Neunzehnter Abschnitt.

Beziehungen zur Ästhetik.

Blicken wir zurück auf die gewonnenen Ergebnisse. Eine gewisse Klasse von Klängen wird von uns bei aller Musik, melodischer sowohl als harmonischer, bevorzugt, und bei feinerer künstlerischer Ausbildung der Musik sogar so gut wie ausschließlich angewendet; das sind die Klänge mit harmonischen Obertönen, das heißt, die Klänge, deren höhere Partialtöne Schwingungszahlen haben, welche ganze Multipla sind von der Schwingungszahl des tiefsten Partialtones des Klanges, des Grundtons. Für eine gute musikalische Wirkung verlangen wir eine gewisse mäßige Stärke der fünf bis sechs untersten Partialtöne, geringe Stärke der höheren Partialtöne.

Objektiv ausgezeichnet ist diese Klasse von Klängen mit harmonischen Obertönen dadurch, daß zu ihr alle durch einen gleichmäßig fortgehenden mechanischen Vorgang erzeugten Schallbewegungen gehören, die demgemäß auch eine gleichmäßig fortdauernde Empfindung erregen; unter ihnen stehen in erster Reihe die Klänge der menschlichen Stimme, des der Zeit und der Wichtigkeit nach ersten Musikwerkzeuges des Menschen. Die Klänge aller Blaseinstrumente und Streichinstrumente gehören in dieselbe Klasse.

Unter den Körpern, die durch Anschlag zum Tönen gebracht werden, haben einige, wie die Saiten, ebenfalls harmonische Obertöne, und diese sind zur künstlerischen Musik verwendbar.

Die Mehrzahl der übrigen, Membranen, Stäbe, Platten u. s. w., haben unharmonische Nebentöne, und nur diejenigen von ihnen, welche nicht stark hervortretende Nebentöne dieser Art haben, können vereinzelt und gelegentlich neben eigentlich musikalischen Instrumenten verwendet werden.

Die durch Schlag erregten tönenden Körper können zwar eine Zeit lang fortklingen, aber sie geben nicht einen in gleichmäßiger Stärke anhaltenden, sondern einen bald langsamer bald schneller abnehmenden und verlöschenden Ton. Die zum ausdrucksvollen Vortrag nötige fortdauernde Beherrschung der Tonstärke ist also nur bei den Instrumenten erster Art möglich, welche dauernd erregt werden, und nur harmonische Obertöne geben können. Dagegen haben allerdings die durch Schlag erregten tönenden Körper einen eigentümlichen Wert durch die schärfere Bezeichnung des Rhythmus.

Ein zweiter Grund für die Bevorzugung der Klänge mit harmonischen Obertönen ist subjektiv und in der Einrichtung unseres Ohres bedingt. In demselben erregt nämlich auch jeder einfache Ton, wenn er stark genug ist, schwächere Empfindungen harmonischer Obertöne, und jede Kombination von mehreren einfachen Klängen Kombinationstöne, wie ich am Ende des siebenten Abschnitts auseinander gesetzt habe. Sowie nun auch nur einzelne Klänge mit irrationalen Partialtönen hinreichend stark angegeben werden, erhalten wir deshalb Dissonanzen, während einfache Töne im Ohre selbst etwas von der Natur der zusammengesetzten mit harmonischen Obertönen erhalten.

Historisch, dürfen wir wohl annehmen, hat sich alle Musik vom Gesange aus entwickelt; später lernte man die durch den Gesang erreichbaren melodischen Wirkungen auch durch andere Instrumente, welche in ihrer Klangfarbe den Tönen der menschlichen Stimme ähnlich zusammengesetzt waren, hervorbringen. Daß schließlich, auch bei den größten Fortschritten der Technik, die Auswahl der Tonwerkzeuge auf die, welche Klänge mit harmonischen Obertönen geben, beschränkt bleiben mußte, erklärt sich aus den angegebenen Verhältnissen.

Aber diese durchaus festgehaltene besondere Auswahl der Tonwerkzeuge läßt uns auch sicher erkennen, daß die harmonischen Obertöne von jeher in den musikalischen Bildungen eine wesentliche Rolle gespielt haben, und zwar nicht bloß für die Harmonie, wie uns die zweite Abteilung unseres Buches gelehrt hat, sondern auch in der Melodiebildung.

Andererseits können wir uns auch jetzt noch jeden Augenblick von der wesentlichen Bedeutung, welche die Obertöne in der Melodie spielen überzeugen durch die Ausdruckslosigkeit solcher Melodien, die in objektiv einfachen Tönen, z. B. mit gedackten Orgelpfeifen, vorgetragen werden bei denen nur subjektiv im Ohre harmonische Obertöne von geringer Intensität mittönen.

Es bestand in aller Musik von jeher das Bedürfnis, in bestimmt abgegrenzten Tonstufen fortzuschreiten; die Wahl dieser Tonstufen selbst hat lange geschwankt. Um engere Tonstufen sicher zu intonieren und zu unterscheiden gehört eine feinere Ausbildung der Technik und des musikalischen Gehörs als für größere Intervalle. Demgemäß finden wir, daß fast alle unzivilisierteren Völker die Halbtöne vermeiden, und nur größere Intervalle zulassen. Bei einzelnen kultivierteren, Chinesen, Gälen, hat sich eine solche Skala im nationalen Geschmack befestigt.

Es hätte vielleicht scheinen können, als wenn die einfachste t Art der Feststellung solcher Stufen die gewesen wäre, daß man sie alle gleich groß, das heißt gleich gut unterscheidbar in der Empfindung, gemacht hätte. Eine solche Art der Abstufung ist in allen unseren Sinnesempfindungen möglich, wie Fechner in seinen Untersuchungen über das psychophysische Gesetz gezeigt hat. Wir finden sie in der Zeitteilung des musikalischen Rhythmus gebraucht die Astronomen brauchen sie in Bezug auf Lichtintensität bei der Bestimmung der Sterngrößen. Ja auch im Gebiete der Tonhöhen stellt die moderne gleichschwebende chromatische Skala des Klaviers eine ähnliche Abstufung dar. Aber obgleich man in gewissen ungebräuchlicheren Skalen der griechischen und in der modernen orientalischen Musik Fälle findet, daß einzelne engere Intervalle nach dem Prinzip der gleich großen Stufen geteilt sind, so scheint doch nie und nirgends eine Musik bestanden zu haben, deren Melodien sich fortdauernd in gleich großen Tonstufen bewegten, sondern immer sind in den Tonleitern größere und kleinere Intervalle in einer Weise gemischt worden, die, wenn man das Prinzip der Klangverwandtschaft nicht berücksichtigte, vollkommen willkürlich und unregelmäßig erscheinen muß.

Vielmehr hat sich in allen bekannten Musiksystemen von jeher das Intervall der Oktave und der Quinte mit entscheidendem Gewichte geltend gemacht. Ihre Differenz ist die Quarte, deren Differenz von der Quinte ist der Pythagoräische Ganzton 8:9, durch welchen die Oktave zwar mit annähernder Genauigkeit, aber nicht die Quarte und nicht die Quinte geteilt werden kann.

Der einzige Rest, welcher von dem zuweilen in den Skalen der einstimmigen Musik hervortretenden Streben, Stufen nach der Gleichheit der Größe und nicht nach der Klangverwandtschaft zu bilden, in der neueren Musik geblieben ist, scheint mir in den chromatischen Vorhaltsnoten zu liegen und in dem Leittone der Tonart, wenn er jenen ähnlich gebraucht wird. Aber es ist hier doch immer nur ein aus der Reihe der klangverwandten Töne her wohlbekanntes Intervall, der Halbton, welches seiner Kleinheit wegen leicht nach der Empfindung seiner Unterscheidbarkeit abgemessen werden kann, auch an Stellen, wo seine Klangverwandtschaften im Augenblick nicht fühlbar sind.

Die entscheidende Bedeutung, welche Oktave und Quinte von je her in allen musikalischen Skalen gehabt haben, zeigt, daß von Anfang an ein anderes Prinzip die Bildung der Tonleiter beeinflußte, bis dasselbe endlich allein die künstlerisch vollendete Form der Leiter bestimmt hat. Wir haben dies Prinzip als das der Klangverwandtschaft bezeichnet.

Die Verwandtschaft ersten Grades zwischen zwei Klängen beruht darauf, daß sie zwei gleiche Partialtöne haben.

Beim menschlichen Gesange mußte die Ähnlichkeit zweier Klänge, die im Verhältnis der Oktave oder Quinte zu einander stehen, schon früh auffallen; dadurch ist, wie bemerkt, das Intervall der Quarte mit gegeben, welches übrigens auch noch hinreichend deutlich wahrnehmbare natürliche Verwandtschaft hat, um sich selbst geltend zu machen. Um die Klangähnlichkeit der großen Terz und großen Sexte zu finden, war schon feinere Ausbildung des musikalischen Gehörs, vielleicht auch besondere Schönheit der Stimmen nötig. Auch jetzt noch lassen wir uns durch die etwas zu großen Terzen der gleichschwebenden Temperatur, an die wir gewöhnt sind, leicht dahin bestimmen uns mit etwas zu großen Terzen zufriedengestellt zu finden, wenn wir sie nur in melodischer Folge und nicht im Zusammenklange hören. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, daß schon in den Vorschriften des Archytas und des Abdul Kadir, beide nur auf einstimmige Musik bezüglich, die natürliche Terz bevorzugt worden ist, trotzdem beide Musiker durch deren Einführung gezwungen waren, das theoretisch so konsequente, einfache und mit der höchsten Autorität bekleidete musikalische System des Pythagoras zu verlassen.

Es hat das Prinzip der Klangverwandtschaft also nicht zu allen Zeiten die Bildung der Tonleiter ausschließlich bestimmt, und bestimmt sie auch jetzt noch nicht ausschließlich bei allen Nationen. Es ist eben dieses Prinzip als ein bis zu einem gewissen Grade frei gewähltes Stilprinzip zu betrachten, wie ich es im dreizehnten Abschnitt schon darzustellen versucht habe. Andererseits aber hat sich die Geschichte der musikalischen Technik Europas ans diesem Prinzip heraus entfaltet, und darin liegt der Hauptbeweis dafür, daß jenes Prinzip wirklich die Bedeutung hat, die wir ihm zuschreiben. Indem die diatonische Skala sich als die bevorzugte, zuletzt als die ausschließliche geltend machte, wurde zuerst in der Tonleiter das genannte Prinzip rein durchgeführt. Innerhalb der diatonischen Leiter waren nun noch zunächst verschiedene Formen der Durchführung möglich, welche die alten, im einstimmigen Gesange vollkommen gleichberechtigt neben einander stehenden Modi ergaben.

Viel eindringlicher aber, als in seiner melodischen Form, machte sich das Prinzip der Klangverwandtschaft geltend in seiner harmonischen Form. In der melodischen Folge läßt sich die Gleichheit zweier Partialtöne nur mit Hilfe der Erinnerung erkennen, im Zusammenklange ist es der unmittelbare sinnliche Eindruck der Schwebungen oder der gleichmäßig dahin fließenden Konsonanz, der sich dem Hörer aufdrängt. Die Lebhaftigkeit des melodischen und harmonischen Eindrucks ist unterschieden, wie die eines Erinnerungsbildes von dem gegenwärtigen sinnlichen Eindruck seines Originals. Daher rührt denn auch zunächst die viel größere Empfindlichkeit für die Reinheit der Intervalle, die bei den harmonischen Zusammenklängen sich zeigt, und welche zu den feinsten physikalischen Messungsmethoden ausgebildet werden konnte.

Demnächst kommt namentlich in Betracht, daß die Verwandtschaften zweiten Grades in der harmonischen Musik durch passende Wahl des Grundbasses auf hörbare Verwandtschaften ersten Grades zurückgeführt werden, daß überhaupt entfernte Verwandtschaften leicht deutlich hörbar gemacht werden können und somit bei viel größerer Mannigfaltigkeit der Fortschreitungen doch ein viel klarerer Zusammenhang aller einzelnen mit dem Ausgangspunkte, der Tonica, festgehalten und dem Hörer sinnlich fühlbar gemacht werden kann. Unverkennbar beruht wesentlich darauf die große Breite und der Reichtum in Schattierungen des Ausdrucks, welche den neueren Kompositionen gegeben werden konnten, ohne daß diese den künstlerischen Zusammenhang verloren.

Wir haben dann gesehen, wie die Bedürfnisse der harmonischen Musik in eigentümlicher Weise auf die Bildung der Tonleitern zurückgewirkt haben, wie eigentlich von den alten Tongeschlechtern nur eines, unser Durgeschlecht, unverändert stehen bleiben konnte, und wie die übrigen eigentümlich verändert in unser Mollgeschlecht zusammenflossen, welches am ähnlichsten dem alten Terzengeschlecht, sich bald dem Sextengeschlecht, bald dem Septimengeschlechte nähern kann, keinem von diesen aber vollständig entspricht.

Dieser Entwickelungsprozeß der Elemente des modernen Musiksystems hat sich bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hingezogen. Erst als man regelmäßig Stücke, die in einer Molltonart geschrieben waren, mit dem Mollakkorde zu schließen wagte, konnte man sagen, daß das musikalische Gefühl der europäischen Musiker und Hörer sich in das neue System vollständig und sicher eingewöhnt hatte. Der Mollakkord wurde als ein, wenn auch getrübter Akkord seiner Tonica zugelassen.

Ob in dieser Zulassung des Mollakkordes sich etwa das Gefühl für eine andere Art einheitlicher Beziehungen seiner drei Töne ausspricht, wie es A. v. Oettingen1) annimmt (eine Ansicht, welche darauf beruht, daß die drei Töne c —  — g den gemeinsamen Oberton g" haben), wird erst die Zukunft lehren können, wenn es sich zeigen sollte, daß in Oettingen's phonischem Systeme (so nennt er das von ihm theoretisch entwickelte Mollsystem, welches aber von dem historischen Mollsysteme wesentlich verschieden ist) breite und wohlzusammenhängende Kompositionen gebildet werden können. Historisch entwickelt hat sich das Mollsystem jedenfalls als ein Kompromiß zwischen verschiedenartigen Anforderungen. Namentlich können nur Durakkorde den Klang der Tonica rein wiedergeben; die Mollakkorde halten in ihrer Terz immer ein der Tonica und ihrer Quint nahe verwandtes, aber doch in jene sich nicht vollständig auflösendes Element fest und fügen sich daher im Schlusse nicht so vollständig dem Prinzipe der Tonalität, welches die bisherige Entwickelung der Musik beherrscht hat. Ich habe versucht, es wahrscheinlich zu machen, daß teils davon, teils von den abweichenden Kombinationstönen der Mollakkorde der eigentümliche ästhetische Ausdruck des Moll herrühre.
 
 

1) Das Harmoniesystem in dualer Entwickelung. Dorpat und Leipzig 1866. Herr v. Oettingen betrachtet, wie schon auf S. 498 bemerkt ist, den Mollakkord als die harmonischen Untertöne seiner Quint darstellend und dadurch einen Teil ihres Klanges vertretend. Er nennt ihn den "phonischen" Akkord, im Gegensatze zu dem die Obertöne des Grundtons vertretenden "tonischen" Durakkord. Durch die Verwandtschaften der harmonischen Untertöne leitet er dann die Bildung des Mollsystems in ganz analoger Weise ab, wie ich es durch die Verwandtschaften der Obertöne für das Dursystem getan habe. Das so konstruierte Tongeschlecht ist aber nach unserer Bezeichnung das Sextengeschlecht, und das gebräuchliche Moll ein gemischtes Geschlecht. Neuerdings [1877] hat sich ihm Herr Dr. Hugo Riemann angeschlossen, dessen eben erschienene "musikalische Syntaxis" den Versuch macht, die Konsequenzen dieses Systems an Beispielen aus den Werken anerkannter Komponisten zu prüfen und zu bewähren. Die Anwendung dieser kritischen Methode scheint mir sehr empfehlenswert, und die unumgängliche Bedingung zu sein, um in den Prinzipien der Kompositionslehre Fortschritte zu machen. Übrigens rechtfertigt der Autor (S. 54) meine im Text aufgestellte Behauptung durch den Satz: "Für die Durchführung reiner (d. h. Oettingen'scher) Mollharmonik auch in der einfachsten Weise kann ich leider aus unserer gesamten Musikliteratur auch nicht ein Beispiel beibringen." Von der Richtigkeit der auf S. XIII und S. 6 angeführten Tatsache, daß die Untertöne eines stark angeschlagenen Tones eines Fortepiano hei Hebung des Dämpfers von den betreffenden Saiten nachklingen sollten, habe ich mich nicht überzeugen können. Vielleicht ist der Autor dadurch getäuscht worden, daß an stark resonierenden (namentlich wohl älteren) Instrumenten jede kräftige Erschütterung, also vielleicht auch ein kräftiger Tastenschlag, ganz unabhängig von der Tonhöhe einzelne oder mehrere von den tiefen Saiten zum Tönen bringen kann.
 
 

Ich habe mich bemüht in der letzten Abteilung dieses Buches nachzuweisen, daß die Konstruktion der Tonleitern und des Harmoniegewebes ein Produkt künstlerischer Erfindung, und keineswegs durch den natürlichen Bau oder die natürliche Tätigkeit unseres Ohres unmittelbar gegeben sei, wie man es bisher wohl meist zu behaupten pflegte. Allerdings spielen die natürlichen Gesetze der Tätigkeit unseres Ohres eine große und einflußreiche Rolle dabei; sie sind gleichsam die Bausteine, welche der Kunsttrieb des Menschen benutzt hat, um das Gebäude unseres musikalischen Systemes aufzuführen; und daß man die Konstruktion des Gebäudes nur verstehen kann, wenn man die Natur der Stücke, aus denen es aufgeführt ist, genau kennen gelernt hat, zeigt gerade im vorliegenden Falle der Verlauf unserer Untersuchung sehr deutlich. Aber ebenso gut, wie Leute von verschiedener Geschmacksrichtung aus denselben Steinen sehr verschiedenartige Gebäude errichten, ebenso sehen wir auch in der Geschichte der Musik die gleichen Eigentümlichkeiten des menschlichen Ohres als Grundlage sehr verschiedener musikalischer Systeme dienen. Demgemäß meine ich, können wir nicht zweifeln, daß nicht bloß die Komposition vollendeter musikalischer Kunstwerke, sondern auch selbst die Konstruktion unseres Systems der Tonleitern, Tonarten, Akkorde, kurz alles dessen, was in der Lehre vom Generalbasse zusammengestellt zu werden pflegt, ein Werk künstlerischer Erfindung sei, und deshalb auch den Gesetzen der künstlerischen Schönheit unterworfen sein müsse. In der Tat hat die Menschheit seit Terpander und Pythagoras nun zwei ein halb Jahrtausende an dem diatonischen Systeme gearbeitet und geändert, und es läßt sich jetzt noch in vielen Fällen erkennen, daß gerade die ausgezeichneten Komponisten es waren, welche teils durch selbstgemachte Erfindungen, teils durch die Sanktion, welche sie fremden Erfindungen erteilten, indem sie sie künstlerisch verwendeten, die fortschreitenden Änderungen des Tonsystems herbeigeführt haben.

Die ästhetische Zergliederung vollendeter musikalischer Kunstwerke und das Verständnis der Gründe ihrer Schönheit stößt fast überall noch auf scheinbar unüberwindliche Hindernisse. Dagegen in dem besprochenen Gebiete der elementaren musikalischen Technik haben wir nun so viel Einsicht in den Zusammenhang gewonnen, daß wir die Ergebnisse unserer Untersuchung in Beziehung bringen können zu den Ansichten, welche über den Grund und Charakter der künstlerischen Schönheit überhaupt aufgestellt und in der neueren Zeit ziemlich allgemein angenommen worden sind. Es ist in der Tat nicht schwer eine enge Beziehung und Überein Stimmung zwischen beiden zu entdecken; ja es möchten sich wenig geeignetere Beispiele finden lassen, als die Theorie der Tonleitern und der Harmonie, um einige der dunkelsten und schwierigsten Punkte der allgemeinen Ästhetik zu erläutern. Ich glaubte deshalb an diesen Betrachtungen nicht vorbeigehen zu dürfen, um so mehr, da sie mit der Lehre von den Sinneswahrnehmungen, und dadurch auch mit der Physiologie in engem Zusammenhange stehen.

Daß die Schönheit an Gesetze und Regeln gebunden sei, die von der Natur der menschlichen Vernunft abhängen, wird wohl nicht mehr bezweifelt. Die Schwierigkeit ist nur, daß diese Gesetze und Regeln, von deren Erfüllung die Schönheit abhängt und nach denen sie beurteilt werden muß, nicht vom bewußten Verstande gegeben sind, und auch weder dem Künstler, während er das Werk hervorbringt, noch dem Beschauer oder Hörer, während er es genießt, bewußt sind. Die Kunst handelt absichtsvoll, doch soll das Kunstwerk als ein absichtsloses erscheinen und so beurteilt werden. Sie soll schaffen wie die Einbildungskraft vorstellt, gesetzmäßig ohne bewußtes Gesetz, zweckmäßig ohne bewußten Zweck. Ein Werk, von dem wir wissen und erkennen, daß es durch reine Verstandestätigkeit zu Stande gekommen ist, werden wir nie als ein Kunstwerk anerkennen, so vollkommen zweckentsprechend es auch sein mag. Wo wir in einem Kunstwerke bemerken, daß bewußte Reflexionen auf die Anordnung des Ganzen eingewirkt haben, finden wir es arm. "Man fühlt die Absicht, und man wird verstimmt." Und doch verlangen wir von jedem Kunstwerk Vernunftmäßigkeit, wie wir dadurch zeigen, daß wir es einer kritischen Betrachtung unterwerfen, daß wir unseren Genuß und unser Interesse daran zu erhöhen suchen durch Aufspürung der Zweckmäßigkeit, des Zusammenhanges und Gleichgewichts aller seiner einzelnen Teile. Wir finden es desto reicher, je mehr es uns gelingt uns die Harmonie und Schönheit aller Einzelheiten klar zu machen, und wir betrachten es als das Hauptkennzeichen eines großen Kunstwerkes, daß wir durch eingehendere Betrachtung immer mehr und mehr Vernunftmäßigkeit im Einzelnen finden, je öfter wir es an uns vorübergehen lassen, und je mehr wir darüber nachdenken. Indem wir durch kritische Betrachtung die Schönheit eines solchen Werkes zu begreifen streben, was uns bis zu einem gewissen Grade auch gelingt, zeigen wir, daß wir eine Vernunftmäßigkeit in dem Kunstwerke voraussetzen, die auch zum bewußten Verständnis erhoben werden kann, obgleich ein solches Verständnis weder für die Erfindung, noch für das Gefühl des Schönen nötig ist. Denn in dem unmittelbaren Urteil des künstlerisch gebildeten Geschmacks wird ohne alle kritische Überlegung das ästhetisch Schöne als solches anerkannt; es wird ausgesagt, daß es gefalle oder nicht gefalle, ohne es mit irgend einem Gesetze und Begriffe zu vergleichen.

Daß wir aber das Wohlgefallen am Schönen nicht als eine zufällige individuelle Beziehung auffassen, sondern als eine gesetzmäßige Übereinstimmung mit der Natur unseres Geistes, zeigt sich eben darin, daß wir von jedem gesunden anderen menschlichen Geiste dieselbe Anerkennung des Schönen erwarten und verlangen, die wir ihm selbst zollen. Höchstens geben wir zu, daß die nationalen oder individuellen Abweichungen des Geschmacks sich dem einen oder anderen künstlerischen Ideale mehr zuneigen und von ihm leichter erregt werden, so wie denn auch nicht zu leugnen ist, daß eine gewisse Erziehung und Übung in der Anschauung schöner Kunstwerke nötig sei, um in ihr tieferes Verständnis einzudringen.

Die Hauptschwierigkeit in diesem Gebiete ist nun zu begreifen, wie Gesetzmäßigkeit durch Anschauung wahrgenommen werden . kann, ohne daß sie als solche zum wirklichen Bewußtsein kommt. Auch erscheint diese Bewußtlosigkeit des Gesetzmäßigen nicht als eine Nebensache in der Wirkung des Schönen auf unseren Geist, welche sein kann oder auch nicht sein kann, sondern sie ist offenbar von ganz wesentlicher und hervorragender Bedeutung. Denn indem wir überall die Spuren von Gesetzmäßigkeit, Zusammenhang und Ordnung wahrnehmen, ohne doch das Gesetz und den Plan des Ganzen vollständig übersehen zu können, entsteht in uns das Gefühl einer Vernunftmäßigkeit des Kunstwerks, die weit über das hinausreicht, was wir für den Augenblick begreifen, und an der wir keine Grenzen und Schranken bemerken. Eingedenk des Dichterwortes:

"Du gleichst dem Geist, den Du begreifst",

fühlen wir diejenigen Geisteskräfte, welche in dem Künstler gearbeitet haben, unserem bewußten verständigen Denken bei weitem überlegen, indem wir zugeben müssen, daß mindestens, wenn es überhaupt möglich wäre, unübersehbare Zeit, Überlegung und Arbeit dazu gehört haben würde, um durch bewußtes Denken denselben Grad von Ordnung, Zusammenhang und Gleichgewicht aller Teile und aller inneren Beziehungen zu erreichen, welchen der Künstler, allein durch sein Taktgefühl und seinen Geschmack geleitet, hergestellt hat, und welchen wir wiederum mittels unseres eigenen Taktgefühls und Geschmacks zu schätzen und zu fassen wissen, längst ehe wir angefangen haben das Kunstwerk kritisch zu analysieren.

Es ist klar, daß wesentlich hierauf die Hochschätzung des Künstlers und des Kunstwerkes liegt. Wir verehren in dem ersteren einen Genius, einen Funken göttlicher Schöpferkraft, welcher über die Grenzen unseres verständig und selbstbewußt rechnenden Denkens hinausgeht. Und doch ist der Künstler wieder ein Mensch wie wir, in welchem dieselben Geisteskräfte wirken, wie in uns selbst, nur in ihrer eigentümlichen Richtung reiner, geklärter, in ungestörterem Gleichgewichte, und indem wir selbst mehr oder weniger schnell und vollkommen die Sprache des Künstlers verstehen, fühlen wir, daß wir selbst Teil haben an diesen Kräften, die so Wunderbares hervorbrachten.

Darin liegt offenbar der Grund der moralischen Erhebung und des Gefühls seliger Befriedigung, welches die Versenkung in echte und hohe Kunstwerke hervorruft. Wir lernen an, ihnen fühlen, daß auch in den dunklen Tiefen eines gesund und harmonisch entfalteten menschlichen Geistes, welche der Zergliederung durch das bewußte Denken für jetzt wenigstens noch unzugänglich sind, der Keim zu einer vernünftigen und reicher Entwickelung fähigen Ordnung schlummert, und wir lernen, vorläufig zwar an gleichgültigem Stoffe ausgeführt, in dem Kunstwerk das Bild einer solchen Ordnung der Welt, welche durch Gesetz und Vernunft in allen ihren Teilen beherrscht wird, kennen und bewundern. Es ist wesentlich Vertrauen auf die gesunde Urnatur des menschlichen Geistes, wie sie ihm zukommt, wo er nicht geknickt, verkümmert, getrübt und verfälscht worden ist, was die Anschauung des rechten Kunstwerks in uns erweckt.

In allen diesen Beziehungen aber ist es eine wesentliche Bedingung, daß der ganze Umfang der Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines Kunstwerkes nicht durch bewußtes Verständnis gefaßt werden könne. Eben durch den Teil seiner Vernunftmäßigkeit, welcher nicht Gegenstand bewußten Verständnisses wird, behält das Kunstwerk für uns das Erhebende und Befriedigende, von ihm hängen die höchsten Wirkungen künstlerischer Schönheit ab, nicht von dem Teile, welchen wir vollständig analysieren können.

Wenden wir nun diese Betrachtungen auf das System der musikalischen Töne und der Harmonie an, so sind dies allerdings Gegenstände, die einem ganz untergeordneten und elementaren Gebiete angehören, aber auch sie sind langsam reif gewordene Erfindungen des künstlerischen Geschmacks der Musiker, und auch sie müssen sich daher den allgemeinen Regeln der künstlerischen Schönheit fügen. Gerade weil wir hier noch in dem niederen Gebiete künstlerischer Technik verweilen, und nicht mit dem Aasdrucke tieferer psychologischer Probleme zu tun haben, stoßen wir auf eine verhältnismäßig einfache und durchsichtige Lösung jenes fundamentalen Rätsels der Ästhetik.

Die ganze letzte Abteilung dieses Buches hat auseinandergesetzt, wie die Musiker allmählich die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Tönen und Akkorden aufgefunden haben, wie durch die Erfindung der harmonischen Musik diese Beziehungen enger, deutlicher und reicher geworden sind. Wir sind im Staude gewesen, das gesamte System von Regeln, die die Lehre vom Generalbasse bilden, herzuleiten aus dem Bestreben, eine deutlich zu empfindende Verbindung in die Reihe der Töne, welche ein Musikstück bilden, hineinzubringen.

Zuerst entwickelte sich das Gefühl für die melodische Verwandtschaft aufeinanderfolgender Töne, und zwar anfangs für die Oktave und Quinte, später für die Terz. Wir haben uns bemüht nachzuweisen, daß dieses Gefühl der Verwandtschaft begründet war in der Empfindung gleicher Partialtöne der betreffenden Klänge. Nun sind diese Partialtöne allerdings vorhanden in der sinnlichen Empfindung des Gehörnervenapparats, und doch werden sie als für sich bestehende Empfindungen für gewöhnlich nicht Gegenstand der bewußten Wahrnehmung. Die bewußte Wahrnehmung des gewöhnlichen Lebens beschränkt sich darauf, den Klang, dem sie angehören, als Ganzes aufzufassen, etwa wie wir den Geschmack einer zusammengesetzten Speise als Ganzes auffassen, ohne uns klar zu machen, wie viel davon dem Salze, dem Pfeffer oder anderen Gewürzen und Zutaten angehört. Es gehört erst eine kritische Untersuchung unserer Gehörempfindungen als solcher dazu, damit wir die Existenz der Obertöne herausfinden. Daher ist denn auch der eigentliche Grund der melodischen Verwandtschaft zweier Klänge bis auf mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Vermutungen, wie wir sie z. B. bei Rameau und d'Alembert finden, so lange Zeit nicht entdeckt worden, oder wenigstens nicht bis zu einer ganz klaren und bestimmten Darstellung gekommen. Ich glaube nun im Stande gewesen zu sein eine solche zu geben, und den ganzen Zusammenhang deutlich dargelegt zu haben. Das ästhetische Problem ist damit zurückgeführt worden auf die gemeinsame Eigentümlichkeit aller unserer sinnlichen Wahrnehmungen, vermöge der wir zusammengesetzte Aggregate von Empfindungen als die sinnlichen Symbole einfacher äußerer Objekte auffassen, ohne, sie zu analysieren. Unsere Aufmerksamkeit ist bei der alltäglichen Beobachtung der Außenwelt so ausschließlich an die äußeren Objekte gefesselt, daß wir durchaus ungeübt bleiben, diejenigen Eigentümlichkeiten unserer Sinnesempfindungen als solche zur bewußten Beobachtung zu bringen, welche wir nicht als sinnlichen Ausdruck eines gesonderten äußeren Gegenstandes oder Vorgangs kennen gelernt haben.

Nachdem die Musiker sich lange Zeit mit den melodischen Verwandtschaften der Töne begnügt hatten, fingen sie im Mittelalter an ihre harmonische Verwandtschaft, die sich in der Konsonanz zeigt, zu benutzen. Die Wirkungen der verschiedenen Zusammenklänge beruhen wiederum zum Teil auf der Gleichheit oder Ungleichheit ihrer verschiedenen Partialtöne, zum Teil auf den Kombinationstönen. Während aber in der melodischen Verwandtschaft die Gleichheit der Obertöne nur mittels der Erinnerung an den vorausgegangenen Klang empfunden werden kann, wird sie in der Konsonanz durch eine Erscheinung der gegenwärtigen sinnlichen Empfindung festgestellt, nämlich durch die Schwebungen. In dem harmonischen Zusammenklange wird also die Verwandtschaft der Töne mit derjenigen größeren Lebhaftigkeit hervortreten, welche eine gegenwärtige Empfindung vor der dem Gedächtnisse anvertrauten Erinnerung voraus hat. Gleichzeitig wächst der Reichtum der deutlich wahrnehmbaren Beziehungen mit der Zahl der gleichzeitig erklingenden Töne. Die Schwebungen nun sind zwar leicht als solche zu erkennen, wenn sie langsam gehen; die für die Dissonanzen charakteristischen Schwebungen gehören aber fast ohne Ausnahme zu den sehr schnellen und sind zum Teil überdeckt von anderen anhaltenden, nicht schwebenden Tönen, so daß eine sorgfältige Vergleichung langsamerer und schnellerer Schwebungen dazu gehörte, um sich zu überzeugen, daß das Wesen der Dissonanz eben in schnellen Schwebungen begründet sei. Langsame Schwebungen machen auch nicht den Eindruck der Dissonanz, sondern erst solche, denen das Ohr nicht mehr folgen kann und von denen es verwirrt wird. Auch hier also fühlt das Ohr den Unterschied zwischen dem ungestörten Zusammenklange zweier konsonanten Töne und dem gestörten, rauhen Zusammenklange einer Dissonanz. Worin aber die Störung im letzteren Falle besteht, bleibt dem Hörer für gewöhnlich durchaus unbekannt.

Die Entwickelung der Harmonie gab Gelegenheit zu einer viel reicheren Entfaltung der musikalischen Kunst, als sie vorher möglich gewesen war, weil bei dem viel deutlicher ausgesprochenen verwandtschaftlichen Zusammenhange der Töne in den Akkorden und Akkordfolgen auch viel entlegenere Verwandtschaften, namentlich Modulationen in entfernte Tonarten, benutzt werden konnten, als sonst. Es wuchs dadurch der Reichtum der Ausdrucksmittel ebenso gut, wie die Schnelligkeit der melodischen und harmonischen Übergänge, die man eintreten lassen konnte, ohne den Zusammenhang zu zerreißen.

Als man im 15. und 16. Jahrhundert die selbständige Bedeutung der Akkorde einsehen lernte, entwickelte sich das Gefühl für die Verwandtschaft der Akkorde, teils unter einander, teils mit dem tonischen Akkorde, ganz nach demselben Gesetze, wie es für die Verwandtschaft der Klänge längst unbewußt ausgebildet war. Die Verwandtschaft der Klänge beruhte auf der Gleichheit eines oder mehrerer Partialtöne, die der Akkorde auf Gleichheit einer oder mehrerer ihrer Noten. Für den Musiker freilich ist das Gesetz von der Verwandtschaft der Akkorde und der Tonarten viel verständlicher, als das für die Verwandtschaft der Klänge. Er hört die gleichen Töne leicht heraus oder sieht sie in Noten verzeichnet vor sich. Der unbefangene Hörer aber macht sich den Grund des Zusammenhanges einer klar und wohlklingend hinfließenden Akkordreihe eben so wenig klar, als den einer wohlzusammenhängenden Melodie. Er wird aufgeschreckt, wenn ein Trugschluß kommt, er fühlt das Unerwartete desselben, ohne daß er notwendiger Weise sich des Grundes bewußt wird.

Dann haben wir gesehen, daß der Grand, warum ein Akkord in der Musik als Akkord eines bestimmten Grundtones auftritt, wiederum auf der Zerlegung der Klänge in Partialtöne beruht, also wiederum auf Elementen der Empfindung, die nicht leicht zu Objekten der bewußten Wahrnehmung werden. Diese Beziehung zwischen Akkorden ist aber von einer großen Bedeutung, sowohl in dem Verhältnis des tonischen Akkordes zur Tonica, als in der Reihenfolge der Akkorde.

Die Anerkennung dieser Ähnlichkeiten zwischen den Klängen und Akkorden erinnert an andere ganz entsprechende Erfahrungen. Wir müssen oft die Ähnlichkeit der Gesichter zweier naher Verwandten anerkennen, während wir selten genug im Stande sind, anzugeben, worauf diese Ähnlichkeit beruht, namentlich wenn Alter und Geschlecht verschieden sind und die gröberen Umrisse der Gesichtszüge deshalb die auffallendsten Verschiedenheiten darbieten. Und doch kann trotz dieser Unterschiede und trotzdem wir keinen einzigen Teil des Gesichts zu bezeichnen wissen, der in beiden gleich sei, die Ähnlichkeit so außerordentlich auffallend und überzeugend sein, daß wir keinen Augenblick darüber im Zweifel sind. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Anerkennung der Verwandte Schaft zweier Klänge.

So sind wir auch oft im Stande mit voller Bestimmtheit anzugeben, daß ein von uns noch nie gehörter Satz eines Schriftstellers oder Komponisten, dessen andere Werke wir kennen, gerade diesem Autor angehören müsse. Zuweilen, aber bei weitem nicht immer, sind es einzelne zur Manier gewordene Redewendungen oder Tonfälle, welche unser Urteil bestimmen, aber auch hierbei werden wir in den meisten Fällen nicht im Stande sein, anzugeben, worin die Ähnlichkeit mit den anderen bekannten Werken des Autors begründet ist.

Die Analogie zwischen diesen verschiedenen Fällen geht sogar noch weiter. Wenn Vater und Tochter eine auffallende Ähnlichkeit in der gröberen äußeren Form, etwa der Nase oder der Stirn, haben, so bemerken wir dies leicht, es beschäftigt uns aber nicht weiter. Ist aber die Ähnlichkeit so rätselhaft verborgen, daß wir sie nicht zu finden wissen, so fesselt uns dies, wir können nicht aufhören die betreffenden Gesichter zu vergleichen, und wenn uns ein Maler zwei solche Köpfe darstellt, die etwa noch verschiedenen Charakterausdruck haben, und in denen doch eine schlagende und undefinierbare Ähnlichkeit vorherrscht, so würden wir unzweifelhaft dies als eine der Hauptschönheiten seines Gemäldes preisen. Auch würde diese unsere Bewunderung durchaus nicht bloß seiner technischen Fertigkeit gelten, wir würden in dieser Leistung nicht nur ein Kunststück sehen, sondern ein ungewöhnlich feines Gefühl für die Bedeutung der Gesichtszüge, und darin würde die künstlerische Berechtigung eines solchen Werkes liegen.

Ähnlich verhält es sich nun wiederum bei den musikalischen Intervallen. Die Ähnlichkeit der Oktave mit ihrem Grundtone ist so deutlich ausgesprochen, daß sie auch dem stumpfesten Gehör auffällt; die Oktave erscheint daher fast als eine reine Wiederholung des Grundtones, wie sie ja denn auch in der Tat einen Teil vom Klange ihres Grundtones wiederholt, ohne etwas Neues hinzuzutun. Die Oktave ist daher in ihrer ästhetischen Wirkung ein vollkommen klares, aber wenig anziehendes Intervall. Die anziehendsten unter den Intervallen, sowohl in melodischer als harmonischer Anwendung sind offenbar die Terzen und Sexten, und gerade diese stehen an der Grenze der dem Öhre noch verständlichen Intervalle. Die große Terz und große Sexte erfordern für ihre Verständlichkeit die Hörbarkeit der ersten fünf Partialtöne. Diese sind auch in guten musikalischen Klangfarben vorhanden. Die kleine Terz und kleine Sexte haben meist nur noch als Umkehrungen. der vorigen Intervalle ihre Berechtigung. Die komplizierteren Intervalle der Tonleiter haben keine direkte und leicht verständliche Verwandtschaft mehr. Ihnen kommt auch nicht mehr der Reiz zu, den die Terzen haben.

Es ist übrigens nicht nur eine äußerliche gleichgültige Gesetzmäßigkeit, welche durch die Benutzung der auf Klangverwandtschaft gegründeten diatonischen Leiter in das Tonmaterial der Musik gebracht wird, wie etwa der Rhythmus eine solche äußerliche Ordnung in die Worte der Poesie bringt. Ich habe vielmehr schon im vierzehnten Abschnitte auseinandergesetzt, wie durch diese Konstruktion der Tonleiter ein Maß für die Abstände der Töne in derselben gegeben wird, so daß wir in unmittelbarer Empfindung zwei gleiche Intervalle, die in verschiedenen Abschnitten der Leiter liegen, als gleich anerkennen. Der melodische Fortschritt durch das Intervall der Quinte zum Beispiel ist immer dadurch charakterisiert, daß der zweite Partialton des zweiten Klanges gleich dem dritten des ersten ist. Dadurch wird eine Bestimmtheit und Sicherheit in der Abmessung der Intervalle für die Empfindung hergestellt, wie sie weder im Bereiche des übrigens so ähnlichen Systemes der Farben, noch in der Abmessung der bloßen Intensitätsunterschiede der verschiedenen Sinnesempfindungen möglich ist.

Hierauf beruht nun auch die charakteristische Ähnlichkeit zwischen den Verhältnissen der Tonleiter und denen im Raume, welche, wie mir scheint, von allerwesentlichster Bedeutung für die eigentümlichen Wirkungen der Musik ist. Es ist ein wesentlicher Charakter des Raumes, daß in jeder Stelle desselben die gleichen Körperformen Platz finden, und die gleichen Bewegungen vor sich gehen können. Alles, was in einem Teile des Raumes vor sich gehen kann, kann auch in jedem anderen vor sich gehen, und von uns in derselben Weise wahrgenommen werden. Ebenso ist es in der Tonleiter. Jede melodische Phrase, jeder Akkord, die in irgend einer Höhe ausgeführt worden sind, können in jeder anderen Lage wiederum so ausgeführt werden, daß wir die charakteristischen Zeichen ihrer Ähnlichkeit sogleich unmittelbar empfinden. Andererseits können auch verschiedene Stimmen, welche ähnliche oder verschiedene melodische Phrasen ausführen, gleichzeitig in der Breite der Tonleiter, wie zwei Körper im Raume, neben einander bestehen, und ohne gegenseitige Störung wahrgenommen werden, letzteres namentlich wenn sie in den akzentuierten Taktteilen mit einander konsonant sind. Dadurch ist in wesentlichen Verhältnissen eine so große Ähnlichkeit der Tonleiter mit dem Raume gegeben, daß nun auch die Änderung der Tonhöhe, die wir ja oft bildlich als Bewegung der Stimme nach der Höhe oder Tiefe bezeichnen, eine leicht erkennbare und hervortretende Ähnlichkeit mit der Bewegung im Raume erhält. Dadurch wird es weiter möglich, daß die musikalische Bewegung auch die für die treibenden Kräfte charakteristischen Eigentümlichkeiten der Bewegung im Raume nachahmt, und somit auch ein Bild der der Bewegung zu Grunde liegenden Antriebe und Kräfte gibt. Darauf wesentlich beruht, wie mir scheint, ihre Fähigkeit Gemütsstimmungen auszudrücken.

Ich möchte hierbei nicht ausschließen, daß die Musik in ihren Anfängen und in ihren einfachsten Formen nicht zuerst künstlerische Nachahmung der instinktiven Modulationen der Stimme, welche den verschiedenen Gemütszuständen entsprechen gewesen sei. Aber ich glaube nicht, daß dies der oben gegebenen Erklärung widerspricht; denn ein großer Teil der natürlichen Ausdrucksmittel der Stimme läßt sich darauf zurückführen, daß ihr Rhythmus und ihre Akzentuierung unmittelbarer Ausdruck der Geschwindigkeit und Heftigkeit der entsprechenden psychischen Antriebe ist, das Anstrengung die Stimme in die Höhe treibt, das Streben einem Andern einen angenehmen Eindruck zu machen, für sie eine weichere, sinnlich angenehmere Klangfarbe wählen macht, u. s. w. Das Streben, die unwillkürlichen Modulationen der Stimme nachzuahmen und deren Rezitation reicher und ausdrucksvoller zu machen, mag deshalb sehr wohl unsere Vorfahren auf die Erfindung der ersten musikalischen Ausdrucksmittel geführt haben, so wie denn Nachahmung einer weinenden, schreienden, schluchzenden Stimme ebenso gut wie andere musikalische Malereien an einzelnen Stellen auch in der ausgebildeten, namentlich dramatischen Musik eine Rolle spielen kann, obgleich die genannten Modifikationen solche sind, bei denen nicht nur freie geistige Antriebe, sondern auch wirklich mechanisch und unwillkürlich eintretende Muskelkontraktionen eine Rolle spielen. Aber es geht offenbar schon jede vollständig aasgebildete Melodie weit hinaus über die Naturnachahmung, selbst wenn man Fälle der allerreichsten leidenschaftlichen Stimmveränderung herbeiziehen wollte. Ja dadurch, daß die Musik den stufenweisen Fortschritt im Rhythmus und in der Tonleiter einführt, macht sie sich eine auch nur angenäherte treue Naturnachahmung geradezu unmöglich, denn die meisten leidenschaftlichen Affektionen der Stimme charakterisieren sich gerade, durch schleifende Übergänge der Tonhöhen. Die Naturnachahmung in der Musik ist dadurch in derselben Weise unvollkommen geworden, wie die Nachahmung eines Gemäldes durch eine Stramin Stickerei in abgesetzten Quadraten und abgesetzten Farbentönen. Noch mehr entfernte sie sich von der Natur, indem sie den größeren Umfang, die viel größere Beweglichkeit, die fremdartigen Klangfarben der Instrumente einführte, durch welche das Feld der erreichbaren musikalischen Effekte so sehr viel reicher geworden ist, als es bei Benutzung der menschlichen Stimmen allein gewesen ist und sein würde.

Wenn es also auch wahrscheinlich richtig ist, daß die Menschheit in ihrer historischen Entwickelung die ersten musikalischen Ausdrucksmittel der menschlichen Stimme abgelernt hat, so wird schwerlich zu leugnen sein, daß diese selben Ausdrucksmittel der melodischen Bewegung in der künstlerisch entwickelten Musik durchaus unabhängig von ihrer Anwendung in den Modulationen der menschlichen Stimme wirken und eine allgemeinere Bedeutung haben, als die von instinktiven angeborenen Lauten. Daß dies so ist, zeigt vor allen Dingen die moderne Entwickelung der reinen Instrumentalmusik, deren Wirksamkeit und künstlerische Berechtigung wir uns nicht wegleugnen zu lassen brauchen, wenn wir sie auch noch nicht in allen Einzelheiten erklären können.

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Ich schließe hiermit meine Arbeit. So viel ich übersehe, habe ich sie so weit fortgeführt, als die physiologischen Eigentümlichkeiten der Gehörempfindung einen direkten Einfluß auf die Konstruktion des musikalischen Systems ausüben, so weit als die Arbeit hauptsächlich einem Naturforscher zufallen mußte. Denn wenn sich auch naturwissenschaftliche Fragen mit ästhetischen mischten, so waren die letzteren doch von verhältnismäßig einfacher Art, die ersteren jedenfalls viel verwickelter. Dies Verhältnis muß sich notwendig umkehren, wenn man versuchen wollte, in der Ästhetik der Musik weiter vorzuschreiten, wenn man zur Lehre vom Rhythmus, von den Kompositionsformen, von den Mitteln des musikalischen Ausdrucks übergehen wollte. In allen diesen Gebieten werden die Eigentümlichkeiten der sinnlichen Empfindung noch hin und wieder einen Einfluß haben, aber doch wohl nur in sehr untergeordneter Weise. Die eigentliche Schwierigkeit wird in der Verwickelung der psychischen Motive liegen, die sich hier geltend machen. Freilich beginnt auch hier erst der interessantere Teil der musikalischen Ästhetik — handelt es sich doch darum, schließlich die Wunder der großen Kunstwerke zu erklären, die Äußerungen und Bewegungen der verschiedenen Seelenstimmungen kennen zu lernen. So lockend aber auch das Ziel sein möge, ziehe ich es doch vor diese Untersuchungen, in denen ich mich zu sehr als Dilettant fühlen würde, Anderen zu überlassen, und selbst auf dem Boden der Naturforschung, an den ich gewöhnt bin, stehen zu bleiben.