berühmter persischer Theoretiker des vierzehnten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, der an den Höfen des Timur und Bajazid lebte, über die Teilung des Monochords gegeben hat; ans diesen ergibt sich die Stimmung der Tonstufen der orientalischen Tonleiter mit voller Sicherheit und Genauigkeit. Auch stimmen diese Vorschriften in den Hauptsachen überein sowohl mit denen, welche der viel ältere Farabi19) (†950) als auch der gleichzeitige Mahmud Schirasi20) († 1315) für die Einteilung des Griffbretts der Laute gegeben haben. Nach den Vorschriften des Abdul Kadir ergeben sich sämtliche Tonstufen der arabischen Leiter durch eine Reihe von 16 Quintenschritten, und sind, wenn wir die tiefste Tonstufe Cnennen, in unserer Bezeichnungsweise ausgedrückt, folgende:

l) G — 2)     Des — 3)     D ~ 4)    D — 5)     Es — 6)     E ~

7) E — 8)     F — 9)         Ges —10)     G ~ 11)     G — 12)     As—

13) A ~ 14)     A — 15)     B — 16)     H —17)     c ~ 18)     c.

Wo das Zeichen — zwischen zwei Tönen steht, beträgt die Stufe ein Pythagoräisches Limma 256/243 (abgekürzt 20/19), und wo das Zeichen ~ steht, betragt sie nur ein Komma 81/80. Das Limma beträgt nahehin 4/5, das Komma 1/5 des natürlichen Halbtones 16/15.

18) R. G. Kiesewetter, die Musik der Araber nach Originalquellen dargestellt, mit einem Vorworte von dem Freiherrn v. Hammer-Purgstall. Leipzig 1842. S. 32 und 33. Wesentlich damit übereinstimmend sind die Vorschriften, die in einem anonymen Manuskript aus dem Jahre 666 der Hedschra, im Besitze des Professor Salisbury, gegeben werden. S. Journal of the American Oriental Society, Vol. I, pag. 204 bis 209.

19) J. G. L. Kosegarten, Alii Ispahanensis liber cantilenarum, p. 76 bis 86.

20) Kiesewetter, Musik der Araber, S. 33.
 
 

Von den 12 Haupttonarten (Makamat) gibt Abdul Kadir die Tonleitern der drei ersten in folgender Stimmung:

                    1. Uschak: C—D —E—F— G —A—B— C (Hypophrygisch),

                    2. Newa: C — D —Es— F—G —As—B— C (Hypodorisch),

                    3. Buselik: C—Des—Es—F—Ges—As—B— C (Mixolydisch).

Diese drei sind also vollständig identisch mit altgriechischen Tonleitern in Pythagoräischer Stimmungsweise. Da von den arabischen Theoretikern diese Leitern abgeteilt werden in die Quarte C — F und die Quinte F — G, ferner C, F und B als die festen und unveränderlichen Töne dieser Leitern betrachtet werden, so ist es sehr wahrscheinlich, daß F als Tonica betrachtet werden muß. Dann würde sein:

            1. Uschak gleich F-Dur,

            2. Newa gleich dem Quartengeschlecht von F,

            3. Buselik gleich dem Sextengeschlecht von F;

alle drei aber in Pythagoräischer Stimmung; sie werden auch von der persischen Schule als zusammengehörig betrachtet.

Die nächste Gruppe besteht aus fünf Tonarten, welche die natürliche Stimmung zeigen, nämlich:

            4. Rast: C — D — E — F — G — A — B — c

            5. Husseini: C — D — Es — F — G — As — B — c

            6. Hidschaf: C — D— Es — F — G — A — B — c

            7. Rahewi: C — D — E — F — G — As — B — c

            8. Sengule: C — D — E — F—G — A — B — c

Man kann Rast ansehen als Quartengeschlecht von C, Hidschaf als dasselbe von F, Husseini als dasselbe von B; als solche hätten sie vollkommen richtige natürliche Stimmung. Im Rahewi, wenn man es auf die Tonica F bezieht, ist die Mollterz As nicht in natürlicher, sondern in Pythagoräischer Stimmung; man könnte es als Septimengeschlecht der Tonica F betrachten, in welches aber die große Septime E als Leitton statt der kleinen eingetreten ist, wie in unserem Mollgeschlecht. Die natürliche Stimmung eines solchen Tongeschlechts läßt sich in der Tat mit den vorhandenen 17 Tonstufen nicht genau richtig herstellen; man muß entweder Pythagoräische Mollterzen und natürliche Durterzen oder umgekehrt nehmen. Husseini kann betrachtet werden als dieselbe Tonart wie Rahewi, mit derselben falschen Mollterz, aber mit kleiner Septime. Endlich Sengule wäre ein F- Dur mit Pythagoräischer Sexte. Die gleiche Auffassung Hesse auch Rast zu; beide unterscheiden sich nur durch den verschiedenen Wert der Secunde G oder G.

Die vier letzten Makamat enthalten je acht Tonstufen, indem noch Schalttöne eingesetzt sind. Zwei davon sind ähnlich den Tonleitern Rast und Sengule, zwischen B und C ist ein Zwischenton ceingesetzt, nämlich:

            9. Irak: C — D — E — F — G — A — B — c — c,

            10. Ifzfahan: C — D — E — F — G — A — B — c — c.

Diese transponiert um eine Quarte, geben:             11. Büsürg: C — D —E — F— G — G — A —H — c.

Die letzte ist die Tonleiter:

            12. Zirefkend: C — D — Es — F — G — As — A — H — c,

welche allerdings, wenn sie richtig überliefert ist, eine wunderliche Bildung hat. Sie könnte wie eine Molltonleiter mit großer Septime erscheinen, in der große und kleine Sexte neben einander stehen; aber die Quinte G wäre dann falsch. Betrachtet man dagegen F als ihre Tonica, so fehlt die Quarte, was freilich beides in der mixolydischen und hypolydischen Tonleiter der Griechen seine Analogie findet. In den Angaben über die letztgenannten achtstufigen Tonreihen herrscht übrigens viel Widerspruch zwischen den verschiedenen von Kiesewetter zitierten Quellen.

Als Haupttonarten werden vier von den zwölf Makamat bezeichnet, nämlich:

1. Uschak == Pythagoräisch F-Dur,

2. Rast == Natürlich C Quartengeschlecht, oder natürlich F-Dur mit höherer Sexte,

3. Husseini == Natürlich F Septimengeschlecht,

4. Hidschaf == Natürlich F Quartengeschlecht.

Wir finden hier also ein entschiedenes Übergewicht der Tonleitern mit vollkommen richtiger natürlicher Stimmung, und diese natürliche Stimmung ist durch eine geschickte Benutzung der fortgesetzten Quintenreihe gewonnen. Dadurch wird dieses arabischpersische System der Musik für deren Entwickelungsgeschichte sehr beachtenswert. Es kommt noch hinzu, daß wir in einigen dieser Leitern aufsteigende Leittöne vorfinden, welche den griechischen Tonleitern vollkommen fremd waren. So in Rahewi das E als Leitton zu F, während über F die Mollterz As steht, welcher Ton in einer griechischen Leiter nicht hätte vorkommen können, ohne auch das E in Es zu verwandeln. Ebenso in Zirefkend das H als Leitton zu C, während über C die Mollterz Es steht.

Endlich entwickelte sich wenig später in Persien ein neues musikalisches System mit zwölf Halbtonstufen in der Oktave, dem modernen europäischen analog. Kiesewetter macht hier die sehr unwahrscheinliche Hypothese, dasselbe sei durch christliche Missionäre in Persien eingeführt. Indessen ist es klar, daß das bisher beschriebene siebzehnstufige System im populären Gebrauche, wenn das Gefühl für die feineren Unterschiede sich abstumpfte, und die nur um ein Komma verschiedenen Töne gleich gesetzt wurden, in das System der zwölf Halbtonstufen übergehen mußte. Dazu war gar kein fremder Einfluß nötig; außerdem war das griechische Musiksystem den Arabern und Persern längst durch Farabi gelehrt worden; über dieses hinaus war die europäische Musiktheorie des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts auch noch nicht wesentlich fortgeschritten, die Studien in der Harmonie abgerechnet, welche aber bei den Orientalen niemals Aufnahme gefunden haben. Die damaligen Europäer konnten also in der Tat in jener Zeit außer den unvollkommenen Anfängen der Harmonie den Orientalen nichts lehren, was diese nicht schon besser wußten. Viel eher, glaube ich, kann die Frage aufgeworfen werden, ob nicht erstens die unvollkommenen Brocken des natürlichen Systems, die sich bei den Alexandrinischen Griechen finden, auf persischen Überlieferungen beruhen, und zweitens, ob nicht auch die Europäer zur Zeit der Kreuzzüge mancherlei in der Musik von den Orientalen gelernt haben. Daß sie die lautenartigen Instrumente mit Griffbrett und die Streichinstrumente vom Orient empfangen haben, ist sehr wahrscheinlich. Im Bau der Tonarten könnte hier namentlich der Gebrauch des Leittones in Frage kommen, den wir bei den Orientalen gefunden haben, und der nun auch in der abendländischen Musik zu erscheinen beginnt.

In der Anwendung der großen Septime der Tonart als eines Leittones zur Tonica liegt ein neues Moment, welches zur weiteren Ausbildung des Zusammenhanges der Tonstufen einer Tonleiter benutzt werden konnte, und zwar noch innerhalb des Bereiches der rein homophonen Musik. Der Ton Hin der C-Durleiter hat von allen Tönen der Leiter die schwächste Verwandtschaft zur Tonica C, da er als Terz der Dominante G eine schwächere Verwandtschaft zu dieser hat als deren Quinte D. Dies dürfen wir wohl als den Grund dafür ansehen, daß in denjenigen Gälischen Liedern, welche noch einen sechsten Ton in die Leiter aufgenommen haben, gewöhnlich die Septime wegbleibt. Andererseits aber tritt für die Septime H eine eigentümliche Beziehung zur Tonica ein, welche die neuere Musik eben als das Verhältnis des Leittones bezeichnet. Die große Septime H ist nämlich von der Oktave c der Tonica nur durch das kleinste Intervall der Skala, einen halben Ton, getrennt, und sie ist vermöge dieser Nachbarschaft der Tonica leicht und ziemlich sicher zu treffen, selbst wenn man von Tönen der Skala ausgeht, die zum H gar keine Verwandtschaft haben. Der Sprung F — H zum Beispiel ist mißlich auszuführen, weil jede Verwandtschaft zwischen beiden Tönen fehlt. Wenn aber zu singen ist F — H — c, so denkt sich der Sänger den Schritt F — c, den er leicht ausführt, treibt aber die Stimme nicht ganz bis zum c in die Höhe, sondern setzt beim H etwas tiefer ein, ehe er sie ganz zum c steigen läßt. Dadurch erscheint das Hals eine Art von Vorhalt des c; es ist bei einem solchen Schritte auch für den Hörer nur als Vorstufe des c gerechtfertigt; dieser erwartet also nun den Übergang in c. Deshalb sagt man, daß das H nach c hinleite; H ist der Leitton für die Tonica c. In diesem Sinne geschieht es denn auch leicht, daß das Hetwas höher intoniert wird, etwa wie H, um es dem c noch mehr zu nähern, wodurch das Verhältnis noch schärfer bezeichnet wird.

Meinem Gefühle nach tritt das Verhältnis des Hals Leitton zu c viel mehr hervor, wenn man die Gänge F — H — c oder F — A — H — c macht, in denen H den vorausgehenden Tönen nicht verwandt ist, als in dem Gange G — H — c zum Beispiel. Doch habe ich in musikalischen Schriften nichts über diesen Punkt angegeben gefunden, weiß also nicht, ob die Musiker dieser Behauptung beizustimmen geneigt sind. Bei der anderen Halbtonstufe der Leiter E — F erscheint E nicht als Leitton zu F, wenn die Tonalität der Melodie gut eingehalten ist, weil dann das E seine selbständige Beziehung zur Tonica c hat, und dadurch für das musikalische Gefühl sicher bestimmt ist. Deshalb wird der Hörer nicht veranlaßt, das E nur als Vorstufe von F gerechtfertigt zu finden. Ebenso ist es beim Schritte G —  der Molltonart. Das G ist durch eine nähere Verwandtschaft zur Tonica C bestimmt, als . Dagegen hat Hauptmann nicht Unrecht, wenn er den Schritt D — der Molltonart, wie schon oben erwähnt ist, als einen solchen betrachtet, der das D als Leitton zu  erscheinen lassen kann, weil D nämlich auch nur durch eine Verwandtschaft zweiten Grades zur Tonica C bestimmt ist, wenn auch durch eine etwas festere als H.

Vollständig ähnlich dem H der Durtonleiter ist aber in dieser Beziehung das  des Sextengeschlechts (des dorischen Geschlechts der Griechen) bei absteigender Bewegung; es bildet in der Tat eine Art absteigenden Leittones, und da die Griechen in ihrer Blütezeit absteigende Melodiegänge edler und wohlklingender fanden21), mag die Eigentümlichkeit des dorischen Tongeschlechts, einen solchen absteigenden Leitton zu besitzen, für sie von besonderer Bedeutung gewesen sein, und die Bevorzugung dieses Geschlechts bedingt haben. Ja der Schluß mit dem übermäßigen Sextenakkorde
 

— F — G — H
C —  — G — c
ist fast die einzige isoliert und unverstanden in der neueren Musik stehengebliebene Ruine der alten Tongeschlechter. Es ist dies ein dorischer Schluß, in welchem gleichzeitig  und H als Leittöne für C auftreten.
 
  21) Aristoteles, Problemata XIX, p. 38.
 
Das Verhältnis der Secunde der dorischen Tonleiter (ihrer Parhypate) zum tiefsten Tone (Hypate) derselben Leiter als Leitton scheinen übrigens die Griechen wohl gefühlt zu haben, nach den Bemerkungen, welche Aristoteles im dritten und vierten seiner Probleme über Harmonie darüber macht, und welche ich mir nicht versagen kann, hier anzuführen, weil sie das Verhältnis wieder vortrefflich und fein charakterisieren. Er fragt nämlich, warum man eine stärkere Anstrengung der Stimme fühle, wenn man die Parhypate singe, als bei der Hypate, obgleich beide durch ein so kleines Intervall getrennt seien. Die Hypate werde mit Nachlaß der Anstrengung gesungen. Und dann fügt er hinzu, daß neben der Überlegung, welche den Willen zur Folge habe, auch noch die Art der Willensanstrengung dem Geiste ganz heimisch und bequem sein müsse, wenn nämlich das Beabsichtigte leicht erreicht werden solle22). Die Anstrengung, welche wir fühlen, wenn wir den Leitton singen, liegt eben nicht im Kehlkopfe, sondern darin, daß es schwer ist, die Stimme durch den Willen auf ihm festzustellen, während uns schon ein anderer Ton im Sinne liegt, auf den wir übergehen wollen, und durch dessen Nähe wir den Leitton gefunden haben. Erst in dem Schlußtone fühlen wir uns heimisch und beruhigt, und gingen diesen deshalb ohne Willensanstrengung.
 
 

22) Durch diese Umschreibung glaube ich den Sinn richtig wiederzugeben von der Stelle:



 
 

Die nahe Nachbarschaft in der Skala gibt ein neues verknüpfendes Band zwischen zwei Tonen, welches sowohl in dem eben betrachteten Verhältnisse des Leittones sich wirksam erweist, als bei den früher erwähnten Einschaltungen von Tönen zwischen zwei andere im chromatischen und enharmonischen Geschlechte. Es verhält sich hier mit den Entfernungen der Töne nach der Tonhöhe gerade so wie bei der Abmessung räumlicher Entfernungen. Wenn wir Mittel haben, einen Punkt (die Tonica) sehr genau und sicher zu bestimmen, so können wir mit dessen Hilfe auch andere Punkte sicher bestimmen, die in bekannter kleiner Entfernung (Intervall des halben Tones) von jenem abstehen, während wir sie direkt vielleicht nicht so sicher hätten bestimmen können. So braucht der Astronom seine mit äußerster Genauigkeit abgemessenen Fundamentalsterne, um mit deren Hilfe dann auch andere benachbarte Sterne genau bestimmen zu können.

Ich bemerke hierbei, daß das Intervall eines halben Tones auch als Vorhaltsnote (Apoggiatura) eine besondere Rolle spielt. Wir können als Vorhalt zu einem Tone der Melodie einen in der Leiter nicht enthaltenen Ton wählen, der einen halben Ton von dem Ton, in den wir übergehen wollen, entfernt ist, aber nicht einen solchen, der um einen Ganzton von letzterem entfernt ist. Die Rechtfertigung seiner Wahl findet das Halbtonintervall in diesen Fällen allerdings nur als ein uns wohlbekanntes Intervall der diatonischen Leiter, welches wir sicher intonieren und welches der Zuhörer sicher versteht, auch wenn in der gerade vorliegenden Passage, in der es ausgeführt wird, die Verwandtschaftsverhältnisse, auf denen seine Größe beruht, nicht deutlich fühlbar sind. Es kann also keineswegs jedes willkürlich gewählte kleine Intervall in gleicher Weise angewendet werden, wenn auch kleine Veränderungen des Leittonintervalls von den praktischen Musikern angebracht werden können, die das Drängen zur Tonica stärker ausdrücken, aber nicht so weit gehen dürfen, daß die Veränderung deutlich erkannt wird.

Die große Septime als Leitton zur Tonica gewinnt also ein besonders nahes Verhältnis zu dieser, welches der kleinen Septime nicht zukommt. Es wird dadurch derjenige Ton der Leiter, dessen Verwandtschaft zur Tonica die schwächste ist, zu einer besonderen Bedeutung erhoben. Dieser Umstand hat sich in der modernen Musik, welche überall möglichst deutliche Beziehungen zur Tonica herzustellen sucht, immer mehr geltend gemacht, und hat bewirkt, daß bei aufsteigender Bewegung zur Tonica die große Septime in allen Tonarten bevorzugt wurde, auch in denjenigen, denen sie ursprünglich nicht zukam. Diese Umänderung scheint in Europa während der Periode der polyphonen Musik begonnen zu haben, aber nicht nur in mehrstimmigen Gesängen, sondern auch in dem einstimmigen Cantus firmus der römischen Kirche. Sie wurde 1322 durch einen Erlaß des Papstes Johannes XXII. gerügt. In Folge dessen unterließ man gewöhnlich die Erhöhung des Leittons in den Noten zu bezeichnen, während sie doch von den Sängern ausgeführt wurde, was nach Winterfeld's Ansicht sogar noch im 16. und 17. Jahrhundert bei protestantischen Tonsetzern geschah, da es einmal Sitte geworden war. Eben deshalb ist es unmöglich, den Fortschritt dieser Veränderung der alten Tonarten genau zu ermitteln23).

23) Der evangelische Kirchengesang. Leipzig 1843. Bd. I. Einleitung.
 
 

Noch jetzt übrigens sträuben sich nach A. v, Oettingen's Bericht24) die Esthen, in Chorälen der Molltonart den Leitton zu singen, selbst wenn er ihnen deutlich durch die Orgel angegeben wird; ebenso nach Herrn A. le Jolis die Landleute bei Cherburg25).

24) Das Harmoniesystem in dualer Entwickelang. Dorpat und Leipzig 1866. pag. 113.

25) A. le Jolis, la tonalité du plain-chant. Revue archéologique. XV. année. 1859.

Unter den alten Tongeschlechtern hatte nur das Lydische der Griechen und das unmelodische Hypolydische (Quintengeschlecht) die große Septime als Leitton zur Tonica, ersteres entwickelte sich daher als das Haupttongeschlecht der neueren Musik, als unser Durtongeschlecht. Von ihm war das Jonische (Quartengeschlecht) durch weiter nichts als die kleine Septime unterschieden. Ließ man diese in die große übergehen, so ging dies Geschlecht ebenfalls in Dur über. Die anderen drei sind, indem man ihnen die große Septime gegeben hat, während des 17. Jahrhunderts allmählich in unser Moll zusammengeflossen. Aus dem Phrygischen (Septimengeschlecht) wird, wenn man B in H ändert, die

                            aufsteigende Molltonleiter

                        C — D— — F — G — A— H— c,

wie wir sie auch vorher schon unter Berücksichtigung der Tonverwandtschaften allein gefunden hatten. Das Hypodorische (Terzengeschlecht), welches unserer absteigenden Molltonleiter entspricht, gibt bei der Änderung von B in H die

instrumentale Molltonleiter

C — D — —F — G — — H — c,

welche von Sängern wegen des Sprunges  — H schwer auszuführen ist, in der modernen Instrumentalmusik aber sowohl aufsteigend wie absteigend oft vorkommt.

Das Dorische (Sextengeschlecht) ist mit großer Septime in der vorher erwähnten Schlußkadenz durch den übermäßigen Sextenakkord noch zu finden.

Die allgemeine Einführung des Leittones bezeichnet also das immer konsequenter sich entwickelnde Gefühl für die Herrschaft einer Tonica in der Tonleiter. Durch diese Änderung wird nicht nur die Mannigfaltigkeit der alten Tongeschlechter arg beeinträchtigt und der Reichtum der bisherigen Ausdrucksmittel wesentlich verringert, sondern es wird auch der kettenartige Zusammenhang der Töne der Tonreihe unter einander durchbrochen und zerstört. Wir haben gesehen, wie nach der ältesten Theorie die Tonsysteme, Quintenreihen waren, erst von vier, dann von sechs Quintenschritten. Die überwiegende Herrschaft einer Tonica als des einzigen Zentrum des Systems war äußerlich wenigstens noch nicht angedeutet oder zeigte sich höchstens mittelbar dadurch, daß man die Zahl der Quintenschritte beschränkte auf diejenigen Töne, die auch in der natürlichen Leiter vorkommen. Alle griechischen Tongeschlechter lassen sich aus den Tönen der Quintenfolge

F — C — G — D — A — E — B

bilden. Sobald man aber zur natürlichen Stimmung der Terzen übergeht, stört man die Reihe der Quinten schon durch eine nicht ganz richtige Quinte

F — C —G — D — A — E — H.

In dieser Reihe ist die Quinte D — A unrein. Und wenn man endlich den erhöhten Leitton einführt, z. B. Gis statt G in A-Moll, so durchbricht man die Reihe vollkommen. Bei der allmählichen Ausbildung des diatonischen Systems sind also schrittweise die Rücksichten auf die kettenweise Verwandtschaft aller Töne unter einander geopfert worden den anderen Rücksichten, welche durch die Forderung, alle Töne mit einem einzigen Zentrum zu verknüpfen, entstanden. Und in dem Maße, wie dies geschah, sahen wir auch, daß der Begriff der Tonalität im Bewußtsein der Musiker sich deutlicher entwickelte.

Die weitere Entfaltung des europäischen Tonsystems hängt nun aber von der Ausbildung der Harmonie ab, zu welchem Gegenstande wir im nächsten Abschnitte übergehen wollen.

Ehe wir aber den eben behandelten Gegenstand verlassen, sind noch einige Zweifel zu beseitigen. Ich habe in dem vorliegenden Abschnitte die melodische Verwandtschaft der Töne ebenso von ihren Obertönen abhängig gemacht, wie es sich für die Verhältnisse der Konsonanz im zehnten Abschnitte ergeben hatte. Es fällt diese Darstellungsweise in einem gewissen Sinne zusammen mit der beliebten Behauptung, daß Melodie eine aufgelöste Harmonie sei, auf welche musikalische Systeme zu gründen man keinen Anstand nimmt, ohne zu fragen, wie denn Harmonien in Melodien aufgelöst werden konnten in Zeiten und bei Völkern, welche noch gar keine Harmonien gehört hatten, oder noch jetzt sie anzuwenden verschmähen. Unserer Darstellung gemäß würden wenigstens dieselben Eigentümlichkeiten in der Zusammensetzung der Klänge, welche für die Konsonanz im Zusammenklange den Ausschlag geben, auch die melodische Verwandtschaft in der Aufeinanderfolge bestimmen. Die erstere wäre demnach zwar nicht der Grund der letzteren, wie es die oben angeführte Redeweise behauptet, aber beide hätten einen gemeinsamen Grund in der Zusammensetzung der Klänge.

Nun haben wir aber bei den Konsonanzen noch gewisse andere Verhältnisse, nämlich die Kombinationstöne, wirksam gefunden, die ihren Einfluß namentlich im Zusammenklange einfacher Töne geltend machen, oder in dem von Klängen mit wenigen und schwachen Obertönen. Ich habe oben schon auseinandergesetzt, daß die Kombinationstöne nur sehr unvollständig die Wirkungen der Obertöne in dem Zusammenklange zu ersetzen vermögen, und daß deshalb Akkorde von einfachen Tönen gebildet matt und charakterlos erscheinen, weil die Gegensätze der Konsonanz und Dissonanz nur sehr unvollkommen entwickelt sind.

In der melodischen Folge können sich aber Kombinationstöne gar nicht geltend machen, und es tritt also die Frage auf, inwiefern eine melodische Wirkung durch eine Folge einfacher Töne hervorgebracht werden könne. Daß man Melodien, welche von den gedackten Registern der Orgel ausgeführt, oder mit dem Munde gepfiffen, oder auf der Glasharmonika, auf Holz- oder Stahlstäbchen, in einer Spieldose oder mit einem Glockenspiel gespielt werden, wiedererkennt, ist unzweifelhaft; ebenso unzweifelhaft aber, daß alle diese Instrumente, welche entweder nur einfache Töne, oder schwache, meist weit entfernte und unharmonische Nebentöne liefern, ohne Begleitung eigentlich musikalischer Instrumente keine eindrucksvolle Wirkung der Melodie hervorzubringen im Stande sind. Zur Führung vereinzelter Stimmen in Begleitung der Orgel oder des Orchesters, oder des Klaviers können sie oft sehr wirksam sein; aber isoliert für sich geben sie entweder eine sehr ärmliche oder, wenn die unharmonischen Nebentöne stärker hervortreten, sogar eine widerwärtige Musik.

Indessen müssen wir doch auch von der Tatsache Rechenschaft ablegen, wie denn überhaupt etwas, was den Eindruck einer Melodie macht, von solchen Instrumenten gebildet werden kann.

Da ist nun erstens zu bemerken, daß, wie ich am Ende des siebenten Abschnittes auseinandergesetzt habe, schon durch die Konstruktion des Ohres die Entstehung schwacher harmonischer Obertöne im Ohre bei allen starken objektiv einfachen Tönen begünstigt wird, und also höchstens leise einfache Töne auch in der subjektiven Empfindung als vollkommen einfach zu betrachten sind.

Zweitens kommt hierbei eine Wirkung des Gedächtnisses in das Spiel. Sobald ich in allen möglichen Tonhöhen Quintenschritte habe ausführen hören, die sich in der Empfindung meines Ohres als Schritte von sehr enger melodischer Verwandtschaft rechtfertigten, so kenne ich die Größe eines solchen Schritts für jeden Teil der Skala aus Erfahrung, und behalte diese Kenntnis vermöge meines Sinnengedächtnisses, d. h. vermöge des Gedächtnisses, was wir für sinnliche Eindrücke, auch für solche, die nicht in Worte zu fassen sind, haben.

Höre ich nun einen solchen Schritt durch Stimmgabeltöne ausführen, so kann ich ihn wiedererkennen als einen oft gehörten Schritt von wohlbekannter Weite auch in einem Falle, wo die harmonischen übertöne fehlen oder sehr schwach sind, die ihn sonst als einen bevorzugten Schritt von enger melodischer Verwandtschaft rechtfertigen. Ebenso werde ich andere melodische Schritte oder ganze Melodien als bekannt wiedererkennen können, wenn sie in einfachen Tönen ausgeführt werden; und höre ich eine Melodie zum ersten Male in dieser Weise, mit dem Munde gepfiffen oder von einer Spieluhr, einer Glasharmonika vorgetragen, so kann ich mir durch die Phantasie ergänzen, wie sie klingen würde von einem eigentlich musikalischen Instrumente, einer menschlichen Stimme oder Violine, ausgeführt.

Ein geübterer Musiker kann sich, indem er die Noten liest, eine Vorstellung von einer Melodie machen; geben wir auf einer Glasharmonika die Grundtöne dieser Noten an, so unterstützen wir die Vorstellung noch unmittelbarer, indem wir einen großen Teil des sinnlichen Eindrucks wirklich hervorrufen, den die Melodie gäbe, wenn sie gesungen würde. Dennoch haben wir bei dem Gebrauch einfacher Töne nur ein Schema der Melodie. Es fehlt hier noch alles, was ihren Reiz bedingt. Wir kennen die einzelnen Intervalle, die in einer solchen Melodie erscheinen, aber es fehlt ihnen der unmittelbare sinnliche Eindruck, der die wohlvermittelten von den entfernter verwandten oder von den ganz unvermittelt einsetzenden trennt. Man denke nur an den Unterschied, den es macht, ob eine Melodie mit dem Munde gepfiffen oder von einer Violine vorgetragen, ob sie auf der Glasharmonika oder auf dem Klavier gespielt wird. Es ist ungefähr derselbe Unterschied, wie zwischen einer einzelnen Photographie einer Landschaft und dem stereoskopischen Anblick eines entsprechenden Paars von Photographien. Jene einzelne erlaubt mir mit Hilfe meines Gedächtnisses eine Vorstellung von den Tiefendimensionen des gesehenen Objekts zu bilden, die. unter Umständen recht genügend sein kann. Die stereoskopische Vereinigung dagegen gibt mir den wirklichen sinnlichen Eindruck wieder, den mir das Objekt in Bezug auf seine Formen gegeben haben würde, und den ich mir bei dem einfachen Bilde ans Erfahrung und Erinnerung ergänzen muß. Daher dem stereoskopischen Bilde eben die größere Lebendigkeit zukommt, welchen der unmittelbare sinnliche Eindruck vor der Erinnerung voraus hat.

Ähnlich scheint es mir mit den in einfachen Tönen ausgeführten Melodien zu sein. Man erkennt sie wieder, wenn man sie schon einmal gehört hat; man kann sich allenfalls bei genügender Lebhaftigkeit musikalischer Einbildungskraft denken, wie sie von anderen Instrumenten ausgeführt klingen würden, aber der unmittelbare sinnliche Eindruck des musikalischen Reizes fehlt ihnen entschieden.