Über die Definition der Psychologie.

(Separatabdruck aus Wundt, Philosophische Studien. XII. Bd. l. Heft.)

Von

W. Wundt.

I.

    Eine allgemeine Definition dessen, was eine bestimmte Wissenschaft sei, pflegt um so weniger für eine unerläßliche, vor aller Untersuchung zu erfüllende Forderung gehalten zu werden, je mehr man im Einzelnen über Ziele und Wege einig ist. Die Philologie, die Jurisprudenz, die Naturwissenschaften, ja selbst die mit besonderer Sorgfalt um die exakte Definition ihrer einzelnen Begriffe bemühte Mathematik verzichten entweder ganz auf eine solche oder begnügen sich mit irgend einer provisorischen Begriffsbestimmung, die für den Zweck der praktischen Arbeitsteilung zureicht.
    Dieses Verfahren hat seine guten Gründe. Erstens sind die wirklichen Grenzen der einzelnen Wissenschaftsgebiete zunächst aus praktischen Motiven entstanden, so dass eine ein für allemal gültige Unterscheidung nicht nur schwierig, sondern manchmal unmöglich ist. Zweitens aber setzt eine exakte Begriffsbestimmung im allgemeinen schon eine so umfassende Kenntnis des Gegenstandes voraus, dass sie eigentlich erst auf Grund der eingehenden Untersuchung desselben gegeben werden kann und, wenn sie erschöpfend sein sollte, in einer Wiederholung der wesentlichsten Ergebnisse dieser Untersuchung bestehen müßte.
    Dies verhält sich nun anders bei solchen Gebieten, in denen man schon innerhalb der Einzeluntersuchungen über die Aufgaben, die zu lösen, und über die Methoden, die anzuwenden sind, unsicher ist, und wo daher eine Verschiedenheit der Richtungen besteht, die für den ganzen Inhalt der Wissenschaft maßgebend wird. Hier ist es nicht bloß begreiflich, sondern auch wünschenswert, dass vor allen Dingen der Standpunkt, den man in der Beurteilung der Probleme einnimmt, in einer Definition des Gegenstandes zum Ausdruck gebracht werde. In die Reihe dieser Gebiete gehört in erster Linie die Philosophie; und im gleichen Falle wie sie befinden sich natürlich alle diejenigen Disziplinen, die von philosophischen Richtungen in entscheidender Weise beeinflußt sind.
    In der Psychologie, von der wohl heute nicht mehr bestritten werden kann, dass sie auf dem Wege ist, sich aus einem Teilgebiet der Philosophie in eine selbständige positive Wissenschaft umzuwandeln, hat diese ihre Übergangsstellung einen charakteristischen Ausdruck darin gefunden, dass im selben Maße, wie die älteren spekulativen Richtungen auf eine grundlegende Definition ihres Gegenstandes einen entscheidenden Wert legten, in der neueren empirischen Psychologie eine solche meist entweder durch die Hinweisung auf die Aufgabe einer Analyse der Entstehung der Erfahrung überhaupt oder aber durch eine provisorische Begriffsbestimmung nach Analogie der Definitionen naturwissenschaftlicher Gebiete ersetzt worden ist. Den ersten dieser Standpunkte nimmt Locke mit der an ihn sich anschließenden empirischen Psychologie der Engländer ein, wobei zugleich die Auffassung der Psychologie als einer allgemeinen Theorie der Erfahrung auf der hier noch mangelnden Sonderung von der Erkenntnistheorie beruht. Der Gesichtspunkt der provisorischen Begriffsbegrenzung ist hauptsächlich in der neueren experimentellen Psychologie und im Anschlusse an die bloß praktisch-empirische Bedeutung, die das Wort "Seele" in ihr eingenommen hat, vorherrschend. Die konkreten psychischen Vorgänge, Empfinden, Fühlen, Vorstellen, Wollen usw., wie sie schon in der vorwissenschaftlichen Erfahrung als zusammengehörige aufgefaßt werden, gelten hier als der Inhalt des empirischen Begriffs Seele, und die Psychologie erhält daher die Aufgabe, den Zusammenhang dieser nicht näher zu definierenden, aber uns Allen unmittelbar aus der Erfahrung bekannten "Bewußtseinstatsachen" zu untersuchen. Es ist begreiflich, dass namentlich populäre und propädeutische Werke sich mit einer solchen praktischen Gebietsabgrenzung zu behelfen suchen1).

l) Vergl. meine Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele2 S. 8 f. und die in ähnlichem Sinn gehaltenen Ausführungen von Höffding, Psychologie2 S. 1.

    Läßt sich nun aber auch diesem Gesichtspunkte, insofern er in der Gewohnheit der übrigen positiven Wissenschaften sein logisches Vorbild hat, seine Berechtigung nicht absprechen, so muß doch auf der andern Seite zugestanden werden, dass sich die Psychologie vermöge ihrer vor kurzem erst eingetretenen und noch nicht einmal überall zur Anerkennung gelangten Loslösung von der Philosophie in einer eigentümlichen Lage befindet. Teils liegt die positiv wissenschaftliche Richtung in ihr immer noch im Streit mit Nachwirkungen und Erneuerungsversuchen älterer spekulativer Systeme; teils aber und mehr als dies üben – eine begreifliche Nachwirkung der so lange bestandenen Verbindung – noch auf Vertreter der ersteren Richtung philosophische Anschauungen einen mehr als wünschenswerten Einfluß aus. Den Untersuchungen eines Physikers oder selbst eines Physiologen, sofern er sich nur auf sein eigenes Gebiet beschränkt, wird man nicht leicht anmerken, was etwa seine philosophischen Überzeugungen seien. Der Psychologe, auch wenn er verspricht unter empirischer Flagge zu segeln, verfehlt selten schon auf den ersten Seiten seines Werkes sein metaphysisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Diese Umstände machen es aber selbst für denjenigen, der die Psychologie vor solchen metaphysischen Antizipationen bewahrt sehen möchte, wünschenswert, den eigenen Standpunkt von vornherein kenntlich zu machen. Auch ohne sich auf eine Definition einzulassen, die den Resultaten vorausgreift, bleibt es doch immer möglich, den Ausgangspunkt der Untersuchung und den zunächst einzuschlagenden Weg zu bezeichnen. Eine Begriffsbestimmung in diesem Sinne wird aber namentlich dann notwendig, wenn sich Richtungen geltend machen, die jenen Ausgangspunkt anders bestimmen und die in Folge dessen abweichende Wege verfolgen.

II.

    So lange sich die Psychologie in direkter Abhängigkeit von irgend einem metaphysischen Systeme wußte und sich als wesentlichen Bestandteil eines solchen betrachtete, ging die vorherrschende Anschauung dahin, dass es der Gegenstand ihrer Beobachtungen sei, der sie von anderen Erfahrungswissenschaften scheide. Die seit Descartes vorherrschenden dualistischen Systeme, denen Leib und Seele als verschiedene, nur äußerlich an einander gebundene Substanzen galten, forderten ohne weiteres eine solche Betrachtungsweise heraus. Mit den unterscheidenden Definitionen, die man von Seele und Körper aufstellte, waren dann unmittelbar auch die verschiedenen Gegenstände bezeichnet, mit denen sich die Psychologie auf der einen, die Naturwissenschaft auf der anderen Seite zu beschäftigen habe. Man könnte es auffallend finden, dass die Leibniz'sche Monadologie mit, den zahlreichen aus ihr hervorgegangenen oder in ihrem Sinne unternommenen Versuchen, jenen Dualismus zu beseitigen, hieran nichts geändert hat. Doch erklärt sich dies daraus, dass die hier geltend gemachte Lehre von der metaphysischen Wesensgleichheit der Substanzen immerhin die Vorstellung, jede individuelle Seele sei eine besondere, von andern realen Wesen, insbesondere denen ihres eigenen Körpers verschiedene Substanz, ruhig fortbestehen ließ. Dazu kam, dass sich der Gradunterschied, den man hier zwischen den Seelen und den sonstigen Substanzen annahm, in den psychologischen Anwendungen, bei denen sich die abstrakte Höhe metaphysischer Betrachtungen nicht wohl festhalten ließ, doch unwillkürlich wieder in einen Wesensunterschied umwandelte. Demgemäß wird denn noch heute in den psychologischen Werken der Herbart'schen Schule ebensogut wie in denen anderer metaphysischer Richtungen die Psychologie als eine Wissenschaft definiert, die es mit einem durchaus eigenartigen Gegenstande zu tun habe, womit denn ihre Scheidung von andern Gebieten, die sich mit andern Gegenständen beschäftigen, von selbst gegeben ist. Wo die psychologischen Systeme dieser Richtung erklären, dass auch sie von der Erfahrung ausgehen, da tritt höchstens insofern eine kaum wesentliche Modifikation ein, als man zunächst auf irgend welche empirisch gegebene Merkmale des psychischen Geschehens hinweist, von denen aber sofort angedeutet oder ausdrücklich hervorgehoben wird, dass sie Merkmale eines spezifischen Gegenstandes seien. So liest man z. B. bei Volkmann2), das Problem der Psychologie sei "die Erklärung der psychischen Phänomene, d. h. die Zurückführung der allgemeinen Klassen der bloß zeitlichen Erscheinungen unserer Innenwelt auf das ihnen zu Grunde liegende wirkliche Geschehen und die Aufstellung der Gesetze, denen gemäß jene aus diesen hervorgehen." Hier sind augenscheinlich zwei empirische Merkmale als die den psychischen Phänomenen eigentümlichen aufgeführt. Diese sollen erstens "bloß zeitlich" sein, und sie sollen zweitens der "Innenwelt" angehören, d. h. doch wohl: sie sollen weder unter Beteiligung der äußeren Sinne zu Stande kommen, noch auf äußere Objekte bezogen werden. Dass diese Merkmale empirisch stichhaltig seien, wird kein Unbefangener zugeben. Man muß offenbar schon sehr daran gewöhnt sein, unsere Vorstellungen im Lichte der metaphysischen Theorie Herbart's als bloß "intensive Größen" zu betrachten, um behaupten zu können, sie seien zeitlich aber nicht räumlich, und sie stünden weder zu den Funktionen der äußeren Sinne noch zu den Objekten der Außenwelt in irgend einer Beziehung. Unverkennbar ist also hier schon das angeblich "wirkliche Geschehen", das erst aus den Phänomenen gefunden werden soll, in diese herübergewandert. Da mit diesem "wirklichen Geschehen" Herbart's "Störungen und Selbsterhaltungen"; der einfachen Seele gemeint sind, so ist es aber klar genug, dass die obige Definition nichts anderes als die empirische Verkleidung einer metaphysischen Begriffsbestimmung vom "Wesen der Seele" ist.

2) Volkmann, Lehrbuch der Psychologie, I2, S. 2.

    Gegenüber der spiritualistischen befindet sich nun die materialistische Psychologie darin im Vorteil, dass sie auf eine besondere Seelensubstanz mit besonderen, durchgängig von der Naturordnung verschiedenen Eigenschaften und Erscheinungen verzichtet. Sie hält sich an den einen, der Beobachtung wirklich gegebenen Gegenstand, den Körper, und betrachtet demnach die seelischen selbst als körperliche Erscheinungen oder mindestens als solche, die aus den physischen Eigenschaften bestimmter Gewebe und Organe, speziell des Gehirns und der Sinnesorgane, abzuleiten seien. Aber die Macht metaphysischer Vorurteile herrscht hier so gut wie dort. Ob man in den psychischen Vorgängen Störungen und Selbsterhaltungen der Seele oder Bewegungen zentraler Moleküle, Leistungen der Hirnzellen u. dergl. sieht, ist für die Sache selbst ziemlich gleichgültig. Beiderlei Interpretationen sind nur Hilfsmittel, um die Wirklichkeit hinter einer Hülle imaginärer oder doch von dem, was erklärt werden soll, total verschiedener Vorgänge zu verbergen, und sie verwandeln sich in der Anwendung stets zugleich in täuschende Idole, die die unbefangene Auffassung der Dinge stören. Diesem Schicksal ist in der Tat die materialistische noch in schlimmerer Weise als die spiritualistische Psychologie verfallen. Bei Männern wie Descartes, Leibniz oder Herbart hatte die Überzeugung von dem selbständigen Wert des geistigen Lebens immerhin die Möglichkeit tieferer Einblicke und fruchtbarer Ideen im Einzelnen offen gelassen. Der Materialismus, der die Psychologie auf Gehirnphysiologie reduziert, und dem in Folge der hierdurch geforderten Anwendung rein physischer Gesichtspunkte überhaupt jeder Maßstab für geistige Zusammenhänge und Entwicklungen abhanden gekommen ist, hat sich damit selbst auf diesem Gebiet zur Leistungsunfähigkeit verurteilt. Da nun aber einmal die Empfindungen, Gefühle, Affekte usw., was man auch über ihren Ursprung denken mag, existieren und mit physiologischen Vorgängen doch nur mittelst irgend welcher Hilfsbegriffe, wie der "ungenauen Selbstwahrnehmung" oder der "Funktion", in Verbindung zu bringen sind, so bleibt auch hier im Grunde die Auffassung bestehen, dass das Psychische die Erscheinungsweise eines besonderen Gegenstandes sei. Nur ist dieser Gegenstand nicht mehr die materielle Seele, sondern das Gehirn.
    Die so auf das engste an die Vorherrschaft metaphysischer Ideen gebundene gegenständliche Auffassung wurde zum ersten Mal durch Locke und die an ihn sich anschließende englische Psychologie erschüttert. Indem diese Psychologie in der Untersuchung der Entstehung der Erkenntnis ihr Problem sieht, ist sie, wie schon oben bemerkt; zugleich Erkenntnistheorie. Sie ist ferner, dieser Vereinigung entsprechend, vorherrschend intellektualistisch, und sie erblickt endlich in ihren späteren Vertretern durchgängig in dem Assoziationsprozeß den typischen Vorgang, aus dem alle psychischen Entwicklungen abzuleiten seien. Wichtiger vielleicht als alle diese Eigentümlichkeiten ist aber die Gesamtauffassung, welche die englische Psychologie von der Natur des seelischen Geschehens zur Geltung bringt. Dieses Geschehen besteht ihr in dem Prozeß der Erfahrung überhaupt. Die Eindrücke der äußeren Sinne und die der Selbstauffassung angehörigen Wahrnehmungen, die "Sensation" und die "Reflektion" in der Terminologie Locke's, sind zwar Bestandteile dieser Erfahrung, aber nicht Inhalte, die jemals von einander zu scheiden wären. Die Ideen der Sensation bilden daher ebenso gut wie die der Reflexion den Inhalt dieser Psychologie. Darin liegt von selbst, dass es hier nicht mehr der Gegenstand ist, der die Psychologie von der Naturwissenschaft scheidet, sondern der Standpunkt der Betrachtung. Die Naturwissenschaft untersucht die Objekte der Erfahrung in ihrer wirklichen objektiven Beschaffenheit; die Psychologie betrachtet sie, insofern sie von uns erfahren werden, und in Bezug auf die Entstehung solcher Erfahrungen. Hat auch Locke diesen Gedanken nicht direkt ausgesprochen, so liegt er doch stillschweigend allen seinen Erörterungen zu Grunde. Auch ist klar, dass die Gleichsetzung von Psychologie und Erkenntnislehre mit Notwendigkeit zu demselben führen mußte. Unter unsern Erkenntnissen spielen diejenigen, die sich auf die Objekte der Außenwelt beziehen, eine hervorragende Rolle. Eine Gegenüberstellung von Außen- und Innenwelt im Sinne einer gleichzeitigen Gebietsteilung zwischen Naturwissenschaft und Psychologie, wie eine solche die metaphysische Psychologie versucht, ist also hier von vornherein unmöglich. Dabei erkennt freilich Locke an, dass in unsere Erfahrung im psychologischen Sinne Elemente eingehen, die wir nicht auf äußere Objekte beziehen. Aber auch von diesen gehört wenigstens ein Teil, nämlich der Inhalt der sekundären Sinnesqualitäten (Farbe, Ton u. dergl.), der Sensation an.
    Obgleich demnach in diesen Voraussetzungen der englischen Erfahrungspsychologie und Erkenntnislehre nirgends ein gegenständlicher Unterschied zwischen Psychologie und Naturwissenschaft gemacht wird, so lag aber gleichwohl in Locke's Unterscheidung von "Sensation" und "Reflektion" abermals der Keim zu einer solchen Auffassung, die dann freilich nur durch eine Verpflanzung jenes Keimes auf einen ihm ursprünglich fremden Boden entstehen konnte. Indem nämlich in der deutschen Psychologie des vorigen Jahrhunderts die empirische Erkenntnislehre Locke's mit den Gedanken der Leibniz'schen Philosophie zusammentraf, ging aus dieser Verbindung jener Gegensatz der "äußern" und der "innern" Erfahrung hervor, der für uns heute noch der gangbare Ausdruck für die nächste praktische Unterscheidung der Tatsachen der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Untersuchung geblieben ist, wenn wir ihm auch nicht mehr dieselbe Bedeutung beilegen wie die Psychologie der Wolff'schen Schule. Dieser gelten nämlich jene beiden Formen der Erfahrung als durchgängig verschiedene Erfahrungsgebiete. Ihren schärfsten Ausdruck fand diese Anschauung in dem Begriff des "inneren Sinnes", den man als Organ der inneren Erfahrung den äußeren Sinnen gegenüberstellte. Zugleich gab man aber dem inneren Sinne insofern eine übergeordnete Stellung, als man annahm, er habe nicht bloß seine ihm spezifisch eigentümlichen Gegenstände, sondern auch die Eindrücke der äußeren Sinne würden zu Objekten desselben, indem wir uns ihrer bewußt werden. Immerhin führte man gewisse Erfahrungsbestandteile ausschließlich auf die Eigenschaften der äußeren, andere auf die der inneren Sinne zurück. So hat noch im Geiste dieser Psychologie Kant den Raum als die Anschauungsform des äußeren, die Zeit als diejenige des inneren Sinnes bezeichnet. Leicht war man dann aber auch geneigt, im Anschluß an die Leibniz'sche Unterscheidung der inneren Selbstauffassung und der äußeren Wechselbeziehung der Monaden, dem inneren Sinn hinsichtlich der Wahrheit seiner Aussagen einen Vorzug vor dem äußeren einzuräumen. Jener sollte eine unmittelbare Wirklichkeit der Beobachtung darbieten, dieser nur Erscheinungen, die eine Wirklichkeit andeuten, ohne sie selbst zu sein. Besonders energisch wird diese Auffassung später von Beneke in seiner Psychologie vertreten. Hier haben sich innere und äußere Erfahrung zu einem Gegensatze entwickelt, der vollständig dem von Sein und Erscheinung entspricht. "Unseren eigenen Leib fassen wir, wie alles Körperliche, nur durch Eindrücke auf unsere Sinne, nicht, wie bei der Seele, die Kräfte und Entwickelungen, wie sie in sich selber sind, auf3)." So sind hier äußere und innere Erfahrung nicht mehr verschiedene sich ergänzende Bestandteile der Erfahrung, sondern sie sind völlig verschiedene Arten derselben geworden. Wird auch die Möglichkeit zugelassen, dass das metaphysische Substrat dieser beiden Erfahrungsformen schließlich eins und dasselbe sei, – für das Verhältnis psychologischer und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise ist dies gleichgültig. Hier bleibt es dabei, dass diese verschieden sind, weil ihre Gegenstände es sind. Und auch darin verrät diese Psychologie des "inneren Sinnes" die metaphysischen Einflüsse, die auf ihre Entstehung eingewirkt haben, dass jene "Kräfte und Entwicklungen der Seele", die angeblich die unmittelbaren Inhalte der inneren Wahrnehmung sein sollen, in Wirklichkeit gerade so gut ein Gewebe von allerlei Hypothesen und Fiktionen sind wie die Störungen und Selbsterhaltungen und die Vorstellungsmechanik der Herbart'schen Psychologie.

3) Beneke, Lehrbuch der Psychologie 3, S. 34.

    Dem gegenüber darf es nun wohl als die vorherrschende Tendenz aller neueren Richtungen bezeichnet werden, dass sie im ganzen in der Bestimmung des Verhältnisses von äußerer und innerer Erfahrung wieder zu der empirischen Auffassung Locke's zurückzukehren suchen, und dass sie die ursprüngliche Einheit aller Erfahrung in noch viel entschiedenerer Weise betonen, als es zu Locke's Zeiten möglich war, – eine notwendige Rückwirkung der neueren kritischen Erkenntnistheorie, für die natürlich Locke's unvollkommene Begriffsbildungen und naive Wahrheitskriterien längst nicht mehr maßgebend sind. Wer sich heute der Ausdrücke äußere und innere Erfahrung bedient, der will darum in der Regel weder absolut disparate Erfahrungsinhalte, noch verschiedene Erfahrungsgegenstände bezeichnen, noch will er, dass das "außen" und "innen" buchstäblich verstanden werde, sondern er betrachtet diese Wörter, wie so viele andere, als solche, die ihr Gepräge durch die zurückgelegte Bedeutungsentwicklung erlangt haben. Nach dieser soll aber die "innere Erfahrung" den unmittelbaren Erfahrungsinhalt der Psychologie, die "äußere" den der Naturwissenschaft bezeichnen, ohne damit irgend eine Aussage über Ursprung, Bedeutung und wechselseitiges Verhältnis dieser Erfahrungsinhalte verbinden zu wollen. In diesem, keiner psychologischen Richtung und Anschauung präjudizierenden Sinne ist der Ausdruck "innere Erfahrung" jedenfalls unbedenklich. So lange sich kein anderer eingebürgert hat, der ihn ersetzen könnte, dürfte er aber auch unentbehrlich sein.
    Nicht minder wie über diese ausschließlich dem praktischen Zweck der Gebietsscheidung dienende Anwendung der Begriffe innere und äußere Erfahrung ist man jedoch heute wohl ziemlich allgemein darüber einig, dass es nicht der besondere empirische Gegenstand, sondern nur der besondere Standpunkt der Betrachtung ist, der die Psychologie von anderen Erfahrungswissenschaften scheidet. Es mag genügen, als ein einzelnes Zeugnis dieser Anschauung eine Stelle aus Lipps' "Grundtatsachen des Seelenlebens" anzuführen. "Vorstellungen", so heißt es hier (S. 3), "bilden am Ende das Material der Naturwissenschaft wie der Geisteswissenschaft. Aber Vorstellungen treten für uns in ein doppeltes System von Beziehungen, das der objektiven, vom Subjekt unabhängig gedachten Beziehungen des Vorgestellten unter sich, und das System der Beziehungen, in das die Vorstellungen unserer subjektiven Zustände zu einander und zu dem ganzen seelischen Wesen treten. Mit jenen hat es die äußere, mit diesen die innere Beobachtung zu tun." Wenn man hier das "ganze seelische Wesen", wie man es vom empirischen Gesichtspunkte aus wohl tun muß, so interpretiert, dass man darunter lediglich die Gesamtheit jener der "inneren Beobachtung" gegebenen Elemente versteht, die nicht zu den Vorstellungen gehören, so wird es wohl wenige Psychologen geben, die sich nicht im allgemeinen mit dieser Begriffsbestimmung einverstanden erklären könnten.
    Gleichwohl scheint es angesichts der innerhalb der experimentellen Psychologie der Gegenwart bestehenden Divergenz der Anschauungen, als sei mit der in den obigen Worten enthaltenen Anerkennung, dass nur der Standpunkt der Betrachtung die Psychologie kennzeichnet, die Stellung dieser zu anderen Gebieten, namentlich zur Naturwissenschaft, noch nicht zureichend definiert. In der Tat läßt sich jene Divergenz auf zwei Modifikationen der soeben gegebenen allgemeinen Begriffsbestimmung zurückführen, Modifikationen, aus denen merkwürdiger Weise zwei total verschiedene Definitionen der Psychologie entspringen. Diese Definitionen, die den Inhalt der folgenden Betrachtung bilden sollen, lassen sich nebst ihren hauptsächlichsten Motiven in die folgenden Sätze zusammenfassen.
    Erste Definition. Die Tatsachen, mit denen sich alle Wissenschaften zu beschäftigen haben, sind "Erfahrungen" oder, sofern Erfahrungen von einem sie erlebenden Subjekte gemacht werden müssen, "Erlebnisse". Solche Erlebnisse können entweder in Bezug auf die ihnen objektiv zukommende wirkliche Beschaffenheit untersucht werden, – dies ist die Aufgabe der Naturwissenschaft. Oder sie können in ihrer Abhängigkeit von erlebenden Subjekten untersucht werden, – dies ist die Aufgabe der Psychologie. Nun weist die Naturwissenschaft nach, dass ein erlebendes Subjekt nach der ihm objektiv zukommenden wirklichen Beschaffenheit stets ein körperliches Individuum ist. Folglich hat die Psychologie die Erlebnisse in ihrer Abhängigkeit vom körperlichen Individuum zu untersuchen, und die Theorie der psychischen Vorgänge besteht in der Nachweisung ihrer Abhängigkeit von bestimmten körperlichen Vorgängen. Sondert man die Probleme der Psychologie in zwei Aufgaben: in die Zerlegung der Bewußtseinsinhalte in ihre Empfindungselemente und in die Untersuchung des kausalen Zusammenhangs dieser Elemente, so ist demnach nur die erste, vorbereitende dieser Aufgaben eine relativ selbständige, ihre zweite, endgültige Aufgabe aber macht die Psychologie ganz und gar zu einem Anwendungsgebiet der Physiologie4).

4) Vergl. Hugo Münsterberg, Aufgaben und Methoden der psychologischen Forschung, S. 21 ff. Osw. Külpe, Grundriß der Psychologie, S. 4, 6. Einleitung in die Philosophie, S. 59, 66. Ich halte mich im Folgenden hauptsächlich an die präziseren Ausführungen des letzteren Autors.

    Zweite Definition. Alle Erfahrung ist eine einheitliche, in sich zusammenhängende. Jede Erfahrung enthält nun zwei in Wirklichkeit untrennbar verbundene Faktoren: die Erfahrungsobjekte und das erfahrende Subjekt. Die Naturwissenschaft sucht die Eigenschaften und wechselseitigen Beziehungen der Objekte zu bestimmen. Sie abstrahiert daher durchgängig, so weit dies vermöge der allgemeinen Erkenntnisbedingungen möglich ist, von dem Subjekt. Hierdurch ist ihre Erkenntnisweise eine mittelbare und, da die Abstraktion von dem Subjekt hypothetische Hilfsbegriffe erforderlich macht, denen die Anschauung niemals vollkommen adäquat gedacht werden kann, zugleich eine abstrakt begriffliche. Die Psychologie hebt diese von der Naturwissenschaft ausgeführte Abstraktion wieder auf, um die Erfahrung in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zu untersuchen. Sie gibt daher über die Wechselbeziehungen der subjektiven und objektiven Faktoren der unmittelbaren Erfahrung und über die Entstehung der einzelnen Inhalte der letzteren und ihres Zusammenhangs Rechenschaft. Die Erkenntnisweise der Psychologie ist demnach im Gegensatze zu derjenigen der Naturwissenschaft eine unmittelbare und, insofern die konkrete Wirklichkeit selbst, ohne Anwendung abstrakter Hilfsbegriffe, das Substrat ihrer Erklärungen ist, eine anschauliche. Hieraus folgt, dass die Psychologie eine der Naturwissenschaft koordinierte Erfahrungswissenschaft ist, und dass sich die Betrachtungsweisen beider in dem Sinne ergänzen, dass sie zusammen erst die uns mögliche Erfahrungserkenntnis erschöpfen5). –

5) Vergl. meine Grundzüge der physiol. Psychologie, II4, S. 636 ff. Logik, II2, 2, S. 247 ff. System der Philosophie, S. 140.

    Ich will es versuchen, im Folgenden den Nachweis zu führen, dass die erste dieser Definitionen unhaltbar ist, und dass dagegen die zweite derjenigen Aufgabe wirklich entspricht, die gegenwärtig der Psychologie gestellt werden muß.

III.

    Die erste der obigen Begriffsbestimmungen der Psychologie ist, wie ich glaube, aus vier Gründen unhaltbar. Sie beruht erstens auf einer logischen Begriffsvermengung, die nach der üblichen Terminologie der Fehlschlüsse als die Verbindung einer Quaternio terminorum mit einer Petitio principii betrachtet werden kann. Sie widerspricht zweitens der tatsächlichen Entwicklung und in Folge dessen auch der realen Bedeutung der naturwissenschaftlichen Forschung. Sie verfehlt drittens die wirkliche Aufgabe der Psychologie und leistet daher nichts für die psychologische Erkenntnis. Sie entpuppt sich endlich viertens ihrer Tendenz nach als ein Versuch, die Psychologie in die Dienstbarkeit der Metaphysik zurückzuführen, da ihre logische Begründung keine voraussetzungslose ist, sondern das materialistische Dogma mindestens in dem Sinne voraussetzt, dass es der Untersuchung des Zusammenhangs der psychischen Vorgänge zu Grunde zu legen sei.
    Diese letztere Beschränkung muß deshalb hinzugefügt werden, weil die Anhänger dieser Richtung im allgemeinen darüber einig sind, dass nur die Verbindungen der psychischen Elemente, nicht aber, wie der eigentliche Materialismus behauptet, die Elemente selbst aus physischen Vorgängen zu erklären seien. Es soll daher auch im folgenden diese eigentümliche Spielart des Materialismus mit dem von einigen seiner Vertreter selbst gewählten Namen des "psycho-physischen Materialismus" bezeichnet werden.
    l. Diejenige logische Voraussetzung dieser Definition, die ihr mit der oben an zweiter Stelle angeführten gemeinsam ist, besteht darin, dass alle Erfahrung Objekte und ein erfahrendes Subjekt einschließt, und dass dieser Zweiheit der Faktoren die Gebietsteilung in Naturwissenschaften und Psychologie entspricht. Diese Gebietsteilung selbst glaubt sie aber dahin feststellen zu dürfen, dass der Naturwissenschaft die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit, der Psychologie dagegen die Untersuchung derjenigen Modifikationen zufalle, welche diese objektive Wirklichkeit durch das sie erlebende Subjekt erfahre. Hierin liegt das ?qvtouye??o? dieser Auffassung. Aus den in gewissem Betracht richtigen Vordersätzen, dass die Naturwissenschaft die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit, wie sie unabhängig von dem Subjekte angenommen werden kann, und dass die Psychologie das Subjekt in seinen Beziehungen zu dieser objektiven Wirklichkeit zum Gegenstand habe, wird der ganz falsche Schluß gezogen, die Naturwissenschaft sei dasjenige unter diesen beiden Gebieten, welches die Erkenntnis der Wirklichkeit überhaupt, also mit Einschluß des Subjektes, zu seinem Inhalte habe, so dass für die Psychologie nur die Aufgabe einer Anwendung der so gewonnenen allgemeinen Erkenntnisse auf ihren besonderen Gegenstand übrig bleibe. Dieser besondere Gegenstand ist das Subjekt. Da für den rein naturwissenschaftlichen Standpunkt das Subjekt mit dem "körperlichen Individuum" identisch ist, so soll also die Aufgabe der Psychologie darin bestehen, die psychischen Vorgänge aus den Eigenschaften des körperlichen Individuums abzuleiten. Die Quaternio terminorum dieser Argumentation liegt darin, dass die objektive Wirklichkeit zuerst in dem beschränkteren Sinne genommen wird, in welchem dieselbe die Objekte nach Abstraktion von dem Subjekt, dann aber in dem allgemeineren, in welchem sie die ganze Wirklichkeit in objektiver, von subjektiven Trübungen und Täuschungen befreiter Auffassung bedeutet. Eine Petitio principii ist es ferner, dass die naturwissenschaftliche Erkenntnis von vornherein als die allgemeingültige, also auch für die Erkenntnis des Subjektes und seiner Wechselbeziehungen zu den Objekten maßgebende hingestellt wird. Ist sie das, so ist natürlich der von der Naturwissenschaft gewonnene Begriff des Subjektes als des "körperlichen Individuums" auch für die Psychologie gültig, und für die psychologischen Erfahrungsinhalte, die Empfindungen, Gefühle u. dergl., bleibt nichts anderes übrig als anzunehmen, dass sie ihrem eigentlichen Inhalte nach Modifikationen der physischen Wirklichkeit seien, die unter dem besonderen Einflusse des körperlichen Individuums zu Stande kommen.
    Diese fehlerhafte Schlußfolge, die überaus durchsichtig ist, wenn man die Dinge bei ihren üblichen Namen nennt, pflegt nun durch die gewählten Bezeichnungen einigermaßen verhüllt zu werden. Statt des Wortes "Erfahrung" bedient man sich des schwankenderen und dabei doch gewisse Nebenbedeutungen einschließenden:"Erlebnis". An und für sich hat dieses Wort zwei Nebenbedeutungen. Die erste weist darauf hin, dass die psychische Erfahrung nicht ein ruhendes Sein, sondern dass es Ereignis, Geschehen, Vorgang sei. In diesem Sinne, in welchem das Erlebnis mit dem zusammentrifft, was man in der Auffassung der Bewußtseinsvorgänge die "Aktualitätstheorie" genannt hat6), akzeptiere ich den Ausdruck gern. Aber gerade diese nicht wohl mißverständliche Bedeutung bleibt im vorliegenden Falle ganz außer Betracht. Dafür tritt hier eine zweite Nebenbedeutung in den Vordergrund: die nämlich, dass jedes Erlebnis auf ein erlebendes Subjekt hinweist. Wenn man die Aufgabe der Naturwissenschaft als Erkenntnis der objektiven Beschaffenheit der "Erlebnisse" bestimmt, so hat das demnach einen andern Sinn, als wenn man ihr bloß den objektiven Inhalt der "Erfahrung" oder gar bloß diesen Inhalt nach Abstraktion von dem Subjekt zuweist. Da es Erlebnisse ohne ein erlebendes Subjekt nicht gibt, so scheint es nämlich selbstverständlich zu sein, dass die Naturwissenschaft mit der objektiven Wirklichkeit der Erlebnisse nun auch die objektive, d. h. nach der Verallgemeinerung, die man unter der Hand mit diesem Prädikat vorgenommen, die wirkliche Beschaffenheit des Subjektes festzustellen hat. So kommt hier das merkwürdige und doch sehr begreifliche Resultat zum Vorschein, dass ein Begriff, der an sich die Tendenz hat, auf den subjektiven Ursprung der Erfahrung hinzuweisen, dazu dient, des eigentlichen Subjektes, nämlich desjenigen, das die Erfahrungen macht, des erkennenden und handelnden, los zu werden, damit ein Objekt, das sogenannte "körperliche Individuum", an dessen Stelle trete.

6) Vergl. unten V, B.

    Dass sich schließlich diese Begriffsbestimmung der Psychologie in ein Dilemma verwickelt, welches nur zwischen der Nichtexistenz der definierten Wissenschaft und dem Zugeständnis der prinzipiellen Fehlerhaftigkeit der Definition die Wahl läßt, ist einleuchtend. Fällt der Naturwissenschaft die Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit zu, und ist darum insbesondere alles, was den sogenannten "Bewußtseinsvorgängen" zu Grunde liegt, aus den physiologischen Eigenschaften des körperlichen Individuums abzuleiten, so findet die Psychologie ihre Arbeit getan, ehe sie damit angefangen hat. Ihre Probleme hat von Rechts wegen einzig und allein die Physiologie zu erledigen. Behält dagegen die Psychologie eine selbständige Aufgabe, weil die Naturwissenschaft nicht die ganze Wirklichkeit umfaßt, sondern bei dem Subjekt von bestimmten Seiten und Zusammenhängen der Erfahrung abstrahiert, dann stellt die obige Begriffsbestimmung an die Physiologie, die doch eine Naturwissenschaft ist, die widersinnige Zumutung, sie habe eine endgültige Erkenntnis von dem zu vermitteln, was sie grundsätzlich von ihrer Betrachtung ausgeschlossen hat, nämlich von dem Subjekte, insofern es nicht bloß "Erlebnis" sondern selbst ein "erlebendes" ist. Auch der scheinbare Mittelweg, den der "psycho-physische Materialismus" einschlägt, indem er die Aufsuchung der psychischen Elemente der Psychologie, die der Verbindung dieser Elemente aber der Physiologie zuweist, hilft nicht aus diesem Dilemma. Denn da von diesem Standpunkte aus die psychischen Elemente nur als Zeichen in Betracht kommen, welche die Existenz bestimmter physischer Elementarvorgänge verraten, so würde die Nachweisung jener Elemente offenbar ein Geschäft sein, das bereits die naturwissenschaftliche Untersuchung zu erledigen hätte.
    2. Unter den Einflüssen, welche die in der besprochenen Definition niedergelegte Anschauung begünstigen, steht jedenfalls das imponierende Ansehen, dessen sich die Naturwissenschaften erfreuen, in erster Linie. Die Gedanken, die diesen Einfluß verraten, lassen sich nun in zwei Argumente sondern, von denen sich das eine auf den systematischen Zusammenhang der Naturwissenschaft, das andere auf die Bedingungen ihrer geschichtlichen Entwickelung bezieht.
    a. Das erste Argument ist das folgende: Nur die Naturwissenschaft bietet uns eine lückenlose Kausalität dar. Der Zusammenhang des psychischen Geschehens dagegen reicht stets nur über eng begrenzte Reihen von Vorgängen. Nun entspricht vermöge des in der neueren Psychologie zur Geltung gelangten Prinzips des "psycho-physischen Parallelismus" jedem psychischen ein physischer Vorgang. Da also nach diesem Prinzip jeder psychische Zusammenhang in doppelter Form gegeben ist, einmal nämlich als psychische und sodann als physische Kausalreihe, da aber von diesen beiden Kausalreihen nur die zweite, die physische, vollständig, die erste, die psychische, lückenhaft ist, so folgt daraus, dass eine vollständige Kausalerklärung des psychischen Geschehens nur eine physische sein kann7).

7) Münsterberg, Aufgaben und Methoden u. s. w. S. 25 ff.

    Ich habe bei einer früheren Gelegenheit bereits die Nichtigkeit dieses Argumentes darzulegen versucht8) und kann mich darum hier damit begnügen, das Ergebnis jener Kritik in folgenden Sätzen zusammenzufassen: 1) Die behauptete "Lückenlosigkeit der Naturkausalität" ist eine unberechtigte Übertragung eines allgemeinen, nur für die einfachsten Zusammenhänge erfüllbaren Postulats auf die wirkliche Erkenntnis der Naturerscheinungen, insbesondere auch der verwickeltsten, in Wahrheit mir in äußerst spärlichen Fragmenten erkennbaren: der physiologischen Gehirnprozesse. Ja für diese kehrt das behauptete Verhältnis vollständig sich um; denn es kann für den Unbefangenen nicht der geringste Zweifel obwalten, dass wir, wenn wir uns hier der "psycho-physischen" Terminologie bedienen wollen, die psychische Seite der Gehirnvorgänge in ganz unvergleichlich weiterem Umfang in ihrem Zusammenhang zu überblicken vermögen als die physische Seite. 2) Dem sogenannten "Prinzip des psycho- physischen Parallelismus" wird durch die hier von ihm gemachte Anwendung eine Bedeutung gegeben, die es als empirisches Prinzip berechtigterweise niemals haben kann. Da es nämlich auf ein "Parallelgehen" von Zusammenhängen hinweist, die disparater Natur sind, und von denen jeder daher, sofern er überhaupt ein kausal begründeter ist, nur ein solcher sein kann, der gleichartige, d. h. mit einander vergleichbare Tatsachen verbindet, so kann auch das Parallelprinzip höchstens die Bedeutung eines Hilfsprinzips haben, dessen wir uns in den speziellen Fällen bedienen können, wo uns auf der einen oder andern Seite Lücken in dem Zusammenhang der Prozesse entgegentreten. Dagegen kann es unter keinen Umständen als ein Grundprinzip oder vollends, wie es hier geschieht, als das einzige Grundprinzip angesehen werden, welches für die Erklärung der psychischen Vorgänge selbst von Bedeutung ist9). 3) Wenn selbst jene falsche Behauptung, dass die Naturkausalität tatsächlich eine lückenlose, die psychische eine fortwährend unterbrochene sei, richtig wäre, so würde darum doch immer noch eine physiologische Theorie der psychischen Vorgänge über die Bedeutung und die inneren Beziehungen dieser Vorgänge selbst gar keinen Aufschluß geben, also darum noch immer die Aufgabe der Psychologie eine selbständige bleiben, da es ebenso wenig möglich ist, aus einem mechanischen Zusammenhang den psychologischen Charakter einer Verbindung psychischer Elemente abzuleiten, wie etwa daran gedacht werden kann, aus einer Molekularbewegung die Qualität einer Empfindung zu erklären.

8) Über psychische Kausalität und das Prinzip des psycho-physischen Parallelismus, Phil. Stud. X, S. 47 ff.
9) Ich werde auf diesen Punkt unten (Nr. V A) noch zurückkommen.

    b. Das zweite naturwissenschaftliche Argument ist ein geschichtlich-genetisches. Es wird von den Anhängern der hier besprochenen Anschauung selbst entweder überhaupt nicht erwähnt oder nur andeutungsweise berührt. Doch wird es, wenn man die aus diesem Standpunkte sich notwendig ergebenden Voraussetzungen über die Entstehung und Teilung der wissenschaftlichen Aufgaben entwickelt, folgendermaßen formuliert werden können: Die Naturwissenschaft ist auf dem Wege ihrer geschichtlichen Entwicklung allmählich dazu gelangt, die objektive Wirklichkeit der Dinge, befreit von den subjektiven Veränderungen, die sie in unseren Empfindungen und Vorstellungen erfährt, festzustellen. Nachdem sie dieses Ziel erreicht hat, tritt nun an die Psychologie die Aufgabe heran, den Ursprung jener subjektiven Veränderungen selbst aufzuhellen. Das kann sie aber nur tun, indem sie die subjektiven Erscheinungen aus den von der Naturwissenschaft festgestellten Gesetzen der objektiven Wirklichkeit, speziell also aus den Eigenschaften des körperlichen Individuums ableitet, das der Träger dieser Erscheinungen ist.
    Dieses Argument, welches, wenn auch nicht genau in der angegebenen Form ausgesprochen, doch logischer Weise als der geschichtliche Grundgedanke der besprochenen Definition notwendig angesehen werden muß, beruht auf einer völligen Verkennung der tatsächlichen geschichtlichen Entwickelung der Naturwissenschaft und der Beweggründe, die sie bestimmt haben. In Wirklichkeit hat sich nämlich in der Entwicklung der Naturwissenschaft das Motiv der Elimination subjektiver Einflüsse auf die Auffassung der objektiven Wirklichkeit durchaus einem anderen Motiv untergeordnet, zu dem es nur einen speziellen Fall bildet. Dieses umfassendere Motiv, das von Anfang an die Naturwissenschaft beherrschte und sie noch heute beherrscht, ist das der Abstraktion von dem Subjekt. Unsere Gefühle, Affekte, Willensakte lassen sich nicht im mindesten dem Gesichtspunkt einer subjektiven Veränderung der Wirklichkeit unterordnen, die dann ähnlich wie eine Sinnestäuschung eliminiert werden müßte. Vielmehr abstrahiert die Naturwissenschaft von diesen unmittelbaren Erfahrungsinhalten, weil sie von den beiden Faktoren, die alle Erfahrung enthält, Objekt und Subjekt, nur dem Objekt ihr Interesse zuwendet. Ebenso betrachtet sie aber die Empfindungen und Vorstellungen keineswegs unter dem Gesichtspunkt subjektiver Veränderungen der Wirklichkeit, sondern die Vorstellungen gelten ihr so lange und insoweit selbst als objektive Wirklichkeit, als sie nicht durch die Abstraktion von dem Subjekt genötigt ist, gewisse Bestandteile als subjektiv auszuscheiden. Bei dieser Ausscheidung wird sie durch die logische Voraussetzung geleitet, dass die objektive Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungen einen in sich geschlossenen Kausalzusammenhang bildet. Zugleich ist diese Abstraktion die Quelle aller jener hypothetischen Hilfsbegriffe, die in dem Begriff der Materie ihre allgemeine Grundlage haben, einem Begriff, der in letzter Instanz aus der Nötigung entspringt, das nach der Abstraktion von dem erfahrenden Subjekte seiner anschaulichen Beschaffenheit verlustig gegangene Substrat der objektiven Wirklichkeit begrifflich und, da eine solche Feststellung selbst kein unmittelbarer Erfahrungsinhalt sein kann, zugleich hypothetisch zu fixieren.
    Hiernach beweist auch die tatsächliche Entwicklung der naturwissenschaftlichen Abstraktionen und Begriffsbildungen überzeugend die Fehlerhaftigkeit der besprochenen Definition. Durch eine denkwürdige Reihe bewundernswerter Anstrengungen hat die Naturwissenschaft jene Leistung der Abstraktion von dem Subjekte vollbracht, so weit sie überhaupt vermöge der menschlichen Erkenntnisbedingungen zu vollbringen ist. Es ist daher eine von vornherein unerfüllbare Forderung, wenn man von der nämlichen Naturwissenschaft verlangt, sie solle den Begriff eben desjenigen endgültig feststellen, von dem sie geflissentlich abstrahiert hat, des Subjekts.
    3. Dass eine Begriffsbestimmung, die auf solchen widerspruchsvollen und mit der wirklichen Entwicklung der Wissenschaft unvereinbaren Forderungen ruht, zu einer befriedigenden Lösung der psychologischen Aufgaben nicht führen kann, ist selbstverständlich. Sollte das aufgestellte Programm folgerichtig durchgeführt werden, so müßte eine Theorie des Bewußtseins, der Entstehung und der Verbindungen der Vorstellungen, der Gefühle, Affekte usw. auf Grund bekannter Tatsachen der Gehirnphysiologie gegeben werden. Nun gibt es Tatsachen, die solches leisten könnten, nicht. Es bleibt also nur übrig, Hypothesen zu ersinnen, die diese Lücke ausfüllen. Über den Charakter solcher Hypothesen habe ich mich anderwärts ausgesprochen10); ich will darum hier auf diesen Gegenstand nicht näher eingehen. Nur das eine sei hervorgehoben, dass der einzige einigermaßen brauchbare Hilfsbegriff, der in den erwähnten Hypothesen eine Rolle spielt, der Begriff der physiologischen Übung ist, ein Begriff, der in seiner Bedeutung für die Physiologie der Nervenzentren schon längst gewürdigt wurde11), der aber an sich ein komplexer Begriff ist, so dass wir uns von der wirklichen Natur der physiologischen Übungsvorgänge bis jetzt nur mittelst sehr roher mechanischer Analogien einigermaßen ein Bild machen können. Alles übrige ist, soweit es die Psychologie berührt, hypothetisch – und leider selten nur hypothetisch in jenem Sinne, in welchem eine Hypothese ein brauchbares Hilfsmittel zur Interpretation der Erfahrungen, sondern meist in jenem andern, in welchem sie eine keinerlei Erklärungszwecke wirklich befriedigende Erfindung ist. Natürlich läßt sich mit solchem Material eine Psychologie nicht zu Stande bringen. Da man sich aber doch, so gut es geht, mit den gewöhnlichen Fragen der Psychologie abfinden muß, so kann nur ein Mischprodukt zu Stande kommen, das nach keiner Seite das vorhandene wissenschaftliche Bedürfnis befriedigt, eine Psychologie, die selbst eigentlich Physiologie sein möchte, eine Art von Versuch mit unzureichenden Mitteln, die Psychologie durch sich selbst vom Leben zum Tode zu bringen.

10) Über psychische Kausalität u. s. w., Phil. Stud. X, 8. 57 ff.
11) Vergl. z. B. meine Physiol. Psychol. I4, S. 236.

    Von verschiedenen Seiten hat man nun allerdings zwischen diesen Bestrebungen und den wirklichen Aufgaben der Psychologie in dem Sinne zu vermitteln gesucht, dass man sagte, die Nachweisung der physiologischen Ursachen der psychischen Vorgänge falle der "physiologischen Psychologie", die Untersuchung der psychischen Vorgänge selbst aber der eigentlichen oder "introspektiven Psychologie" zu12). Ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen. Auch die physiologische Psychologie ist Psychologie, nicht Physiologie. Das Attribut "physiologisch" will nicht sagen, dass sie die Psychologie auf Physiologie zurückführen wolle – was ich für ein Ding der Unmöglichkeit halte –, sondern dass sie mit physiologischen, d. h. experimentellen Hilfsmitteln arbeitet und allerdings mehr, als es in der sonstigen Psychologie zu geschehen pflegt, auf die Beziehungen der psychischen zu den physischen Vorgängen Rücksicht nimmt. ihre Hauptaufgabe ist und bleibt aber, wie die aller Psychologie, die Untersuchung der psychischen Vorgänge und ihres wechselseitigen Zusammenhangs13). Die Untersuchung der die psychischen Vorgänge begleitenden Gehirnprozesse aber fällt an und für sich der Physiologie, nicht der Psychologie zu. Man könnte eine solche Untersuchung allenfalls "psychologische Physiologie", nimmermehr "physiologische Psychologie" in der durch das Hauptwort gekennzeichneten und bisher angewandten Bedeutung dieses Begriffs nennen. Wegen dieser wesentlich psychologischen Aufgabe der "physiologischen" oder, was in der Hauptsache das gleiche bedeutet, "experimentellen Psychologie" ist übrigens dieser Name gleich anderen, die ein Gebiet nach besonderen Hilfsmitteln benennen (z. B. physikalische Chemie, mikroskopische Anatomie u. dergl.), voraussichtlich ein transitorischer. Er wird nicht mehr nötig sein, wenn Alle, die sich mit Psychologie beschäftigen, über die dazu unerläßlichen experimentellen Hilfsmittel verfügen, und wenn die physiologischen Darstellungen der Nerven- und Sinnesphysiologie der Vorbereitung zur Psychologie in geeigneter Weise Rechnung tragen.

12) Vergl. z. B. H. Schwarz, Über die Grenzen der physiologischen Psychologie, Anhang zu: Die Umwälzung der Wahrnehmungshypothesen, 1895, II, S. 97 ff.
13) In Bezug auf diese psychologische Bedeutung der experimentellen Methode vergl. Logik2 II, 2, S. 172 ff. Wenn von meinen "Grundzügen der physiologischen Psychologie" im Sinne der oben erwähnten Auffassung von der Aufgabe einer "physiologischen Psychologie" gesagt worden ist, der herrschende Gedanke dieses Werkes sei der des psycho-physischen Parallelismus, so muß ich dies als irrig zurückweisen. Für Jeden, der sehen will, besteht der methodologische Zweck meines Werkes darin, der Psychologie die experimentellen Hilfsmittel der Physiologie dienstbar zu machen. Seine Endabsicht aber ist auf die Analyse und die Nachweisung des Zugammenhangs der psychischen Vorgänge selbst gerichtet, während der psycho-physische Parallelismus überall nur als relativ untergeordnetes Hilfsprinzip zur Anwendung kommt.

    4. Ich halte es nicht für denkbar, dass Begriffsbestimmungen und Argumente wie die oben geschilderten zu Stande kommen, ohne dass man die metaphysische Anschauung, auf die sie hinausführen, zuvor schon besitzt. In dem selbstgewählten Namen "psycho-physischer Materialismus", den freilich nicht alle Vertreter desselben akzeptiert haben, kann man ein, vielleicht nicht beabsichtigtes, aber deshalb nur um so bezeichnenderes Eingeständnis dieser Tatsache erblicken. Der entscheidende Beweis liegt aber darin, dass eine unbefangene und voraussetzungslose Behandlung einer empirischen Wissenschaft sich stets ohne die Geltendmachung irgend eines bestimmten metaphysischen Standpunktes durchführen läßt. Man kann Physiker, Chemiker, Physiologe, oder auf der andern Seite Jurist, Nationalökonom, Historiker sein, ohne dass jeder einzelnen Untersuchung anzusehen ist, welches die philosophischen Überzeugungen ihres Urhebers seien. Wenn die Psychologie wirklich den Charakter einer voraussetzungslosen empirischen Wissenschaft haben soll, so darf es sich mit ihr nicht anders verhalten. Man kann daher auch umgekehrt schließen: wo dies nicht so ist, wo man der Behandlung jedes einzelnen Problems den metaphysischen Standpunkt des Autors anmerkt, da handelt es sich nicht mehr um voraussetzungslose empirische Wissenschaft, sondern um eine metaphysische Theorie, zu deren Exemplifikation die Erfahrung dienen soll.

IV.

    Ich werde nunmehr nachzuweisen suchen, dass die oben an zweiter Stelle angeführte Begriffsbestimmung der Psychologie erstens durch die allgemeinen Bedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnis logisch gerechtfertigt ist, zweitens im Einklang mit der Aufgabe und den methodischen Prinzipien der Naturwissenschaft steht, drittens den Forderungen entspricht, die von dem unmittelbaren Tatbestand des individuellen Bewußtseins sowie von der Gesamtheit der Geisteswissenschaften aus an die Psychologie gestellt werden, und dass sie endlich viertens gar keine metaphysischen Voraussetzungen macht und darum an sich mit jeder metaphysischen Anschauung vereinbar ist. Auszunehmen sind hierbei natürlich solche Anschauungen, die selbst die Erfahrung negieren, indem sie z. B. behaupten, die Bewußtseinsvorgänge seien nichts Wirkliches, sondern Trübungen und Täuschungen irgend einer metaphysisch zu konstruierenden Wirklichkeit.
    l. Der entscheidende Punkt in der hier vertretenen Auffassung der Psychologie liegt darin, dass sie die unmittelbare Erfahrung zu ihrem Gegenstande hat. Diese unmittelbare Erfahrung hat sie nicht, wie das z. B. die heutige Naturwissenschaft in Bezug auf die Empfindungen und Vorstellungen tut, als ein System von Zeichen zu betrachten, aus denen erst die reale Beschaffenheit der Objekte zu erschließen sei, sondern als das gegebene und als solches durch keinerlei Abstraktionen oder hypothetische Begriffsbildungen zu verändernde Substrat ihrer Untersuchung. Alle die Erfahrungsinhalte, die die Psychologie überall als die vor ihr Forum gehörigen ansieht, die Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle usw., sind unmittelbare Erfahrungsinhalte. Dass dieselben in solche zerfallen, die auf Erfahrungsobjekte, und in andere, die auf das erfahrende Subjekt selbst bezogen werden, ist ebenfalls eine der unmittelbaren Erfahrung angehörige Tatsache. Darum würde die Aufgabe der Psychologie zu eng bestimmt sein, wenn man ihr bloß die subjektive Erfahrung zuweisen wollte. Darin aber, dass sie alle Bestandteile der unmittelbaren Erfahrung gleichzeitig umfaßt, liegt an und für sich die Aufgabe, von den Beziehungen beider Faktoren zu einander Rechenschaft abzulegen; und hiermit ist zugleich gefordert, dass die Vorstellungen nicht ausschließlich nach ihrer objektiven Beschaffenheit, sondern vorzugsweise sogar mit Rücksicht auf ihre Entstehungsweise im Subjekte betrachtet werden.
    Ihre Aufgabe einer Analyse der unmittelbaren Erfahrung bringt es nun mit sich, dass der Inhalt der Psychologie ein durchaus anschaulicher ist, wenn wir hierunter, gemäß der erweiterten Bedeutung des Wortes "Anschauung" in der neueren Philosophie, allgemein das konkret Gegebene im Gegensatze zu dem bloß begrifflich Gedachten verstehen. Atome z. B. oder ein mathematischer Punkt sind begrifflich gedacht; aber ein gehörter Ton, ein gesehener Gegenstand, ein erlebtes Gefühl sind konkret gegeben, also in dem oben definierten Sinne anschaulich14).

14) Der Begriff der "Anschauung" in der ursprünglichen Wortbedeutung, in welcher er sich ausschließlich auf gesehene oder mindestens sinnlich wahrgenommene Objekte bezieht, wird übrigens, trotz Kant, noch immer in der heutigen Philosophie gelegentlich angewandt. So meint z. B. Joh. Rehmke in seiner "Allgemeinen Psychologie" (S. 10), im Gegensatz zu den obigen Ausführungen, die Aufgabe der Naturwissenschaften unterscheidet sich dadurch von derjenigen der Psychologie, dass "das Seelenleben nichts anschaulich gegebenes" sei.

    2. Als Wissenschaft von der "unmittelbaren Erfahrung" tritt die Psychologie erst in das richtige Verhältnis zur Naturwissenschaft, wie es sich sowohl aus der Feststellung der systematischen Aufgabe der letzteren wie aus ihrer geschichtlichen Entwicklung ergibt. Die Aufgabe der Naturwissenschaft im allgemeinsten Sinne besteht nämlich in der Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit, d. h. der Objekte, wie sie nach Abstraktion von den ihnen ausschließlich durch die subjektive Vorstellungstätigkeit des Beobachters beigelegten Eigenschaften als real existierend vorauszusetzen sind. In Folge dessen setzt die Naturwissenschaft die Objekte niemals so, wie sie unmittelbar gegeben sind, als wirklich voraus, sondern ihre Erkenntnisweise ist eine mittelbare und, insofern nach der Abstraktion von gewissen Bestandteilen der unmittelbaren Erfahrung das zurückbleibende Objekt nur noch begrifflich gedacht werden kann, eine begriffliche. Dazu kommt, dass jene Abstraktion an der Stelle der durch sie aufgehobenen subjektiven Vorstellungselemente ein objektives Substrat fordert, welches, da es in keiner wirklichen Anschauung gegeben ist, einerseits nur hypothetisch und andererseits nur begrifflich konstruiert werden kann. Dies ist die eigentliche Quelle des Begriffs der Materie und aller der andern hypothetischen Hilfsbegriffe, die in Anlehnung an denselben von der theoretischen Naturwissenschaft ausgebildet worden sind. Indem auf diese Weise die Naturwissenschaft den Inhalt der Erfahrung nach Abstraktion von dem Subjekt analysiert, fordert sie aber als notwendige Ergänzung eine wissenschaftliche Betrachtung der Erfahrung, welche diese Abstraktion wieder aufhebt, und welche demnach den objektiven Inhalt der Erfahrung in ihrem Zusammenhang mit dem Subjekt untersucht. Diese ergänzende, auf solche Weise der Naturwissenschaft koordinierte Disziplin ist eben die Psychologie. Beide zusammen erschöpfen erst den ganzen Inhalt der Erfahrung, nicht deshalb, weil jede von ihnen disparate Erfahrungsobjekte betrachtet, sondern weil beide die wechselseitig sich ergänzenden Standpunkte repräsentieren, welche die Wissenschaft tatsächlich der Erfahrung gegenüber einnimmt. Mit der Psychologie teilen übrigens die sämtlichen Geisteswissenschaften, die deshalb auch als Anwendungsgebiete der Psychologie zu betrachten sind, diesen Standpunkt der unmittelbaren Erfahrung.
    Ist hiernach die Scheidung der Erfahrungswissenschaften in Naturwissenschaft und Psychologie oder allgemeiner ausgedrückt in Natur- und Geisteswissenschaft in der ursprünglichen Beschaffenheit aller Erfahrung vorgebildet, wonach Erfahrungsobjekte und ein erfahrendes Subjekt deren Faktoren sind, so ist dabei aber der Irrtum fernzuhalten, als wenn von Anfang an eine logische Unterscheidung jener beiden Faktoren existierte, und als wenn daher auch jene von der Naturwissenschaft geübte Abstraktion von dem Subjekt ein ursprüngliches, auf fest gegebene Merkmale gegründetes Motiv der naturwissenschaftlichen Forschung wäre. Vielmehr ist selbstverständlich eine logische Begriffsbestimmung dessen, was als Objekt und was als Subjekt zu denken sei, erst auf Grund der naturwissenschaftlichen und der psychologischen Untersuchung zugleich möglich. Zur Scheidung beider Untersuchungsgebiete bedarf es aber auch nicht einer solchen Begriffsbestimmung, sondern es genügt dazu lediglich das bereits in der frühesten Reflexion über die Erfahrung enthaltene Bewußtsein, dass durch sie Objekte einem Subjekte gegeben werden. Weder verbindet sich aber dieses Bewußtsein mit einer Kenntnis der Bedingungen noch mit einer solchen der Merkmale, auf denen jene Unterscheidung beruht, so dass die Ausdrücke "Objekt" und "Subjekt", angewandt auf diese erste Differenzierung der wissenschaftlichen Erkenntnis, als Rückübertragungen von Begriffsunterschieden, die einer bereits ausgebildeten logischen Reflexion angehören, auf die Stufe der ursprünglichen Erfahrung anzusehen sind. Ähnlich verhält es sich mit der von der Naturwissenschaft geübten Abstraktion von dem Subjekt. Nicht diese Abstraktion, sondern lediglich die Erkenntnis der Objekte in ihrer realen Beschaffenheit ist das ursprüngliche Ziel der naturwissenschaftlichen Forschung. Dass sie auf dem Wege zu diesem Ziel von dem Subjekt und einer Menge ursprünglich als objektiv angenommener Elemente, weil sie sich als subjektive herausstellen, abstrahieren muß, ist ein Ergebnis der Untersuchung, das sich die Forschung erst nach einem langen Kampf mit Vorurteilen und Irrtümern zu eigen macht, und das sie daher verhältnismäßig spät erst jeder weiteren Untersuchung als Postulat entgegenbringt.
    Schließlich sei noch hervorgehoben, dass sich diese Abstraktion von dem Subjekt, wie sie für den naturwissenschaftlichen Standpunkt logisch gefordert und geschichtlich nachzuweisen ist, selbstverständlich überall nur auf diejenigen Faktoren der Erfahrung bezieht, die im psychologischen Sinn subjektiv sind, dass aber von den Erkenntnisfunktionen und, insofern als Träger derselben das erkennende Subjekt betrachtet wird, demnach in diesem Sinne auch von dem Subjekt nie und nirgends abstrahiert werden kann. Aber da dieses erkennende Subjekt dasselbe ist bei der unmittelbaren wie bei der mittelbaren Erfahrung, da sich also in der Ausübung seiner Funktion hier und dort keinerlei Unterschiede darbieten, so kann in Bezug auf dasselbe überhaupt von einer Abstraktion nicht die Rede sein. Es außer Betracht lassen, hieße sich der Erkenntnisfunktionen überhaupt enthalten, womit die Objekte so gut wie das Subjekt selbst verschwinden würden.
    3. Dass die Psychologie, wenn sie in dem oben festgestellten Sinne als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung behandelt wird, selbständige Probleme zu lösen hat, durch die sie zugleich in dem Zusammenhang der Erfahrungswissenschaften eine nicht zu ersetzende Stelle ausfüllt, bedarf kaum noch der näheren Ausführung. Am einleuchtendsten wird dies, wenn man diejenigen Gebiete ins Auge faßt, die, sofern man überhaupt eine wissenschaftliche Begründung für sie verlangt, nur als Anwendungsgebiete der Psychologie betrachtet werden können, und die wir, um diese Beziehung zur Psychologie anzudeuten, unter dem Gesamtnamen der "Geisteswissenschaften" zusammenfassen. Manche Vertreter der vorhin an erster Stelle erörterten Definition der Psychologie haben, vielleicht in dem Bewußtsein, dass die Existenz eines Zusammenhangs dieser Gebiete an und für sich schon ein Zeugnis wider jene Definition selbst ist, die Berechtigung dieses Gattungsbegriffs bestritten. Ein "adäquater Gegensatz zur Naturphilosophie" sei nicht herzustellen, es habe die "Ästhetik z. B. in gewisser Hinsicht auch sogen. Naturvorgänge mit zu berücksichtigen", und "der objektiven Bedeutung des Rechtes, der Kunst, der Religion und der geschichtlichen Tatsachen" werde man schwerlich gerecht, "wenn man sie lediglich unter dem Gesichtspunkt geistiger Erzeugnisse würdigt"15). Als ob das überhaupt Jemand versucht oder mit der Bezeichnung "Geisteswissenschaften" gemeint hätte! Das Argument wurzelt augenscheinlich wieder in dem der dogmatischen Metaphysik eigentümlichen Gedanken: so viel Klassen von Gegenständen, so viel Wissenschaften. Weil es "reine Geister" nicht gibt, so soll es auch keine Geisteswissenschaften geben. Dabei verkennt man völlig, dass es in erster Linie nicht die Verschiedenheit der Objekte, sondern der verschiedene Standpunkt der Betrachtung der Tatsachen ist, der die Teilung der Wissenschaften bestimmt hat. Beschäftigen sich denn Physik und Chemie mit verschiedenen Naturgegenständen? Und sind nicht die Gegenstände der Physiologie nebenbei auch physikalische und chemische Körper? Das was Philologie, Geschichte, Jurisprudenz usw. verbindet, ist, neben andern Merkmalen, die ich hier nicht noch einmal weitläufig erörtern will16), die ihnen allen gemeinsame psychologische Interpretation; und diese ist wieder gemeinsam, weil alle diese Gebiete gleich der Psychologie die unmittelbare Erfahrung, nicht wie die Naturwissenschaft die Erfahrung nach Abstraktion von dem Subjekt zu ihrem Inhalte haben. In der Tat wäre es auch sehr interessant zu sehen, wie es eine die Psychologie prinzipiell auf Gehirnphysiologie reduzierende Behandlungsweise anfangen wollte, den einzelnen Geisteswissenschaften irgend welche Dienste zu leisten. Nichts charakterisiert daher mehr die Unfruchtbarkeit dieser Richtung als der Umstand, dass sie da, wo man ihrer bedarf, nichts leisten kann, und dass man sie da nicht bedarf, wo sie etwas leisten will. Damit man sich das erstere nicht eingestehen müsse, soll dann lieber der Zusammenhang der Geisteswissenschaften überhaupt nicht existieren. Um über das zweite hinwegzutäuschen, wird die Psychologie zwar im Prinzip als eine angewandte Gehirnphysiologie proklamiert, im einzelnen läßt man aber die alten psychologischen Begriffe, Bewußtsein, Aufmerksamkeit, Interesse usw., ihres Amtes walten, – natürlich ohne sie psychologisch zu analysieren, da ja die ganze erklärende Aufgabe der Psychologie in Bezug auf die Verbindungen der psychischen Erfahrungsinhalte angeblich der Physiologie obliegt.

15) Külpe, Einleitung in die Philosophie, S. 70 f.
16) Vergl. meine Logik, II2, 2, S. 16 ff.

    Die Psychologie als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung ist aber nicht bloß die gegebene Grundlage der Geisteswissenschaften, weil sie, nicht die Naturwissenschaft, denjenigen Standpunkt der Betrachtung der Erfahrung gegenüber einnimmt, der den Geisteswissenschaften überhaupt eigentümlich ist, sondern sie bietet auch der Physiologie gerade in den Gebieten, in denen diese sich mit der Psychologie berührt, günstigere Chancen als der auf eine unklare Verquickung heterogener Standpunkte ausgehende "psycho-physische Materialismus". Eine Physiologie der Gehirnfunktionen ist ein wirkliches Desiderat; und einer physiologischen Theorie der zentralen Prozesse kann heute schon vorgearbeitet werden, so lückenhaft auch unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete noch sind. Aber eine solche Theorie fordert zweierlei: erstens ein strenges Festhalten des physiologischen Standpunktes der Betrachtung, und zweitens die zureichende Vorarbeit von Seiten der Psychologie, so weit diese der Physiologie Probleme zu stellen oder Gesichtspunkte zu eröffnen hat. Beides wird von der materialistischen Psychologie verabsäumt. Da ihr die Erkenntnis der Eigenartigkeit des psychologischen Erfahrungsstandpunktes mangelt, so schwankt sie in unerträglicher Weise zwischen physiologischer und psychologischer Betrachtung; und da ihr die wirklichen Probleme der Psychologie abhanden gekommen sind, so vermag sie auch der Physiologie keine wirklichen Dienste zu leisten.
    4. Betrachten wir es als die Aufgabe der Psychologie, die unmittelbare Erfahrung in ihrer Entstehung und in den wirklich gegebenen Wechselbeziehungen ihrer Bestandteile zu analysieren, so ist das nun eine so eminent empirische Aufgabe, dass man sogar im Vergleich mit der Naturwissenschaft die Psychologie die strenger empirische Wissenschaft nennen muß. Eben darum, weil die Naturwissenschaft von einer fundamentalen Abstraktion ausgeht, ist sie ja zur Einführung hypothetischer Hilfsbegriffe genötigt, die, wie vor allem der Begriff der Materie, einen metaphysischen Charakter besitzen. Als rein empirische Wissenschaft läßt aber die Psychologie, wie es sich gebührt, und wie es richtig verstanden auch die Naturwissenschaft tut, philosophischen Weltanschauungen freien Spielraum. Beide machen in dieser Beziehung nur die eine Ausnahme, dass sie metaphysische Systeme, die mit der Erfahrung im Widerspruch stehen, zurückweisen.

V.

    Die Richtigkeit einer Grundanschauung kann sich überall erst in ihren Anwendungen bewähren. Da hier nicht der Ort ist, auf solche Anwendungen im Einzelnen einzugehen, so mag wenigstens an einigen "Prinzipien", die gewisse allgemeine Eigenschaften der psychologischen Erfahrung zusammenfassen, gezeigt werden, dass die rein empirische Begriffsbestimmung, die oben von der Psychologie gegeben wurde, manche Schwierigkeiten auf leichterem und natürlicherem Wege löst, als es einem der metaphysischen Standpunkte möglich ist. Es wird mir dies zugleich Gelegenheit geben, auf Mißverständnisse aufmerksam zu machen, denen jene Prinzipien teilweise begegnet sind. Zu diesem Zweck werde ich im folgenden l) das Prinzip des psycho-physischen Parallelismus in den drei Bedeutungen, die ihm je nach dem eingenommenen psychologischen Standpunkte zukommen können, 2) das Prinzip der Aktualität des psychischen Geschehens oder die "Aktualitätstheorie", und endlich 3) den sogenannten "Voluntarismus" besprechen.

A. Die drei Auffassungen des psychophysischen Parallelismus.

    Das Prinzip des psycho-physischen Parallelismus hat eine wesentlich verschiedene Bedeutung, je nachdem es im Lichte irgend einer der älteren metaphysischen Doktrinen oder in dem des modernen "psycho-physischen Materialismus" oder endlich in dem der Behandlung der Psychologie als einer "Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung" betrachtet wird.
    l. Wo in der älteren Metaphysik der "psycho-physische Parallelismus" in Frage kommt, da spielt er nicht die Rolle eines Prinzips, sondern die eines metaphysischen Problems. Dieses Problem, in der dogmatischen Philosophie als das der "Wechselwirkung von Leib und Seele" bekannt, wird durch jedes metaphysische System in seiner besonderen Weise gelöst, wobei zum Behuf dieser Lösung der Parallelismus selbst entweder als ein universeller, die Totalität der Dinge umfassender, oder als ein partieller aufgefaßt wird, der sich nur so weit erstreckt, als in der Erfahrung physische Veränderungen, denen psychische parallel gehen, nachzuweisen sind. Dabei pflegt sich dann der universelle Parallelismus, wie z. B. in dem System Spinoza's, selbst schon für eine Lösung des Problems zu halten, das in dem empirisch vorhandenen partiellen Parallelismus aufgegeben ist. Hier können jedoch die Vertreter des letzteren mit Recht einwenden, dass unter dem empirischen Gesichtspunkte zur Annahme eines universellen Parallelismus überhaupt kein Anlaß vorliege, und dass unter dem metaphysischen die Verallgemeinerung eines Problems nicht mit einer Lösung desselben identisch sei. Demgemäß bemühen sie sich dann, Jeder von seinem besonderen metaphysischen Standpunkte aus, eine solche Lösung zu finden. Da aber alle diese Lösungen weder auf die besonderen Bedingungen der physiologischen und der psychologischen Erfahrung Rücksicht nehmen, noch überhaupt die Absicht haben, der empirischen Interpretation der "Bewusstseinsvorgänge" irgend welche Dienste zu leisten, vielmehr von Anfang an nur einen transzendenten metaphysischen Zweck verfolgen, so liegen sie außerhalb des Gesichtskreises unserer gegenwärtigen Betrachtung.
    2. Eine wesentlich andere, für die Psychologie selbst fundamentale Bedeutung gewinnt unser Prinzip auf dem Standpunkt des "psycho-physischen Materialismus", wie er in der ersten der oben gegebenen Definitionen gekennzeichnet ist. Für ihn ist der Parallelismus nicht bloß ein Grundprinzip, sondern das Grundprinzip der Psychologie, das einzige, über das sie überhaupt verfügt. Während nämlich nach dieser Auffassung alle psychische Kausalität auf physischer Seite liegt, wird zugleich zugestanden, dass die physischen Gesetze nicht genügen, um die psychischen Elemente, die Empfindungen (nach Manchen auch die elementaren Gefühle Lust und Unlust) abzuleiten. Dagegen sollen diese Elemente nach dem Prinzip des psycho-physischen Parallelismus zu bestimmten physischen Elementarvorgängen in regelmäßiger Beziehung stehen. Hieraus erhellt, dass hier das Parallelprinzip überhaupt als das einzige Erklärungsprinzip der Psychologie gilt.
    Mit dem, was diesem Prinzip hier zugemutet wird, steht nun die Dürftigkeit seiner Begründung und die Dürftigkeit seiner Leistung außer allem Verhältnis. Die Begründung pflegt nämlich in einer allgemeinen Berufung auf den Begriff der Funktion zu bestehen. Wenn bestimmten physischen bestimmte psychische Vorgänge regelmäßig zugeordnet sind, so können, so behauptet man, die letzteren durchaus in der von der Mathematik und Physik diesem Begriff beigelegten Bedeutung als die Funktionen der ersteren betrachtet werden. Nun kommt der Begriff der "Funktion" in der Mathematik und mathematischen Physik in einer doppelten logischen Bedeutung vor. In der ersten und ursprünglicheren, in der er eigentlich allein der strengen Bedeutung des Begriffs entspricht, sind Argument und Funktion derart von einander abhängige Größen oder Größenbeziehungen, dass die mit einer gegebenen Veränderung eines Argumentes eintretende Veränderung der Funktion eine logisch geforderte ist, d. h. aus bestimmten für die betreffenden Größengebiete gültigen Prinzipien a priori abgeleitet werden kann. In der zweiten, später entstandenen und im allgemeinen nur aushilfsweise gebrauchten Bedeutung sind Argument und Funktion einander zugeordnete Größen, deren logische oder kausale Beziehung vollkommen dahingestellt bleibt und daher auch aus irgend welchen Prinzipien nicht abgeleitet werden kann. Nun ist es einleuchtend, dass, wer den "psycho- physischen Parallelismus" zum fundamentalen Erklärungsgrund der Psychologie erhebt, dabei nur eine Funktion der zweiten Art im Auge haben kann, d. h. dass er nicht logische oder kausale Beziehung, sondern bloß äußere Koexistenz oder Folge zum Prinzip der psychologischen Erklärung macht. In der Tat besteht, vom Gesichtspunkt des Funktionsbegriffs aus betrachtet, der charakteristische Unterschied zwischen dem reinen und dem psycho-physischen Materialismus darin, dass der erstere das Verhältnis des Physischen zum Psychischen als Funktion erster Art oder als kausale Funktion, der letztere aber bloß als Funktion zweiter Art oder als "willkürliche" Funktion auffaßt. In der Tat wird auch von den Anhängern dieser Anschauung meist ausdrücklich hervorgehoben, zwischen Physischem und Psychischem bestehe zwar "Abhängigkeit", aber keine Kausalität17).

17) Münsterberg, Aufgaben und Methoden der Psychologie, S. 114 f.; Külpe, Einleitung in die Philosophie, S. 134f.

    Hierbei ist jedoch zu beachten, dass in diesem Fall die äußere Koexistenz nicht einmal, wie es bei den naturwissenschaftlichen Anwendungen des willkürlichen Funktionsbegriffs der Fall zu sein pflegt, als provisorischer Ersatz für eine noch aufzufindende eigentliche Funktionsbeziehung angesehen werden kann, weil Argument und Funktion erstens völlig unvergleichbaren Größengebieten angehören, und weil sie zweitens nicht eindeutig und nicht einmal mehrdeutig, sondern im allgemeinen unendlich vieldeutig einander zugeordnet sind. Die erste dieser Eigenschaften, die Unvergleichbarkeit der Größen, entspringt daraus, dass es verschiedene Seiten des allgemeinen Inhaltes der Erfahrung sind, welche einerseits der naturwissenschaftlichen und anderseits der psychologischen Betrachtung anheimfallen. Indem die erstere von dem Subjekt, seinen Gefühlen, Willensmotiven usw. abstrahiert, abstrahiert sie notwendig auch von allen Wert- und Zweckbestimmungen. Bei der Vergleichung physischer Größen bleiben daher diese in den besonderen qualitativen Eigenschaften der Erfahrungsinhalte begründeten Bestimmungen außer Betracht. Indem dagegen auf der andern Seite die Psychologie die ganze unmittelbare Erfahrung zu ihrem Inhalte hat, sind es gerade in erster Linie die in den qualitativen Eigenschaften der Erfahrungsinhalte begründete Wert- und Zweckbestimmung, die für sie bei der Anwendung des Größenbegriffs maßgebend werden. Darum bemißt sich für uns der Wert einer physischen Größe, z. B. einer Kraft oder eines Energievorrates, im allgemeinen nur nach der Größe, und umgekehrt die Größe eines geistigen Wertes, z. B. eines Kunstwerkes, mindestens in erster Linie nach seinem qualitativen Wert, d. h. nach seinen Gefühls- und Zweckinhalten18). Hieraus erhellt von selbst, dass von Funktionsbeziehungen zwischen physischen und psychischen Größen, sofern man dabei den Gesamtinhalt des psychischen Geschehens im Auge hat, überhaupt nicht die Rede sein kann, weil eben jene Beziehungen im allgemeinen nicht eindeutig und nicht einmal begrenzt mehrdeutig, sondern, mathematisch gesprochen, "unendlich vieldeutig" sind. Der Begriff einer unendlich vieldeutigen Funktion ist aber nur ein anderer Ausdruck dafür, dass der Begriff der Funktion überhaupt unanwendbar ist, weil eine irgendwie regelmäßige, also entweder eindeutige oder mindestens begrenzt mehrdeutige Zuordnung der abhängigen Größen die notwendige Voraussetzung dieses Begriffs ist. Diese allgemeine Unanwendbarkeit schließt aber nicht aus, dass sich in jenen einfachsten Fällen, in denen die qualitativen Wert- und Zweckbestimmungen zurücktreten, annähernd eindeutige Beziehungen zwischen physischen und psychischen Größen herausstellen können. Ein solcher Fall ist z. B. bei den einfachsten Beziehungen zwischen Empfindungen und Reizen oder auch zwischen gewissen relativ einfachen Vorstellungsgebilden und ihren physiologischen Vorbedingungen verwirklicht. Augenscheinlich ist daher der Versuch, den "psycho-physischen Parallelismus" zum einzigen Grundprinzip der Psychologie zu machen, aus der Betrachtung dieser einfachen Fälle hervorgegangen. Aber abgesehen davon, dass selbst hier für das psychologische Verständnis der Tatsachen durch die psycho-physische Interpretation nichts geleistet wird, ist es ein handgreiflicher logischer Fehler, gerade diejenigen Beziehungen, in denen der spezifische Charakter des Psychischen möglichst zurücktritt, zu Schlüssen auf die allgemeingültigen Eigenschaften des letzteren zu benutzen. In diesem Schluß offenbart sich wiederum der Grundirrtum dieses Standpunktes: der Naturwissenschaft die Erklärung solcher Bestandteile der Erfahrung aufzubürden, von denen jene selbst grundsätzlich abstrahiert hat. Dies Unternehmen ist von Hause aus absurd, und es ist daher selbstverständlich, dass es zu einem brauchbaren Prinzip der Untersuchung nicht führen kann.

18) Näheres hierüber vergl. in meiner Logik II2, 2, S. 275 ff.

    3. Anders ist die Stellung, die dem Prinzip des psycho-physischen Parallelismus dann eingeräumt wird, wenn man von derjenigen empirischen Aufgabe ausgeht, die der Psychologie vermöge der logisch wie geschichtlich wohl begründeten Arbeitsteilung zwischen ihr und der Naturwissenschaft zugefallen ist. Hat die Psychologie die unmittelbare Erfahrung zu ihrem Gegenstande, so kann sie auch ihre eigentlichen Erklärungsprinzipien nur in dieser Erfahrung selbst finden. Sie hat daher zunächst und vor allen Dingen Psychisches aus Psychischem, nicht Psychisches aus Physischem zu interpretieren. Wo aber der Zusammenhang der psychischen Vorgänge Lücken aufweist, da berechtigt gerade das wechselseitig sich ergänzende Verhältnis, in welchem Naturwissenschaft und Psychologie in der Bearbeitung der Erfahrung zu einander stehen, nachzuforschen, ob die physiologische Erfahrung Tatsachen darbiete, die jene Lücken zwar nicht direkt und auf dem Wege unmittelbarer, anschaulicher Erfahrung, was unmöglich ist, aber indirekt, durch Interpolation von Gliedern, die der mittelbaren, begrifflichen Form der Erfahrung angehören, ergänzen. Dabei ist freilich zu beachten, dass eine solche physiologische Interpolation ebenso wenig eine eigentliche, d. h. psychologische Erklärung des Zusammenhangs der unmittelbaren Erfahrungsinhalte ist, wie etwa umgekehrt die Nachweisung der subjektiven Eigenschaften der Lichtempfindungen an sich selbst schon zu einer Erkenntnis der physiologischen Prozesse der Netzhaut- und Opticuserregung verhelfen kann.
    Auf diese Weise ist der psycho-physische Parallelismus überhaupt kein Grundprinzip der Psychologie, sondern seinem eigensten Charakter nach ein bloßes Hilfsprinzip, durch welches physiologische Erkenntnisse der Psychologie, ebenso aber auch umgekehrt psychologische der Physiologie innerhalb der durch die Verschiedenheit der Betrachtung gezogenen Grenzen dienstbar gemacht werden können. Letzteres geschieht ja in der Tat in weitem Umfang in der Physiologie der Sinnesempfindungen, und auch für die Gehirnphysiologie wird die Psychologie wohl noch mehr leisten als bis jetzt geschehen, wenn sie sich erst auf ihrem eigenen Boden eine gesicherte Grundlage erworben hat, und wenn es die Gehirnphysiologen nicht mehr für zureichend halten, sich mit den zufällig aufgerafften Begriffen der Vulgärpsychologie zu behelfen. Für die Psychologie selbst besteht der Hauptgewinn jenes Hilfsprinzips aber darin, dass damit dem völlig unwissenschaftlichen, höchstens für die Konstruktionen einer mystischen Metaphysik brauchbaren Begriff des "Unbewußten" ein für alle mal die Wege gewiesen sind. Da das "Unbewußte" nicht der unmittelbaren Erfahrung angehört, so kann es auch kein Gegenstand der Psychologie sein. Insoweit gegebene psychische Erfahrungsinhalte auf frühere hinweisen, mit denen sie nicht kontinuierlich zusammenhängen, bleibt für die psychologische Seite der Betrachtung nur der unbestimmte Begriff der Disposition übrig, der eben nichts als diesen psychologisch allein gegebenen Einfluß früherer auf spätere Vorgänge enthält. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass die physiologische Beobachtung Erscheinungen darbiete, welche als physische Dispositionen, die bestimmten psychischen parallel gehen, gedeutet werden können, während sie zugleich vermöge des mittelbaren Charakters der naturwissenschaftlichen Erfahrung auf bestimmte materielle Veränderungen zurückzuführen sind.
    So hoch nun auch das Parallelprinzip um deswillen geschätzt werden mag, weil mit Hilfe desselben das Unbewußte in die Physiologie und damit dahin verwiesen worden ist, wo es allein wissenschaftlich näher definiert werden kann, so bewährt es sich doch auch hierin für die Psychologie als ein relativ untergeordnetes Hilfsprinzip. Denn in dem Zusammenhang der unmittelbaren Erfahrung und ihrer Interpretation spielt dasselbe eine verhältnismäßig geringe Rolle, und für die Erkenntnis des eigensten Zusammenhangs der psychischen Erfahrungen, insbesondere aber ihrer Wert- und Zweckinhalte, kann die Kenntnis des physiologischen Substrates der Dispositionen nicht wesentlich weiter helfen als der allgemeine Begriff der Dispositionen selbst.
    Ist das Prinzip des psycho-physischen Parallelismus unmittelbar gefordert durch die Art, wie Naturwissenschaft und Psychologie in die Untersuchung einer und derselben Erfahrung sich teilen, so bleibt es ferner selbstverständlich zugleich eingeschränkt auf die Tatsachen, die empirisch jenem Parallelismus sich unterordnen. In dieser Beziehung scheidet sich daher das richtig verstandene Parallelprinzip ebensowohl von dem universellen Parallelismus der ontologischen Metaphysik, wie von der die eigentliche Grundlage des Prinzips, die in den sich ergänzenden Betrachtungsweisen der Naturwissenschaft und der Psychologie besteht, völlig verkennenden Denkweise des psycho-physischen Materialismus. Insoweit das Prinzip überhaupt ein metaphysisches Problem enthält, läßt aber natürlich die psychologische so gut wie die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise dasselbe bestehen. Nur das eine ist hier für die philosophische Behandlung dieses Problems von vornherein maßgebend, dass der psycho- physische Parallelismus notwendig auf die nämlichen allgemeinen Bedingungen zurückführt, aus denen die Unterscheidung der Erfahrungsobjekte und des erfahrenden Subjekts hervorgeht.

B. Die Aktualitätstheorie.

    Das Prinzip der "Aktualität des Geschehens" will zunächst nicht eine Voraussetzung ausdrücken, die der Interpretation der psychischen Vorgänge zu Grunde zu legen sei, sondern eine tatsächliche Eigenschaft, die diesen zukommt. Demjenigen, der diese Eigenschaft leugnen wollte, der also behauptete, unsere Vorstellungen z. B. seien nicht Vorstellungsakte, die einen bestimmten Verlauf haben, sondern Objekte mit bleibenden Eigenschaften, dem ließe sich natürlich nicht das Gegenteil beweisen. Sobald man aber die Tatsache zugesteht, was, wie ich meine, Jeder tun muß, der überhaupt einmal auf sie aufmerksam gemacht worden ist, so hat der Ausdruck "Aktualitätstheorie" nur noch darin seine Berechtigung, dass er zugleich einen Gegensatz gegen die Substantialitätstheorie ausdrückt. Der eigentliche Gegensatz beider ist jedoch der, dass in Wahrheit nur die Substantialitätstheorie eine Theorie, d. h. eine Hypothese und ein Versuch der Ableitung der empirischen Tatsache aus dieser Hypothese ist, während die "Aktualitätstheorie" nur den Grundsatz zur Geltung bringt, dass die Psychologie die ihr gegebenen Tatsachen der Erfahrung aus deren eigenem Zusammenhang unter Verzicht auf jede metaphysische Hypothese zu interpretieren habe. Dieser Grundsatz ist aber wiederum von selbst gegeben, sobald man nach der oben gegebenen Begriffsbestimmung in der Untersuchung des unmittelbaren Inhaltes der Erfahrung die Aufgabe der Psychologie sieht.
    Diese Gesichtspunkte sind nun auch für die Beurteilung der gegen die Aktualitätstheorie vorgebrachten Einwände maßgebend. Wenn ich bei der Erörterung dieser Einwände an bestimmte einzelne gegen mich gerichtete Ausführungen anknüpfe, so geschieht dies übrigens nicht sowohl, um meinerseits fremde Standpunkte zu bekämpfen, als deshalb, weil jene Ausführungen eine dankenswerte Gelegenheit bieten, Mißdeutungen aufzuklären, die, wie ich wohl annehmen darf, auch sonst noch die von mir vertretenen psychologischen Anschauungen erfahren haben.
    l. Die Aktualitätstheorie macht sich, wie man behauptet, einer "Übertreibung" schuldig, indem sie das Psychische als ein immerwährendes Geschehen schildere, während doch hier, ebenso wie in der äußeren Wahrnehmung, relativ beharrendere von vergänglicheren Erscheinungen zu unterscheiden seien19). Nun ist gewiß zuzugeben, dass der Ablauf der psychischen Vorgänge mannigfache Unterschiede der Geschwindigkeit zeigt, und dass also gewisse Vorgänge relativ dauernder sind als andere. Entweder hat aber ein bestimmter Erfahrungsinhalt überhaupt den Charakter eines zeitlich verlaufenden veränderlichen Vorgangs, oder er hat ihn nicht. Wenn das erstere der Fall ist, so kann die noch so energische Hervorhebung, dass dies so sei, keine Übertreibung genannt werden. Dies ließe sich nur etwa dann sagen, wenn den psychischen Vorgängen eine fabelhafte Geschwindigkeit und Vergänglichkeit zugeschrieben würde. Dem gegenüber darf ich wohl bemerken, dass ich selbst mich in meinen Annahmen über den zeitlichen Verlauf und die Veränderlichkeit der psychischen Vorgänge stets an die Daten der Erfahrung gehalten habe und in diesem Sinne teils manchen früher verbreiteten falschen Annahmen über eine enorme "Gedankengeschwindigkeit" entgegengetreten bin20), teils aber auch allerdings die Unhaltbarkeit der Annahme einer dingähnlichen Konstanz der Vorstellungen betont habe 21).

19) Allen Vannérus, Archiv f. systematische Philosophie, II, S. 379f.
20) Vergl. Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele 2 S. 304. Im Gegensatze zu dem oben erwähnten Vorwurf der Übertreibung ist mir von einer anderen gegnerischen Seite brieflich eingewendet worden, wenn die "Aktualitätstheorie" und der "Voluntarismus", wie ich sie verstehe, die Eigenschaft der psychischen Vorgänge, Ereignisse, nicht Objekte zu sein betonen, so sei dies eine Anschauung, die sich auch mit ganz anderen Standpunkten, z. B. mit der Theorie Herbart's, vereinigen ließe. Nun verschwindet nach Herbart eine einmal entstandene Vorstellung nicht wieder aus der Seele; sie kann durch die Hemmungen, die sie erfährt, unter die Schwelle des Bewußtseins sinken, in verminderter Stärke und Klarheit auftreten usw., aber qualitativ bleibt sie unveränderlich, ebenso wie ja auch nach der "Assoziationspsychologie" eine "reproduzierte" Vorstellung der ursprünglichen gleich, nur schwächer als sie sein soll. Dem gegenüber behauptet nun die Aktualitätstheorie, eine einmal dagewesene Vorstellung sei ein Ereignis, das nicht bloß intensiv, sondern auch qualitativ und in Bezug auf seine elementare Zusammensetzung nie als dasselbe wiederkehre, und der "Voluntarismus" fügt hinzu, die konkrete Willenshandlung könne in dieser Beziehung als typisches Vorbild jedes psychischen Vorgangs betrachtet werden. Wenn diese Auffassung mit Herbart's Theorie vereinbar sein soll, dann muß ich bekennen, dass ich nicht mehr weiß, wann überhaupt noch Anschauungen unvereinbar sind.
21) Physiol. Psychologie, II4, S. 466 f.

    2. Ein "beharrender Träger" des Zusammenhangs der psychischen Vorgänge oder mindestens eine "reale Einheit" derselben22) sei logisch unentbehrlich. Die "Aktualitäts-theorie" verfalle daher unvermeidlich dem Widerspruch, stillschweigend selbst einen solchen Träger oder eine solche reale Einheit vorauszusetzen. Denn es werde von ihr das "denkende Subjekt" als eine solche reale Einheit angenommen23), oder es werde gar eine "Vielheit von Akten als Träger jedes einzelnen gedacht", wobei unbegreiflich bleibe, wie "die mannigfalti-gen gleichzeitigen psychischen Vorgänge, die ja nur eine Vermehrung dessen darstellen, was schon in jedem einzelnen enthalten ist", durch eine ihnen zugewiesene "Einheitsfunktion" befähigt werden sollten, "jeden einzelnen Zustand auf diese Gesamtheit beziehen zu lassen"24).

22) Vannérus a. a. 0. S. 378.
23) Vannérus a. a. 0. 8. 377.
24) Külpe, Einleitung in die Philosophie, S. 191. Wie mir Prof. Külpe brieflich mitteilt, beziehen sich manche der Einwürfe, die er der Aktualitätstheorie und dem Voluntarismus gemacht hat, nicht auf meine Arbeiten, sondern auf Ausführungen Paulsen's in dessen "Einleitung in die Philosophie". Da aber jene Einwürfe (abgesehen von einigen untergeordneten Punkten, die ich außer Betracht gelassen habe) ganz allgemein gegen "Aktualitätstheorie" und "Voluntarismus" überhaupt gerichtet sind, so zwar, dass die der Kritik unterworfenen Ansichten sämtlich zugleich als allgemeine Merkmale jener Theorien behandelt und in dieser Verbindung zur Begründung eines verwerfenden Urteils benutzt werden, so kann ich natürlich auch in der nachfolgenden Beleuchtung dieser Kritik keinen anderen Standpunkt einnehmen, als denjenigen, den sie selbst einnimmt. Das Mißverständnis, das notwendig durch Külpe's Darstellung erweckt werden muß, als seien "Aktualitätstheorie" und "Voluntarismus" einheitliche Anschauungen, von denen insbesondere der Voluntarismus im wesentlichen mit Schopenhauer's Willensmetaphysik übereinstimme (s, unter C), ist überdies, wie ich bemerkt zu haben glaube, ziemlich weit verbreitet. Eine Erörterung, die von dieser Auffassung ausgeht, wird darum auch am ehesten geeignet sein, die Irrigkeit derselben deutlich zu machen.
 
    Diesen Ausführungen ist zunächst entgegenzuhalten, dass der logische Begriff eines "Subjektes der inneren Erfahrung" allerdings nicht entstehen könnte ohne eine zu Grunde liegende reale Einheit, dass aber diese nach der Aktualitätstheorie lediglich in dem Zusam-menhang der psychischen Vorgänge selbst gegeben ist, nicht außerhalb derselben. In der Tat ist es klar, dass auch die Substantialitätstheorie einen solchen unmittelbar und tatsächlich gegebenen Zusammenhang zugestehen muß, da er für sie in Wahrheit das einzige empirische Motiv zur Bildung des Substanzbegriffs ist, wozu dann aber bei ihr noch als metaphysisches Motiv die Voraussetzung hinzukommt, alle Erfahrungsinhalte seien bloße "Erscheinungen", die auf ein Substrat, dessen Erscheinungen sie sind, zurückweisen sollen. Gibt man nun diese metaphysische Annahme preis, so kann jenes empirische Motiv für sich allein nicht mehr genügen. Denn will man trotzdem den Substanzbegriff festhalten, so ergibt sich als Inhalt desselben lediglich der unmittelbare Zusammenhang der psychischen Vorgänge selbst, d. h. die Substantialitätstheorie geht ohne weiteres in die Aktualitätstheorie über25).

25) In der Tat scheinen mir die Ausführungen von Vannérus (a. a. O.) im wesentlichen hierauf hinauszuführen. Wenn er trotzdem an dem psychologischen Substanzbegriff festhält, so ist wohl hauptsächlich als Grund für ihn die Tatsache maßgebend, dass nicht alle Bedingungen, die den Zusammenhang der "Bewußtseinsvorgänge" vermitteln, selbst als Bewußtseinsvorgänge gegeben sind. Da aber die wissenschaftliche Analyse solcher "unbewußter Dispositionen", wie oben erörtert, nur auf dem Wege der Untersuchung der Entstehung bestimmter physiologischer Veränderungen möglich ist, so führt das immer nur auf den Hilfsbegriff der physischen Substanz, nie auf einen bestimmten psychologischen Substanzbegriff. Bei diesem Punkte kommt eben zu Tage, dass auch Vannérus die eigentümliche Gebietsteilung zwischen Naturwissenschaft und Psychologie, nach welcher der Gegenstand dieser ausschließlich die unmittelbare Erfahrung ist, nicht zureichend erfaßt hat und daher immer wieder geneigt ist, den Standpunkt der mittelbaren Erfahrung auch auf die Psychologie zu übertragen. Hiermit hängt wohl das Mißverständnis zusammen, dass er schon die Hervorhebung der realen Einheit des Seelenlebens als eine Art Anerkennung der Seelensubstanz auffaßt (a. a.O. S. 377). Als wenn nicht ein Zusammenhang von Vorgängen ebenso real sein könnte wie ein relativ dauerndes Objekt! Und in Wahrheit ist ja auch das letztere psychologisch betrachtet gar nichts anderes als ebenfalls ein solcher Zugammenhang.

    Wenn ferner gegen die Aktualitätstheorie der Vorwurf erhoben wird, dass sie eine "Vielheit von Akten als Träger jedes einzelnen" usw. denke, so ist hiergegen zu bemerken, dass dieser Vorwurf selbst auf einer völlig unpsychologischen, die Produkte einer willkürlichen logischen Abstraktion in die Wirklichkeit hineintragenden Betrachtungsweise beruht. Zuerst wird der Zusammenhang einer Vielheit psychischer Vorgänge in eine abstrakte Vielheit umgewandelt und dann behauptet, die Aktualitätstheorie selbst mache diesen abstrakten Vielheitsbegriff zum "Träger" des Ganzen. Die Wirklichkeit der psychischen Vorgänge ist aber keine abstrakte Vielheit, sondern eine Mannigfaltigkeit stetig zusammenhängender und stetig verlaufender Prozesse, innerhalb deren trotz einzelner Unterbrechungen die Kontinuität im ganzen erhalten bleibt, so lange nur überhaupt stetige Verbindungen unmittelbar gegeben sind und neue Vorgänge eine Wiederholung früherer herbeiführen, durch die auch diese jenen Verbindungen sich anschließen. Wird der Zusammenhang der psychischen Prozesse vollständig unterbrochen, so hört darum auch die Einheit des Bewußtseins auf. Ein empirischer Grund, diese Einheit auf etwas anderes als auf jenen Zusammenhang selbst zurückzuführen, ist also nicht nachzuweisen. Wenn dann aber weiterhin auch noch die mannigfaltigen Vorgänge angeblich nur "eine Vermehrung dessen darstellen, was schon in jedem einzelnen enthalten ist" und durch eine "ihnen zugewiesene Einheitsfunktion" befähigt werden sollen, "jeden einzelnen Zustand auf diese Gesamtheit beziehen zu lassen", so wird hier jener einseitige logische Begriff der Vielheit noch einmal ins Feld geführt, um nun gar der Aktualitätstheorie die Annahme zuzuschreiben, neben der abstrakten Vielheit sei auch noch eine abstrakte "Einheitsfunktion" gegeben, die eine Verbindung herstelle, – eine Einheitsfunktion, die dann freilich ungefähr eine ähnliche Rolle wie der Substanzbegriff selbst spielen würde. Von allem dem ist in der wirklichen Aktualitätstheorie, und vor allem in derjenigen, die in meinen eigenen psychologischen Arbeiten zum Ausdruck gelangt ist, nirgends die Rede. Jene Stetigkeit des Verlaufs und jene stetigen Verbindungen vieler Vorgänge unter einander kommen nach ihr mehr oder minder allen psychischen Vorgängen, in besonderem Maße aber allerdings denjenigen Elementen zu, die sich an der Entwicklung des Selbstbewußtseins beteiligen. Auch diese stehen jedoch nicht äußerlich den übrigen Bewußtseinsvorgängen gegenüber, sondern sie bilden untrennbare Bestandteile derselben. Hierin folgt die Aktualitätstheorie also lediglich dem Grundsatze, die empirisch gegebenen Zusammenhänge nachzuweisen. Indem sie das tut, hält sie aber auch diese nicht nur für genügend, um die empirisch gegebene Einheit des Bewußtseins zu erklären, die ja in Wirklichkeit genau so weit und nicht weiter reicht als jene, sondern sie meint damit zugleich der eigensten Aufgabe der Psychologie, wie sie in der früher gegebenen Definition ausgesprochen ist; und wie sie in der Betrachtungsweise der sämtlichen Geisteswissenschaften längst zum Ausdruck gelangt ist, unmittelbar gerecht zu werden. Indem die Aktualitätstheorie hierbei den Willensvorgängen eine hervorragende Bedeutung, besonders für die Entwicklung der Einheit des Bewußtseins, zugesteht, folgt sie gleichfalls nur bestimmten empirischen Zeugnissen, und sie hat dabei stets nur das konkrete einzelne Wollen im Auge, das nie anders als in Verbindung mit andern psychischen Elementen vorkommt26). Im Gegensatze hierzu konstruiert die Substanzhypothese auf Grund des empirisch gegebenen Zusammenhangs den Begriff eines beharrlichen Trägers, der an und für sich gar nichts als der zuerst in eine inhaltsleere Abstraktion und dann in ein reales metaphysisches Objekt verwandelte Begriff jenes empirischen Zusammenhangs selber ist. Offenbar ist es nun bei der obigen Argumentation gerade dieses bei der Bildung des ontologischen Substanzbegriffs geübte Verfahren, das man ohne jedes objektive Motiv, lediglich unter dem Einfluß der eigenen ontologischen Denkgewohnheiten, auf die Aktualitätstheorie überträgt, um sie dann des nämlichen Ontologismus anzuklagen.

26) Vergl. hierzu Physiol. Psych., II4, S. 255 ff., System der Philosophie, S. 562 ff., sowie die unten folgen-den Bemerkungen zur Kritik des Voluntarismus (C).

    3. Die Seelensubstanz sei zwar "kein Gegenstand unserer Wahrnehmung",– "aber auch die Atome lassen sich nicht wahrnehmen"27). Die Richtigkeit dieser Bemerkung ist ohne weiteres anzuerkennen, und wenn außerdem einige Seiten später (S. 193) gesagt wird, die empirische Psychologie sei "von der Einmischung des Substanzbegriffs in die Beschreibung und Erklärung der Tatsachen ganz frei zu halten", so ist die Verbindung dieser beiden Sätze wohl eine der bündigsten Widerlegungen der Substantialitätshypothese. Die Atome nimmt man an, weil man ihrer zur Erklärung des Zusammenhangs der physikalischen Erscheinungen zu bedürfen glaubt; wer der Überzeugung ist, dass man ihrer nicht bedarf; der hält darum auch ihre Annahme für widerlegt. Wer sich zu Gunsten der Seelensubstanz auf die Atome beruft und gleichzeitig einschärft, dass bei der Erklärung der Tatsachen jene Substanz aus dem Spiel bleiben müsse, der bekennt also damit selbst, dass seine Annahme, an dem Maßstab anderer wissenschaftlicher Hilfsbegriffe gemessen, eine grundlose sei.

27) Külpe, Einleitung, S. 190.

    4. Wenn von Seiten mancher Vertreter der Aktualitätstheorie "unbewußte psychische Erregungen" angenommen werden, oder wenn man sich "einzelne psychische Funktionen mit Eigenschaften und Kräften ausgestattet denke, wovon sich in der inneren Wahrnehmung höchstens gewisse Andeutungen wahrnehmen lassen", oder wenn man endlich "den Begriff der materiellen Substanz um das Merkmal geistiger Vorgänge bereichert habe", so soll man damit "dem Bedürfnis nach einer Vervollständigung des bewußten inneren Daseins ebenso wie durch die Annahme einer Seelensubstanz" zu dienen suchen, speziell durch die dritte dieser Voraussetzungen aber sei "schwerlich eine zweckmäßigere oder fester begründete Anschauung gewonnen"28). Hier handelt es sich offenbar nicht um einen, sondern um drei Einwände, die daher einer gesonderten Beleuchtung bedürfen.

28) Külpe a. a. O. S. 192.

    a. "unbewußte psychische Erregungen". Bei diesem, Einwand ist zu beachten, dass, was man "Aktualitätstheorie" nennt, möglicher Weise zwei verschiedene Bedeutungen haben kann. Jemand kann sich zu ihr l) in dem Sinne bekennen, dass er alles Psychische als eine Summe von Ereignissen, Actus, nicht irgend welche von ihnen, wie z. B. die Vorstellungen, als mehr oder minder stabile Objekte ansieht. Ein Anhänger dieser Form der Aktualitätstheorie kann möglicher Weise "unbewußte psychische Vorgänge" annehmen, auf die er dann wohl die nämliche Eigenschaft der Aktualität überträgt, ohne sich damit eines Widerspruchs schuldig zu machen. Man kann aber auch 2) das Aktualitätsprinzip in dem Sinne auffassen, dass dasselbe neben jener den psychischen Prozessen zukommenden Eigenschaft, "Tätigkeiten" zu sein, auch noch die Forderung einschließt, dass das Objekt der Psychologie die unmittelbare Wirklichkeit (Aktualität) der psychischen Vorgänge selbst sei, nicht ein hinter ihnen verborgenes Substrat. Wer, wie ich es tue, nicht bloß in jener ersten, sondern auch in dieser zweiten Bedeutung die Aktualität auffaßt, für den ist dann allerdings die Annahme unbewußter psychischer Vorgänge ausgeschlossen. Nun habe ich stets sowohl in meiner "Physiol. Psychologie" wie in andern, nach ihr erschienenen Arbeiten den Standpunkt festgehalten, dass ich "unbewußte Vorgänge", vermöge der der Psychologie nach der oben gegebenen Definition gestellten Aufgabe, nicht als ein zulässiges Hilfsmittel psychologischer Interpretation betrachte29). Der Einwand der "unbewußten psychischen Vorgänge" ist also für mich nicht zutreffend, und er kann es demnach auch nicht wohl für die Aktualitätstheorie überhaupt sein.

29) Vergl. dazu oben A3.

    b. "Ausstattung einzelner psychischer Funktionen mit Eigenschaften und Kräften, wovon sich in der inneren Wahrnehmung höchstens gewisse Andeutungen wahrnehmen lassen." Der Ausdruck "Andeutungen in der inneren Wahrnehmung" scheint zu verraten, dass bei diesem Einwurf der wichtige logische Unterschied zwischen Hypothesen der empirischen Psychologie und den fundamentalen Hypothesen der Naturwissenschaft nicht ganz unbemerkt geblieben ist. Dennoch kommt seine Bedeutung nicht hinreichend zur Geltung. Hypothesen gibt es natürlich in jeder Wissenschaft, weil es neben den zweifellos vorhandenen Tatsachen und ihren Verknüpfungen immer noch andere gibt, die nicht mit Sicherheit nachgewiesen sind. Aber in den rein empirischen Wissenschaften, wie eine solche die Psychologie als Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung ist, ebenso wie in den auf psychologische Interpretation zurückgehenden spezielleren Geisteswissenschaften, Geschichte, Jurisprudenz usw., kann sich eine Hypothese prinzipiell nur aus Bestandteilen zusammensetzen, deren empirische Nachweisung möglich sein muß. In der Tat entsprechen diesem Kriterium alle psychologischen Hypothesen, so weit sie überhaupt einen wissenschaftlichen Erklärungszweck verfolgen. Wenn z. B. Jemand die Hypothese aufstellt, dass gewisse Bewegungsempfindungen und Lokalzeichen auf die räumlichen Wahrnehmungen, gewisse Erwartungs- und Spannungsgefühle auf die Zeitvorstellungen von Einfluß sind, so hält er alle diese Empfindungen und Gefühle für Tatsachen der Erfahrung, wenn sie auch vielleicht in einzelnen Fällen wegen der verwickelten Bedingungen der Beobachtung nur in "Andeutungen" wahrnehmbar sein sollten. Wer solchen Hypothesen entgegentritt, stützt sich daher stets in erster Linie darauf, dass jene angeblichen Tatsachen der Erfahrung entweder einzeln oder in der ihnen zugeschriebenen Verbindungsweise nicht sicher nachzuweisen seien. Wie anders steht es hier mit den fundamentalen Hypothesen der Naturwissenschaft! Wann hätte sich je Jemand anheischig gemacht, Atome oder (vom Standpunkt der sogenannten Kontakthypothese aus) eine absolute Kontinuität der Materie und so manche zum Behelf der Anwendung dieser Begriffe eingeführte Hilfsvorstellungen direkt empirisch nachzuweisen? Bei den psychologischen Hypothesen läuft also die logische Prüfung stets auf eine Tatfrage, bei den fundamentalen Hypothesen der Naturwissenschaft läuft sie einzig und allein auf eine Brauchbarkeitsfrage hinaus. Die abstraktesten und entlegensten Annahmen können hier unter Umständen den anschaulichsten und scheinbar naheliegendsten vorgezogen werden, weil sie sich brauchbarer erweisen30). Diese Eigenschaft des allezeit hypothetischen und metaphysischen Charakters der grundlegenden Hypothesen der Naturwissenschaft ist es ja, die in der neueren Naturwissenschaft eine Reaktion erweckt hat, die auf eine nicht überhaupt von Hypothesen, wohl aber auf eine von solchen der direkten Nachweisbarkeit sich entziehenden Hypothesen freie Beschreibung oder Erklärung der Naturerscheinungen dringt. Diese Reaktion, mag sie Erfolg haben oder nicht, ist jedenfalls eine auch erkenntnistheoretisch höchst bedeutsame Erscheinung. Sie geht, wie aus den obigen Erörterungen erhellt, auf nichts mehr und nichts weniger aus als darauf, auch die Naturwissenschaft, trotz der für sie unerläßlichen Abstraktion von dem Subjekt, in eine Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung überzuführen. Man darf, abgesehen von den in der Naturwissenschaft sich erhebenden Schwierigkeiten im einzelnen, wohl auch aus erkenntnistheoretischen Gründen zweifeln, ob dieser Versuch durchführbar ist, weil eben die für die Naturwissenschaft geforderte Abstraktion von dem Subjekt die Unmittelbarkeit der Erfahrung aufhebt. Wie dem aber auch sei, – jedenfalls ist die Übertragung der von der Naturwissenschaft geübten hypothetischen Begriffsbildungen auf die Psychologie nicht zulässig. Sie beruht auf einer Verkennung des wesentlich verschiedenen logischen Charakters der fundamentalen Hypothesen auf beiden Gebieten. Die Folge ist dann, dass man von der nach Analogie der naturwissenschaftlichen Substanzhypothesen gebildeten Seelenhypothese nachträglich eingestehen muß, dass sie für die Erklärung nichts leistet, also gerade den Zweck nicht erfüllt, dem allein die naturwissenschaftlichen Hypothesen ihre Berechtigung verdanken.

30) Auf einer ähnliehen Vermengung der Standpunkte beruht es, wenn Vannérus (a. a. O. S. 376) gegen den Satz, dass es die Psychologie mit der unmittelbaren Erfahrung zu tun habe, einwendet, manche unserer psychologischen Annahmen, wie z. B. die Voraussetzung, dass einfache Empfindungen die Elemente der Vorstellungen seien, dass Prozesse assoziativer Synthese u. dergl. existieren, seien nicht unmittelbar gegeben. Der Satz, dass der Gegenstand der Psychologie die unmittelbare Erfahrung ist, will natürlich nicht sagen, dass uns die Elemente dieser Erfahrung und ihre Verbindungen ohne jede Analyse der Wahrnehmung gegeben seien. Wäre dies der Fall, so würde ja die wissenschaftliche Aufgabe der Psychologie überhaupt hinfällig werden, oder vielmehr: diese würde nicht bloß eine Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, sondern auch eine unmittelbare Wissenschaft sein, d. h. eine solche, die gar keine Analyse und Kombination der Tatsachen erforderte. Nun kommen die einfachen Empfindungen zwar in der Wirklichkeit immer nur in Verbindungen vor, aber es werden ihnen in ihrer durch die Analyse gewonnenen einfachen Beschaffenheit doch nur die nämlichen Eigenschaften beigelegt, die sie auch in jenen psychischen Verbindungen besitzen, und es wird nur von allem dem abstrahiert, was erst auf die Verbindungen zurückgeführt werden kann. Ähnlich verhält es sich mit den assoziativen und apperzeptiven Verbindungen. Die psychologische Untersuchung zerlegt gewisse Bewußtseinsvorgänge in ihre Bestandteile, und aus der Vergleichung dieser mit ihren komplexen Produkten, sowie aus den etwa noch wahrnehmbaren begleitenden Vorgängen ergibt sich der stattfindende Verbindungs-prozess. Der unmittelbare Charakter des letzteren besteht auch hier lediglich darin, dass die Untersuchung keine Elemente voraussetzt, die nicht selbst als unmittelbare Bestandteile der Erfahrung gegeben wären.

    c. "Bereicherung des Begriffs der materiellen Substanz um das Merkmal geistiger Vorgänge." Ich darf wohl annehmen, dass dieser Einwurf im Hinblick auf das Schlußkapitel meiner "Physiologischen Psychologie" erhoben worden ist, und ich muß daher zur Würdigung desselben den Gedankengang dieses Schlußkapitels kurz resümieren. Es wird in ihm davon ausgegangen, dass eine Betrachtung des psychologischen Problems von drei Standpunkten aus möglich sei: dem erkenntnistheoretischen, dem psychologischen und dem psycho-physischen. Die erkenntnistheoretische Betrachtung ergibt eine unmittelbare Realität der innern Erfahrung, gegenüber der mittelbaren der äußern. Daraus entsteht für die psychologische Betrachtung oder für die eigentliche Psychologie die Aufgabe einer Untersuchung des unmittelbaren, direkt in der Erfahrung gegebenen Zusammenhangs der psychischen Vorgänge. Insofern jedoch die Erfahrung überall Wechselbeziehungen zwischen physischen und psychischen Prozessen vorfindet, ist für das Problem dieser Wechselbeziehungen eine Verbindung des von der Psychologie eingenommenen Standpunktes der unmittelbaren mit dem von der Physiologie festgehaltenen der mittelbaren Erfahrung unerläßlich, eine Verbindung, von der aber ausdrücklich hervorgehoben wird, dass sie, eben als Verbindung verschiedener Standpunkte der Betrachtung und eingeschränkt auf die Beurteilung der psycho-physischen Wechselbeziehungen, nur von "transitorischer" Anwendung, d. h. eben dass sie für die eigentliche psychologische Erklärung unzulässig sei31). Hierauf wird daran erinnert, dass die psychischen Vorgänge im Grunde an die Gesamtheit der körperlichen Vorgänge, natürlich unter entsprechender Bevorzugung der durch ihre physiologischen Zusammenhänge zu Zentralherden der animalischen Funktionen geeigneten, gebunden sind. Damit ist von selbst gesagt, dass die Annahme einer einfachen Seelensubstanz, die irgendwo im Gehirn ruhend oder beweglich lokalisiert wäre, oder auch die Annahme einer Mehrheit solcher von den physischen Elementen verschiedener Seelensubstanzen vom "psycho-physischen" Standpunkte aus unhaltbar, weil mit der Gesamtheit unserer heutigen physiologischen Erfahrungen unvereinbar ist. Demnach bleibt nur übrig, so lange wir diesen psycho-physischen Standpunkt festhalten, den physischen Elementen überhaupt zugleich eine psychische Qualität oder vielmehr, da wirkliche psychische Leistungen immer nur durch Verbindungen sehr vieler Elemente zu Stande kommen, eine psychische Anlage (etwa in der Form einer Empfindung und Gefühl vereinigenden Triebanlage) zuzuschreiben und dabei zugleich innere Beziehungen dieser psycho-physischen Elemente, nicht bloß äußere, wie bei den physischen, anzunehmen, so dass die psychischen Qualitäten vieler Elemente auf einander einwirken und sich zu psychischen Resultanten verbinden können32).

31) Physiol. Psychol., II4, S. 644.
32) Vergl. Physiol. Psychol. II4, S. 636 ff.

    Dass nun diese augenscheinlich bloß zur Erläuterung der psycho-physischen Wechselbeziehungen ausgeführte, für die Psychologie selbst aber wegen der dabei obwaltenden Verbindung heterogener Standpunkte ausdrücklich von mir als unzulässig bezeichnete Betrachtung gerade als das behandelt werde, was sie nach meiner Erklärung nicht sein kann, als eine rein psychologische Hypothese, ist offenbar nicht gestattet. In Folge dessen ist sie aber auch in keine Art von Analogie mit der Substanzhypothese zu bringen. Zugleich verfehlt dieser Einwurf in doppelter Beziehung sein Ziel. Erstens würde die Annahme einer psychischen Anlage der Elemente des lebenden Organismus immer noch in der Tatsache, dass die psychischen Vorgänge an den physischen Organismus gebunden sind, und in der Erwägung, dass die Eigenschaften eines Ganzen irgendwie in den Eigenschaften seiner Bestandteile begründet sein müssen, wenn sie auch nicht als mechanische Resultanten daraus hervorgehen sollten, ihre empirische Rechtfertigung sehen können. Zweitens verfolgt die ganze psycho-physische Erörterung in dem Schlußkapitel meines Werkes augenscheinlich den Zweck, die Unvereinbarkeit der spiritualistischen Substanzhypothese mit den physiologischen Tatsachen hervorzuheben. Eine Rechtfertigung dieser Hypothese, die auf jene Erörterungen Bezug nimmt, hätte darum vor allem darüber Rechenschaft zu geben, wie sie sich denn die Verbindung der substantiellen Seele mit dem Körper denkt. Über diese letztere Schwierigkeit wird aber, so nahe hier die Aufforderung lag sie in Erwägung zu ziehen, stillschweigend hinweggegangen.
    5. Wenn endlich die Hypothese einer Seelensubstanz nicht nützlich für die Verknüpfung der Erfahrungstatsachen gefunden werde, so dürfe man daran erinnern, "dass metaphysische Hypothesen niemals diesen Zweck erfüllen, sondern nur zur Ergänzung der wissenschaftlichen Ergebnisse dienen"33). Zunächst kann ich diesem Satz in der Allgemeinheit, in der er hier vorgetragen wird, nicht zustimmen. Alle Hypothesen, die ihrer Natur nach nicht empirisch verifiziert werden können, aber in dem Sinne die Erfahrung ergänzen, dass sie dieselbe zu einem unser intellektuelles Bedürfnis befriedigenden Ganzen gestalten, sind ihrem Charakter nach metaphysische Hypothesen. Aber wissenschaftlich und darum (sofern man die Metaphysik überhaupt für eine Wissenschaft hält) auch metaphysisch berechtigt sind sie nur dann, wenn sie logisch und methodologisch zureichend begründet sind. Annahmen, die diesen Maßstab nicht ertragen, können willkürliche Einfälle, überlieferte Vorstellungen oder alles mögliche sonst sein, wissenschaftliche Hypothesen sind sie jedenfalls nicht. Doch abgesehen von dem allen: die Annahme einer einfachen Seelensubstanz hat überhaupt nur dann Anspruch auf den Namen einer "Ergänzung" der Wirklichkeit, wenn in irgend einer Weise der Versuch gemacht wird, diesen Begriff als einen solchen darzutun, der, wenn man von der Erfahrung aus in der Reihe der Bedingungen weiter und weiter zurückgeht, schließlich als eine letzte, transzendente Bedingung zurückbleibt. Ein Versuch solcher Art ist z. B. von Leibniz, dann von Herbart gemacht worden, – nicht mit Erfolg, wie ich glaube, weil beide Denker nicht von der psychologischen Erfahrung, sondern von allgemeinen Begriffen über das Seiende überhaupt ausgegangen sind. Der Seelenbegriff ergab sich so als Anwendung eines allgemeineren ontologischen Begriffs, auf den nachträglich erst gewisse psychologische Bestimmungen übertragen wurden. Immerhin läßt sich da noch von einem Versuch der "Ergänzung" der Erfahrung reden. Das ist anders, wenn, wie es hier geschieht, der Substanzbegriff ausdrücklich nur gefordert wird, um dem in der Erfahrung gegebenen Zusammenhang der psychischen Vorgänge als Substrat zu dienen. Dieser Zusammenhang ist in der Verbindung der einzelnen psychischen Vorgänge unter einander hinreichend empirisch begründet. Der Begriff einer beharrenden Substanz vermag ihn daher in Wahrheit nicht im geringsten begreiflicher zu machen, als er durch sich selbst schon ist. Auch ist dieser Begriff überhaupt keine in regelmäßigem Regressus von der Erfahrung aus gewonnene Ergänzung, sondern, wie Kant mit Recht bemerkt hat, ein auf Grund eines Paralogismus gewonnener Scheinbegriff. Jener tatsächliche Zusammenhang der psychischen Vorgänge liefert durch Abstraktion den formalen Begriff der logischen Einheit, und diesem substituiert man dann den Begriff des realen einfachen und beharrenden Dinges. Da dieser völlig inhaltsleere Begriff, bei dessen Bildung auf die Mannigfaltigkeit der psychischen Vorgänge geflissentlich keine Rücksicht genommen wurde, natürlich nicht nur für die Erfahrung nichts leistet, sondern ihr widerspricht, so sucht man dann diesen Widerspruch durch andere schematische Begriffsbildungen, wie "Accidenzen, Erscheinungen, Äußerungsweisen" der Substanz, auszugleichen34).

33) Külpe a. a. O. S. 193.
34) Külpe a. a. O. S. 193.

    Diese Begriffe sind aber an und für sich ebenso inhaltsleer wie der Begriff der Substanz selbst. Eine wissenschaftliche Bedeutung würden sie erst gewinnen können, wenn man zeigte, was denn unter den "Accidenzen, Erscheinungen, Äußerungsweisen" zu verstehen sei, kurz durch eine auf die Substanzhypothese gegründete Theorie des psychischen Geschehens, wie eine solche z. B. Herbart – freilich ohne einen die Forderungen der Erfahrung befriedigenden Erfolg – zu geben versucht hat. Wenn man dagegen einen solchen Versuch ablehnt und dennoch jenen Begriffen eine reale Berechtigung zuschreibt, so heißt dies: die Wirklichkeit durch einen leeren, mittelst oberflächlicher Abstraktion gewonnenen Schematismus ersetzen.
    Zugleich verrät sich hier der charakteristische Fehler, an dem die meisten dieser kritischen Einwürfe gegen die "Aktualitätstheorie" leiden. Statt zu allererst den Grundgedanken der kritisierten Ansicht zu würdigen und dann die weiteren Annahmen und Folgerungen auf ihre Übereinstimmung mit jenem Grundgedanken zu prüfen und mit Hilfe der an ihm geübten Kritik zu widerlegen oder zu bestätigen, schlägt diese Kritik den entgegengesetzten Weg ein. An dem Grundgedanken der Aktualitätstheorie, nach welchem die Psychologie Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung ist, geht sie vorüber. Dagegen legt sie ihren Erörterungen fortwährend die entgegengesetzte Ansicht zu Grunde, wonach es die Psychologie ebenso wie die Naturwissenschaft bloß mit mittelbaren, erst mittelst begrifflicher Abstraktionen und Hypothesenbildungen auf die ihnen zu Grunde liegende Wirklichkeit zurückzuführenden "Erscheinungen" zu tun habe. Dies ist eben der Standpunkt einer dogmatischen Metaphysik, der, mag er nun psycho-physischer Materialismus oder spiritualistischer Dualismus oder beides zugleich sein, dem durch die eigenste Aufgabe der Psychologie geforderten rein empirischen Standpunkt als eine fremde Gedankenwelt gegenübersteht35).

35) Auf einer solchen Hereintragung eines fremdartigen metaphysischen Gesichtspunktes beruht es wohl auch, wenn Külpe (a. a. O. 8. 192) von der "Aktualitätstheorie" bemerkt, sie behaupte, "dass der Unterschied zwischen Ding an sich und Erscheinung für die innere Erfahrung keine Bedeutung habe". Das "Ding an sich" ist ein transzendentes metaphysisches Objekt. Die Psychologie aber ist nach der oben gegebenen Begriffsbestimmung eine rein empirische Wissenschaft, deren Gegenstand daher weder Ding an sich noch Erscheinung im Kantischen Sinne genannt werden kann. Ich glaube darum auch nicht, dass ich mich jemals in einer Weise ausgesprochen habe, welche anzudeuten scheint, dass die innere Erfahrung sowohl Ding an sich wie Erscheinung sei. Wo ich von dem Begriff des Dinges an sich in diesem Zusammenhang gehandelt habe, da kann es nur entweder in dem Sinne geschehen sein, dass ich überhaupt die Unhaltbarkeit dieses metaphysischen Begriffs behauptete, oder in dem andern, dass ich die Substanzhypothese jenen Begriffshypostesen der ontologischen Metaphysik zuzählte, die Kant als "Dinge an sieh" bezeichnet hat. Wenn nun Külpe hiergegen bemerkt, schon vor Kant seien Descartes und Leibniz Anhänger der Substantialitätstheorie gewesen, so übersieht er, dass Kant unter anderem gerade für die von diesen Philosophen angenommenen metaphysischen Entitäten den Ausdruck "Dinge an sich" einführte. Die Cartesianische Seele nannte Kant ein Ding an sich. Nun kann man doch wahrlich nicht behaupten, deshalb weil Descartes diesen Namen noch nicht kannte, sei sein Seelenbegriff nicht zu den "Dingen an sich" zu rechnen. Rücksichtlich meiner mit der "Aktualitätstheorie" auf das engste zusammenhängenden Auffassung des Begriffs der "Dinge an sich" verweise ich übrigens hier auf System der Philosophie, S. 95 ff. 183 ff., Logik2 I, S. 546 ff. In dem letzteren Werk S. 555 heißt es: "Verstehen wir unter dem Ding an sich, wie es, wenn dieser Ausdruck eine berechtigte Bedeutung besitzen soll, sein muß, den Gegenstand unmittelbarer Realität, so ist uns als solcher gegeben das denkende Subjekt." Aus dem ganzen Zusammenhang geht hervor, dass diese berechtigte Bedeutung, in welcher der Ausdruck "Ding an sich" gebraucht werden könnte, hier der unberechtigten Bedeutung gegenübergestellt ist, in welcher er nicht bloß einen Gegenstand unmittelbarer Realität, sondern auch einen unerkennbaren Hintergrund der Erscheinungen bedeutet. Wenn man daher, wie es auch Vannérus (a. a. O. S. 367, 371) zu tun scheint, jenen Satz so versteht, als sollte damit das denkende Subjekt oder das Seelenleben überhaupt als ein "Ding an sich" in diesem Kant'schen Sinne oder gar als eine merkwürdige Einheit von Kant'schem "Ding an sich" und "Erscheinung" bezeichnet werden, so ist das ein Mißverständnis, das ich nach dem Inhalt der unmittelbar vorangegangenen Erörterungen für ausgeschlossen halten mußte.

C. Der Voluntarismus.

    Der Beleuchtung der gegen die Richtung des sogenannten Voluntarismus geltend gemachten Einwände darf ich wohl zur vorläufigen Orientierung die Bemerkung vorausschicken, dass es wesentlich drei Punkte sind, in denen sich der Voluntarismus in der von mir vertretenen Auffassung von dem "Intellektualismus" und von andern Anschauungen, wie z. B. der Vermögenspsychologie, scheidet: l) Die psychischen Vorgänge bilden ein einheitliches Geschehen; Vorstellen, Fühlen, Wollen usw. sind nicht real getrennte, sondern erst durch psychologische Analyse und Abstraktion unterschiedene Bestandteile dieses Geschehens; demnach sind auch Fühlen und Wollen ebenso ursprünglich wie Empfinden und Vorstellen. 2) Dem Wollen wird in der Wahl des Ausdrucks "Voluntarismus" insofern eine repräsentative Bedeutung beigelegt, als die sonstigen subjektiven Vorgänge, insbesondere die Gefühle, Bestandteile von Willensvorgängen bilden, welche Bestandteile freilich auch vorkommen können, ohne in eine vollständige Willenshandlung überzugehen, welche aber immerhin erst in einer solchen zur vollen Entwicklung gelangen. 3) Die Willenshandlung hat im Hinblick auf die Gesamtheit der psychischen Vorgänge eine typische Bedeutung, insofern der bei dem Wollen längst anerkannte Charakter des Vorgangs, des Ereignisses, auch allen andern psychischen Erfahrungsbestandteilen, insbesondere den Vorstellungen zukommt, denen der Intellektualismus zumeist den Charakter mehr oder minder beharrender Objekte beilegt36).

36) Vergl. Logik II2, 2, S. 166 ff. Sind auch diese Punkte erst in der zweiten Auflage meiner Logik als Merk-male des Voluntarismus bestimmt formuliert, da ich erst in dieser mich des zuerst von Paulsen gebrauchten Ausdrucks bedient habe, so versteht es sich doch von selbst, dass ich damit nur den schon längst in meinen psychologischen und philosophischen Arbeiten vertretenen Ansichten einen kurzen Ausdruck zu geben ver-sucht habe. Wer meine früheren Ausführungen kennt, wird daher auch die drei angegebenen Merkmale ohne weiteres als diejenigen anerkennen, die für meinen "Voluntarismus" stets maßgebend gewesen sind.

    Der "Voluntarismus" ist, wie aus diesen drei Bestimmungen hervorgeht, zunächst und vor allem eine psychologische Anschauung, und als solche besteht auch er, ganz wie die "Aktualitätstheorie", nicht in einer den Tatsachen hinzugefügten Hypothese, sondern in der Forderung, die in der unmittelbaren Erfahrung gegebene Realität der Willensvorgänge anzuerkennen, statt sie, wie der Intellektualismus tut, aus andern psychischen Inhalten, z. B. Vorstellungen, ableiten zu wollen.
    Neben diesem psychologischen läßt sich nun aber allerdings auch noch ein metaphysischer "Voluntarismus" unterscheiden. Hierher gehört z. B. Schopenhauer's Metaphysik, die dem neueren psychologischen Voluntarismus völlig fern steht, wie unter anderem daraus erhellt, dass sich Schopenhauer in den psychologischen Teilen seines Systems offenbar dem Intellektualismus zuneigt37). Auch gewisse Ideen, die ich selbst in meinem "System der Philosophie" entwickelt habe, lassen sich einem metaphysischen Voluntarismus zuzählen, und zwar einem solchen, der, im Unterschied von Schopenhauer's Willenslehre, direkt von der psychologischen Bedeutung des Willens ausgeht38). In Wahrheit ist es aber nicht dieser metaphysische Voluntarismus, weder der Schopenhauer'sche noch der von mir vertretene, gegen den kritische Einwände erhoben worden sind, sondern der psychologische. Dies geht ohne weiteres daraus hervor, dass man den Voluntarismus, der das Objekt dieser Kritik ist, als diejenige Anschauung definiert, welche "die Willenserscheinungen, also die Triebe, Leidenschaften, Affekte, Gefühle als das Bestimmende und Primäre in unserer inneren Erfahrung"39) betrachtet, – eine Definition, deren Richtigkeit vorläufig dahingestellt bleiben mag, die aber jedenfalls dem Voluntarismus den Charakter einer psychologischen Theorie zuschreibt. Es muß freilich zugleich gesagt werden, dass sich die Kritik selbst dieses ihres durchgängig psychologischen Charakters nicht bewußt ist. An dem Charakter der Kritik selbst wird dadurch natürlich nichts geändert. Ihre psychologische Richtung erhellt überdies noch bestimmter aus den einzelnen Einwänden, bei denen die metaphysische Frage ganz aus dem Spiele bleibt und einzig allein davon die Rede ist, ob der Voluntarismus als psychologische Theorie mit den Tatsachen der inneren Erfahrung übereinstimme oder nicht. Freilich findet sich dann auch hier wieder eine merkwürdige Vermengung dieses psychologischen mit dem metaphysischen Standpunkte. Ähnlich wie man die Aktualitätstheorie für eine metaphysische Theorie hält, so wird nämlich der psychologische Voluntarismus zu einer metaphysischen Doktrin umgestempelt, und damit nicht genug, dieser metaphysische Voluntarismus wird nun auch noch als eine vollkommen einheitliche Denkweise behandelt, bei deren Schilderung hauptsächlich Schopenhauer's halb mystischer Willensbegriff als Vorbild dient. Das Resultat dieser Konfusion heterogener Standpunkte und Systeme ist daher im wesentlichen das folgende: eine einseitige und, wie ich meine, überwundene Form des metaphysischen Voluntarismus wird zur allgemeingültigen Form desselben gemacht und dann so behandelt, als wenn sie eine psychologische Theorie wäre; endlich aber werden gegen diese vermeintliche Theorie Einwände erhoben, die zum Teil selbst den Anschauungen des neueren psychologischen Voluntarismus entnommen sind. Natürlich geschieht das alles in redlichster Absicht. Denn diese ganze Vermengung der Begriffe hat ihre Quelle offenbar in der Gewohnheit, teils bewußt, teils unbewußt alles unter metaphysischen Gesichtspunkten zu sehen, einer Gewohnheit, die in der philosophischen Vorgeschichte der Psychologie ihre Erklärung und zugleich bis zu einem gewissen Grade ihre Entschuldigung findet.

37) Bezeichnend ist in dieser Beziehung namentlich seine Lehre von der "Intellektnualität der Anschauung".
38) System der Philosophie, S. 368 ff.

39) Külpe, Einleitung in die Philosophie, S. 188. Für die oben erwähnte Vermengung von Psychologie und Metaphysik scheint es mir übrigens bezeichnend, dass der Paragraph dieses Werkes, der im Sinne der ange-führten Definition den Voluntarismus als psychologische Theorie erörtert, den Titel "Die psychologischen Richtungen in der Metaphysik" führt.

    Die gegen den "Voluntarismus" erhobenen Einwände sind nun im wesentlichen die folgenden:
    l. Derselbe betrachte den "Trieb" als "Grundfunktion des inneren Geschehens". Bei den niedern Organismen, ebenso beim Kinde sei zunächst "nur das Willensleben ausgebildet", allmählich erst "verknüpfen sich damit in wachsender Komplikation die Tätigkeiten der Intelligenz". Dagegen wird bemerkt, dass "der Entwicklungsgedanke methodologisch ein undifferenziertes Ganzes als Ursprung der geistigen Funktionen fordert, nicht aber eine in unserm entwickelten Seelenleben zur spezifischen Differenz ausgebildete Erscheinung" usw.40).

40) Külpe a. a. O. S. 195.

    Nun heißt es z. B. in meiner physiologischen Psychologie (4. Aufl. II. S. 566): "Gerade bei den niedersten Wesen, z. B. den Protozoen, Cölenteraten, Würmern usw., treten die Körperbewegungen von automatischem und reflektorischem Charakter durchaus zurück gegenüber solchen Handlungen, die auf eine einfache Empfindung oder Vorstellung und einen daraus entstandenen Trieb hinweisen, und denen wir demnach den Charakter einfacher Willenshandlungen beilegen müssen"; im gleichen Sinne wird dann die Triebbewegung definiert als eine einfache Willenshandlung, d. h. als eine solche, die in einem Motiv (worunter natürlich nach dem ganzen Zusammenhang eine von Gefühl begleitete Empfindung oder Vorstellung gemeint ist) ihren Ursprung hat (ebenda S. 593); und demgemäß wird endlich in den metaphysischen Schlußerörterungen des nämlichen Werkes der Trieb als "der gemeinsame Ausgangspunkt des Vorstellens und Wollens" bezeichnet, der in seiner einfachsten, freilich in der Erfahrung nirgends aufzufindenden, Form als "gefühlsbetonte Empfindung" gedacht werden könne (S. 640, 645), in welchen beiden Bestandteilen eben die Elemente des Wollens und des Vorstellens gleichzeitig enthalten seien. In ähnlicher Weise habe ich noch an vielen anderen Stellen vollkommen unzweideutig mich ausgesprochen, ja ich habe die Notwendigkeit einer ursprünglichen Einheit der psychischen Funktionen nicht bloß für den Standpunkt der psychologischen Erfahrung wiederholt betont, sondern ich habe auch für den eines etwa von dieser ausgehenden transzendenten "Regressus", im Gegensätze zu Schopenhauer, die Unmöglichkeit behauptet, Vorstellen und Wollen anders denn als in ihren Elementen ursprünglich gleichzeitig zu denken41). Sollte daher behauptet werden, der Voluntarismus überhaupt setze ein abstraktes Wollen als Anfang der psychischen Entwicklung voraus, so ließe sich das nicht einmal durch die Verwechslung des psychologischen mit dem metaphysischen Voluntarismus erklären, sondern eine solche Behauptung würde in jeder Beziehung meinen eigenen wiederholt und auf das eindringlichste gemachten Aussagen strikte widerstreiten. In der Tat sind die bei diesem Einwande vorausgesetzten Annahmen im allgemeinen die der Schopenhauer'schen Willensmetaphysik. Da nun diese weder eine allgemeingültige voluntaristische Metaphysik noch auch, wie hier vorausgesetzt wird, eine psychologische Theorie der Willensvorgänge ist, ja auf das letztere nicht einmal selbst Anspruch macht, so ist es einleuchtend, dass diese kritischen Einwände, insofern sie sich gegen den "Voluntarismus" überhaupt und Insonderheit gegen ihn als psychologische Theorie richten, vollkommen gegenstandslos sind.

41) Außer den metaphysischen Schlußerörterungen der Physiol. Psychol. vergl. mein System der Philosophie, S. 388 f.

    2. Der Voluntarismus soll "auch im entwickelten Seelenleben" den Willen zum "primären und bestimmenden Faktor" machen. Er "lenkt unsere Aufmerksamkeit", "trifft die Auswahl unter den das Bewußtsein erregenden Reizen", "auch der Vorstellungsverlauf wird nach Rich-tung und Tendenz vom Willen beherrscht"; usw. Dem sei entgegenzuhalten: "was man hier als Wille beschreibt, ist gar nicht jener einfache Trieb, jener blinde Drang, von dem man zunächst bei der Schilderung der seelischen Prozesse ausgegangen war. Nicht grundlos verfährt dieser Wille, sondern gestützt auf Motive und Überlegungen", und so könne man "mit demselben Recht sagen, das eigentlich Bestimmende und Primäre unseres Seelenlebens ist nicht der Wille, sondern dasjenige was ihn zu seiner Wirksamkeit veranlaßt"42). Nachdem der vorige Einwurf dem Voluntarismus im Widerspruch mit ihm selber (oder doch jedenfalls im Widerspruch mit derjenigen Auffassung, die ich stets vertreten habe) einen abstrakten einfachen Willen aufgebürdet hat, wird also jetzt eingewandt: dieser einfache Wille, dieser "blinde Drang" sei erstens in den zusammengesetzten Willenshandlungen nicht nachzuweisen, und zweitens sei bei diesen nicht der Wille, sondern der Zusammenhang der Motive das Primäre.

42) Külpe a. a. O. S. 195 f.

    Das erste dieser Argumente fällt von selbst, nachdem oben jener fingierte abstrakte Wille überhaupt als eine dem psychologischen Voluntarismus fremde Annahme nachgewiesen ist. Wenn aber die einfachen Willens- oder Triebhandlungen in Wahrheit selbst schon Empfindungen oder Vorstellungen als Motive enthalten, so wird damit auch die Entwicklung zusammengesetzter Willenshandlungen in Folge der Zunahme solcher Motive und ihres Kampfes gegen einander verständlich. Die zusammengesetzte Willenshandlung ist nicht eine Summe einfacher Willenshandlungen oder eine Anzahl von intellektuellen Motiven und ein hinzutretender "blinder Drang", sondern sie ist ein Entwicklungsprodukt der einfachen Willenshandlungen, deshalb verständlich, weil diese schon, wenngleich in einfacherer Verbindung, die nämlichen Vorstellungs- und Gefühlselemente enthalten.
    Das zweite Argument spinnt nun den bereits in der vorherigen Ausführung herrschenden Gedanken der gesonderten Existenz eines abstrakten Willens und eines abstrakten Vorstellens noch weiter aus. Wenn diese abstrakten Kräfte als gesonderte existieren, dann ist es unzweifelhaft wahr, dass man die Vorstellungsmotive ebenso gut das primär Bestimmende nennen kann wie den Willen. Nur dass eben der "Voluntarismus", wie ich ihn verstehe, gerade dies behauptet, dass ein solcher abstrakter Wille, und dass ein solches abstraktes Vorstellen nicht existieren, dass vielmehr die Vorstellungselemente ebenso wesentlich und notwendig zu einem Willensvorgang gehören wie die Gefühlselemente. Dagegen spielen allerdings in dem Ganzen, welches wir ein konkretes Wollen nennen, sowie bei der "Aufmerksamkeit", bei dem was die populäre Psychologie als das "Interesse", als die "Bevorzugung" gewisser Vorstellungen vor andern bezeichnet usw., gewisse Gefühle, die mit der den Willensvorgang abschließenden Willenshandlung in näherer Beziehung stehen, eine hervorragende Rolle. Man sieht hieraus, dass der besprochene Einwand nur daraus begreiflich ist, dass er unter einer Voraussetzung argumentiert, die der vom psychologischen Voluntarismus vertretenen diametral widerspricht. Diese Voraussetzung ist aber keine andere als die der Vermögenstheorie. An die Stelle des konkreten Wollens, das allein psychologische Wirklichkeit hat, setzt man den abstrakten Willen, und da dieser abstrakte Begriff natürlich keine Vorstellungen enthält, so bleibt nichts anderes übrig, als sich jener alten Willenslehre wieder zuzuwenden, nach welcher Vorstellungen zunächst da sind, dann der Wille entsteht oder vielmehr die Seele plötzlich entdeckt. dass sie einen Willen hat, und demzufolge veranlaßt wird, ihn zu geeigneter Zeit anzuwenden, – lauter Dinge die man ja anschaulich genug geschildert hat43).

43) Vergl. meine Abhandlung: Zur Lehre vom Willen, Phil. Stud. I, 8. 348 ff.

    3. Die Vorstellungen sollen von dem Voluntarismus "nicht als unabhängige, sondern als aneignende Tätigkeiten geschildert", eben darum aber auch ihnen "die Fähigkeit bestritten werden, die tatsächliche Einheit unseres geistigen Lebens zu begründen". Es bleibe daher "als einzige Einheitsfunktion der Wille übrig", der "durch seine qualitative Konstanz" allein für "positiv dazu befähigt" gehalten werde. Dem wird nun entgegengehalten, ein "solcher qualitativ konstanter Wille" werde "in der Psychologie zumeist als eine den Tatsachen nicht entsprechende Abstraktion abgelehnt". Außerdem sei "die Einheit unseres geistigen Seins, unserer Persönlichkeit oder unseres Charakters nicht eine einfache Tatsache der Erfahrung, sondern selbst eine Reflexion über die Tatsachen". Diese "Annahme der Einheit unserer Persönlichkeit" beruhe aber nicht sowohl auf einer einfachen und konstanten Qualität psychischer Art, als vielmehr auf der Wahrnehmung eines durchgängigen Zusammenhangs der einzelnen psychischen Akte, wie er durch die Assoziation der Vorstellungen vermittelt wird, ferner auf der Stetigkeit unserer Entwicklung, die nirgends sprunghafte Übergänge, gegensätzliche Zustände u. dergl. auftreten läßt, endlich auf der Konstanz des sinnlichen Hintergrundes unseres geistigen Lebens, der körperlichen Form, mit der wir uns umgehen wissen" 44).

44) Külpe a. a. O. 8. 196 f.

    Diese Erörterung enthält nun zweifellos einige Sätze, die meinem "System der Philosophie" entlehnt sind, aber durch die Art, wie diese Sätze45) aus dem Zusammenhang herausgegriffen und im Sinne einer psychologischen Theorie behandelt sind, werden sie in eine völlig falsche Beleuchtung gerückt. Wenn gesagt wird, den Vorstellungen werde die Fähigkeit bestritten, die Einheit unseres Seelenlebens zu begründen, so ist das wahr, insofern gemeint ist, den Vorstellungen allein werde sie bestritten; es ist aber unwahr, wenn, wie es hier den Anschein hat, gemeint sein sollte, dass den Vorstellungen überhaupt alle und jede Beteiligung an der Entwicklung der "Einheit unseres geistigen Lebens" abgesprochen werde. Inwiefern ich dem Zusammenhang der Vorstellungen in der Tat eine sehr wichtige Teilnahme an der Entstehung der "Einheit des Bewußtseins" zuschreibe, erhellt aus zahlreichen Stellen des gleichen Werkes sowohl wie aus anderwärts gegebenen Ausführungen46). Wenn ferner der Wille nicht bloß als die "einzige Einheitsfunktion", sondern auch, angeblich im Sinne des Voluntarismus, als eine "einfache und konstante Qualität" bezeichnet wild, so hat sich hier die wirkliche Ansicht nicht nur in einen im allgemeinen völlig unpsychologischen, sondern speziell meiner voluntaristischen Anschauung absolut widerstreitenden Gedanken verwandelt. Wenn von mir gelegentlich der Wille als "konstante Tätigkeit", oder das ihn charakterisierende Tätigkeitsgefühl als ein "konstantes, nur nach dem Grad seiner Wirksamkeit wechselndes Element des Bewußtseins" bezeichnet worden ist47), so sollten doch schon das Wort Tätigkeit, die wiederholte Hervorhebung, dass auch die Gefühle nichts Dauerndes, sondern Prozesse sind, vor dem Mißverständnisse schützen, als werde hier der Wille wie ein abstraktes Objekt von konstanter Qualität gedacht. Im Sinne des Voluntarismus, wie ich ihn verstehe, gibt es überhaupt keinen Willen im allgemeinen, sondern nur einzelnes konkretes Wollen, indem aber stets Gefühle von übereinstimmendem Charakter wiederkehren. Deswegen sind aber auch diese Gefühle noch keineswegs "konstante Qualitäten": erstens weil sie, wie alle psychischen Vorgänge, Ereignisse sind, also einen bestimmten Verlauf haben, und zweitens weil die allgemeine Übereinstimmung des Tätigkeitsgefühls die besonderen Gefühle, die der abweichende Motivinhalt verschiedener Willensvorgänge mit sich bringt, natürlich nicht ausschließt. Nicht jene allgemeine Übereinstimmung der mit dem Willensvorgang, namentlich mit dem Akt der Willensentschließung verbundenen Gefühle allein, sondern wesentlich auch die Stetigkeit des Verlaufs ist es aber, die dem Wollen nach meiner Ansicht allerdings in gewissem Sinne die Bedeutung einer "Einheitsfunktion" verleiht. Freilich nicht dem isoliert und außer dem Zusammenhang der sonstigen Bewußtseinsvorgänge gedachten Wollen – das würde ja wieder jener abstrakte Wille sein, den gerade der "Voluntarismus" grundsätzlich negiert – sondern dem Wollen in seiner Verbindung mit der Gesamtheit der psychischen Vorgänge. Daher auch z. B. die Assoziationen der Vorstellungen in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Einheit der Persönlichkeit durchaus von mir anerkannt werden. Ich habe ausdrücklich hervorgehoben, dass der Begriff "Bewusstsein" nach meiner Auffassung nichts anderes bedeutet, als den unmittelbar erlebten Zusammenhang der psychischen Vorgänge, dass ferner aus diesem Zusammenhang die sogenannte "Einheit des Bewußtseins" sich ergebe. Für die Entwicklung des Selbstbewußtseins, also der Persönlichkeit, erkenne ich dann allerdings den Willensvorgängen den entscheidenden Einfluß zu, und ich behaupte, dass sich diese Entwicklung aus der bloßen Assoziation der Vorstellungen nicht erklären läßt. Denn erstens glaube ich, dass die letztere Annahme der tatsächlichen Existenz der Gefühls- und Willensprozesse nicht gerecht wird; und zweitens glaube ich, dass sie über die wirkliche Entwicklung des Selbstbewußtseins keine zureichende Rechenschaft gibt. Aber es ist mir wiederum niemals eingefallen zu behaupten, dass hierbei die Willensvorgänge in abstrakter Isolierung von dem übrigen Bewußtseinsinhalte wirksam seien. Wüßte ich doch kaum irgend eine Überzeugung zu nennen, die ich häufiger und entschiedener betont hätte als eben die, dass eine solche abstrakte Trennung eine verfehlte, überall die Wirklichkeit verfälschende Anwendung eines leeren Schematismus sei48). Für eine "einfache Tatsache der Erfahrung" habe ich darum auch niemals die "Einheit unserer Persönlichkeit oder unseres Charakters" gehalten. Ich halte sie sogar für eine sehr verwickelte Tatsache und habe in diesem Sinne auf die mannigfachen Faktoren, in die sie sich nach Maßgabe der psychologischen Erfahrung zerlegen läßt, hingewiesen 49).

45) Dieselben finden sich im wesentlichen auf S. 564.
46) System der Philosophie S. 579 ff. Physiol. Psychol. II4, S. 302 ff.
47) Vergl. z. B. System der Philosophie S. 565. Physiol. Psychol. II4, S. 266.
48) Ich verweise nur auf folgende Stellen: Essays S. 203. Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele 2, S. 239 f. Physiol. Psychol. II 4, S. 497.
49) Vergl. Physiol. Psychol. II4, S. 302 ff.

    Dass alle diese Erörterungen über die psychologische Bedeutung und Entwicklung des Willens gänzlich übersehen worden seien; ist natürlich kaum denkbar. Hier gerade tritt aber der allgemeine Charakter dieser Kritik augenfällig hervor, dass sie gewisse, einem andern Zusammenhang entnommene und noch dazu unvollständig wiedergegebene metaphysische Betrachtungen so behandelt, als sollten sie psychologische Erklärungsgründe sein. Um ermessen zu lassen, inwiefern solche metaphysische Betrachtungen richtig wiedergegeben und angewandt worden sind, scheint es mir jedoch unerläßlich, auf den bei dieser Kritik gänzlich außer Betracht gebliebenen Zusammenhang derselben etwas näher einzugehen.
    Bei der Erörterung der Fragen, inwiefern transzendente, d. h. die Grenzen der Erfahrung überschreitende und in keiner Weise, weder direkt noch indirekt, durch die Erfahrung zu erweisende Ideen gleichwohl für unser Denken eine gewisse Berechtigung haben können, bin ich von der Bemerkung ausgegangen, dass ein solches Recht überall nur in der Methode, durch welche jene Ideen gewonnen sind, nimmermehr aber etwa in irgend welchen empirischen Anwendungen derselben gefunden werden könne. Ich habe in dieser Beziehung auf das Vorbild der Mathematik hingewiesen, welche gewisse transzendente (transzendent im philosophischen, nicht im gewöhnlichen mathematischen Sinne50)) Größen- und Zahlbegriffe gewinne, indem sie Operationen, die zunächst aus Anlaß realer empirischer Objekte und ihrer Beziehungen angewendet worden seien, über diese Grenzen hinaus und eventuell ins unbegrenzte fortsetzt. Ein solcher "transzendenter Regressus" kann nun, auf ein philosophisches Problem angewandt, in einer doppelten Form stattfinden: entweder indem er einen bloß quantitativen Fortschritt über alle gegebenen Grenzen der Erfahrung ausführt, oder indem er stetig von dem empirisch Gegebenen aus zu qualitativen Ideen übergeht, die in keiner Erfahrung gegeben sind. Zu beiden Formen des Regressus bietet die Mathematik Vorbilder (a. a. O. S. 190 ff.). Dort entsteht das "Real-Transzendente", hier das "Imaginär-Transzendente". Das erstere kann mit gewissen Vorbehalten die Erklärung des Zusammenhangs der Erfahrungen fördern helfen; bei dem letzteren ist das niemals möglich. Der einzige Nutzen, den es allenfalls mit Rücksicht auf die Erfahrung gewährt, ist der, dass es, "an sich selbst ein Unwirkliches, doch die Begriffe, zu deren Bildung uns die Wirklichkeit antreibt, in ein helleres Licht zu stellen vermag" (S. 200). Ebensowenig wie man aber etwa aus den Eigenschaften eines Systems transzendenter Zahlen die Eigenschaften der realen Zahlen deduzieren kann, ebensowenig ist es gestattet, jenes Imaginär-Transzendente überhaupt zum Erklärungsgrund der empirischen Wirklichkeit machen zu wollen. Nun gehören die transzendenten psychologischen "Einheitsideen", gemäß dem allgemeinen Inhalt der psychologischen Erfahrung, zum "Imaginär-Transzendenten" (S. 371). Dem entspricht, dass der transzendente Regressus hier von verschiedenen Ausgangspunkten aus unternommen werden kann, die zu verschiedenen metaphysischen Systemen führen, zwischen denen überall nur in dem Sinne eine Wahl möglich ist, dass derjenige Regressus den Vorzug verdient, der von den sämtlichen für die psychologische Erfahrung bedeutsamen Tatsachen, ohne geflissentliche oder gewaltsame Ignorierung einzelner derselben, ausgeht (S. 209 ff. 373 ff.). In diesem Sinne wird von mir dem metaphysischen Voluntarismus51) der Vorzug eingeräumt. Denn sein empirischer Ausgangspunkt ist nicht, wie der des intellektualistischen Spiritualismus, einseitig die Vorstellung, sondern die vorstellende Tätigkeit, die alle wesentlichen Elemente der psychischen Funktionen in sich vereinigt (S. 385). Begrifflich gefaßt enthält nun die vorstellende Tätigkeit in sich die beiden Momente der Tätigkeit und des Leidens, die beide an sich als gleich ursprünglich angesehen werden müssen, von denen aber das Moment der Tätigkeit oder des Wollens dasjenige ist, das als die metaphysische Grundlage des Subjektes, das Moment des Leidens dasjenige, das als die metaphysische Grundlage der dem Subjekt gegebenen Objekte angesehen werden kann. Insofern nun das Moment des Leidens auf eine dem tätigen Subjekt gegenüberstehende Tätigkeit bezogen wird, führt dieser Regressus schließlich auf eine Vielheit in Wechselwirkung stehender einfacher Willenstätigkeiten zurück (S. 387, 418ff.). Nur die so gewonnene "individuelle" Einheitsidee steht, da der Ausgangspunkt des sie ergebenden Regressus das individuelle Bewußtsein ist, zugleich in Übereinstimmung mit den Tatsachen der psychologischen Erfahrung, insoweit eine solche bei diesen transzendenten Ideen überhaupt gefordert werden muß, nämlich nicht in dem Sinne einer Deduktion der Erfahrung aus ihnen, die, wie oben bemerkt, schlechterdings abzulehnen ist, sondern in dem andern Sinne, dass die transzendente Entwicklung keine willkürliche "Begriffsdichtung", sondern ein regelmäßiger Fortschritt von dem Gegebenen zu der zuletzt gewonnenen Einheitsidee sei. In der Tat entspricht dem gewählten Ausgangspunkte, der "vorstellenden Tätigkeit", der Endpunkt des metaphysischen Regressus, die Vielheit in Wechselwirkung stehender Willenseinheiten, weil damit auch metaphysisch die Untrennbarkeit von Wollen und Vorstellen betont ist (S. 415). Eine universelle Einheitsidee ist sodann, als das Ergebnis eines diese individuelle Entwicklung ergänzenden "universellen Regressus", durch die Beziehungen gefordert, in denen das individuelle Bewußtsein zu einer geistigen Gemeinschaft und demnach der Individualwille zu einem Gesamtwillen steht (S. 392 ff.). Dagegen ist es völlig verfehlt, und nicht Ergebnis eines methodisch berechtigten "transzendenten Regressus", sondern einer willkürlichen Begriffsdichtung, wenn man von vornherein mit Schopenhauer einen universellen Willen zum metaphysischen Grundprinzip macht. Ein solcher bietet zum wirklichen Wollen gar keine oder nur ebenso willkürlich und phantastisch erdichtete Beziehungen wie zu den physischen Naturkräften dar. Statt mit dem Namen "Wille" kann er ebenso gut mit dem des "Unbewußten", des "Absolu-ten" u. dergl. belegt werden. Neben der Hervorhebung dieser wesentlichen Unterschiede des von mir vertretenen metaphysischen Voluntarismus von der mystischen Willensmetaphysik Schopenhauer's ist es mein besonderes Bemühen gewesen, die Anwendung solcher transzendenter metaphysischer Einheitsideen auf die Interpretation des Zusammenhangs der psychologischen Erfahrungsinhalte als unzulässig zurückzuweisen, wie dies ja übrigens auch schon aus der metaphysischen Bedeutung des "Imaginär-Transzendenten" überhaupt hervorgeht (s. oben). In diesem Sinne heißt es a. a. O. S. 388 f., der "reine Wille" sei "kein Erfahrungsbegriff, sondern eine Vernunftidee, die an sich schon die Verwirklichung in irgend einer Erfahrung ausschließt, da jede Tätigkeit notwendig Objekte voraussetzt, auf die sie sich beziehen muß. Der reine Wille bleibt also ein transzendenter Seelenbegriff, den die empirische Psychologie als letzten Grund der Einheit der geistigen Vorgänge fordern, von dem sie aber schlechterdings für ihre Zwecke keinen Gebrauch machen kann." Ähnliche Ausführungen finden sich auf S. 391 f., 415, 422f. u. a. a. O.

50) Über das Verhältnis beider Arten der Transzendenz vergl. a. a. O. S. 194 Anm.
51) In dem System habe ich dafür noch gelegentlich den Ausdruck "Animismus": gebraucht (S. 209).

    Hiernach beruht die gegen diese metaphysischen Erörterungen meines Systems gerichtete Kritik augenscheinlich auf einem dreifachen Irrtum: l) Die dort auf Grund eines "transzendenten Regressus" gewonnenen metaphysischen Einheitsbegriffe werden im Widerspruch mit dem unzweideutigen Sinn meiner Erörterungen und uneingedenk der von mir ausdrücklich gegen eine solche Verwendung ausgesprochenen Warnungen als empirisch-psychologische Hypothesen behandelt. 2) Jene Entwicklungen erfahren dadurch eine wesentliche, die methodologische Berechtigung des ausgeführten "Regressus" geradezu aufhebende Veränderung, dass die Annahme der ursprünglichen Einheit von Tätigkeit und Leiden als Wirkung einer Vielheit individueller Willenseinheiten, eine Annahme, in welcher die Kontinuität der transzendenten Idee mit ihrem Ausgangspunkt, der "vorstellenden Tätigkeit", gewahrt ist, vollständig übergangen wird, so dass nur eine abstrakte Willenstätigkeit, der nichts gegenübersteht, allein übrig bleibt. 3) Im Zusammenhang hiermit wird der grundsätzliche Unterschied des von mir vertretenen, von der psychologischen Erfahrung ausgehenden und auf der planmäßigen Aufeinanderfolge eines "individuellen" und "universellen Regressus" beruhenden metaphysischen Voluntarismus von der Willensmetaphysik Schopenhauer's vollständig ignoriert. So ergibt sich denn als Resultat, dass zuerst Schopenhauer'sche Willensmetaphysik und Voluntarismus identisch gesetzt, und dass dann an diese Metaphysik der Maßstab einer psychologischen Theorie angelegt wird. Ich betone nochmals, ich halte diese doppelte Konfusion der Begriffe nicht für eine absichtliche, sondern für das Ergebnis eines redlichen, wenn auch freilich vergeblichen und allzu sehr an der Oberfläche der Dinge haftenden Bemühens. Um so bezeichnender scheint sie mir aber für den schädlichen Einfluß metaphysischer Leitmotive zu sein. Die Willensmetaphysik Schopenhauer's und der Mißbrauch transzendenter metaphysischer Begriffe zu psychologischen Erklärungszwecken sind nun einmal bekannte und geläufige Dinge. So wird denn trotz entgegengesetzter Ausführungen und ausdrücklicher Verwahrungen jeder Voluntarismus im Lichte des Schopenhauer'schen Weltwillens gesehen, und jeden beliebigen metaphysischen Grenzbegriff behandelt man als eine psychologische Theorie.
    Schließlich dürfte es nicht ohne Interesse sein, auch die der soeben erörterten Kritik beigefügten Gegenvorschläge noch etwas näher zu prüfen. Zunächst soll hiernach die Einheit der Persönlichkeit nicht nur keine einfache Tatsache, sondern eigentlich überhaupt keine Tatsache, sondern eine "Reflexion über die Tatsachen", ja eine "Annahme" sein. Gewiß, wenn der logische Begriff der Persönlichkeit gemeint ist, so beruht dieser auf Reflexion, obgleich er deshalb noch keineswegs eine "Annahme" ist, sondern eben ein Begriff, zu dessen Bildung der Tatbestand der Erfahrung den Anlaß bietet. Aber die psychologische Entwicklung der Einheit der Persönlichkeit und die Entwicklung des logischen Begriffs derselben sind zweierlei Dinge. Was die Psychologie nachzuweisen hat, ist lediglich der Zusammenhang der Erfahrungstatsachen, aus dem jener Begriff hervorgeht. Denn die Psychologie hat es zu allererst mit der Wirklichkeit zu tun, nicht mit Reflexionen über diese Wirklichkeit.
    Jene "Annahme der Einheit unserer Persönlichkeit" soll nun aber weiterhin beruhen: l) auf der durch die Assoziation der Vorstellungen vermittelten Wahrnehmung eines durchgängigen Zusammenhangs der psychischen Akte, 2) auf der Stetigkeit unserer Entwicklung, 3) auf der "Konstanz der körperlichen Form, mit der wir uns umgeben wissen," d. h. allgemeinverständlich ausgedrückt unseres eigenen Leibes. Dass die Assoziation der Vorstellungen zur Erklärung nicht zureicht, wird hier anscheinend zugestanden, indem ihr noch die Stetigkeit der Entwicklung und die Konstanz der körperlichen Form beigefügt ist. Nun ist aber nicht einzusehen, wie die Stetigkeit der Entwicklung anders zum Inhalte unserer psychologischen Erfahrung werden kann als vermittelst der Assoziation der Vorstellungen. Um einen gegebenen Moment der Entwicklung als stetig aus einem früheren hervorgehend aufzufassen, bedarf man der Assoziation; und wenn "Willensvorgänge" und was mit ihnen zusammenhängt in ihrer Bedeutung für diese Entwicklung negiert werden, so bedarf es dazu sogar nur der Assoziation. Was aber die "Konstanz der körperlichen Form" betrifft, so hat der "Voluntarismus" wahrlich nicht verabsäumt, auf die Bedeutung dieser relativ "konstanten Vorstellungsgruppe" hinzuweisen, nur freilich dass er dabei zugleich noch ein weiteres Moment betonte, nämlich den unmittelbaren Zusammenhang bestimmter Veränderungen dieser Vorstellungsgruppe mit den Willensvorgängen. Abstrahiert man aber von diesem Moment, beschränkt man sich, wie es hier geschieht, auf die "Konstanz der körperlichen Form, mit der wir uns umgeben wissen", so kann die Vorstellung dieser Konstanz psychologisch auch nur wieder ein Produkt der Vorstellungsassoziation sein, durch die wir das früher und das später Vorgestellte verbinden. Die zur Ergänzung der Assoziation angeführten Einflüsse, die Stetigkeit der Entwicklung und die Konstanz der körperlichen Form, erweisen sich demnach, so wie sie hier angeführt sind, als Spezialfälle der Assoziation, und der Vorschlag geht also dahin, die Einheit der Persönlichkeit ausschließlich aus der Vorstellungsassoziation zu erklären.
    Das ist nun kein neuer Gedanke. Aber ich glaube nicht, dass sich dieser Gedanke, so oft er auch ausgesprochen wurde, als durchführbar erwiesen hat. Die Umwandlung aller psychischen Inhalte in Vorstellungen, auf der er beruht, widerspricht der Erfahrung; und wie aus dem Zusammenhang des Bewußtseins eine Einheit hervorgeht, weiß er im allgemeinen nur unter Zuhilfenahme nicht analysierter psychologischer Hilfsbegriffe deutlich zu machen. So auch im vorliegenden Beispiel. Das Selbstbewußtsein soll das Produkt einer "Reflexion" sein, – der psychologische Inhalt dieses der Vulgärpsychologie entnommenen komplexen Begriffs der Reflexion bleibt aber völlig dahingestellt.